Montag, 15. Juni 2020

Gibt es einen bürgerlichen Geschmack?

Biedermeierstrauß                                                                       zu Geschmackssachen  

Von der ästhetischen Unfruchtbarkeit der Bourgeoisie habe ich unlängst gesprochen. Das bedarf aber eines Zusatzes.

Die Bourgeoisie ist unter den herrschenden Klassen die erste, die selber werktätig ist. Um sich unbezahlt fremde Arbeitskraft anzueignen, muss sie nicht nur, wie der Adel, herrschen, sondern im jeweiligen Geschäft arbeiten. Die Unternehmertätigkeit wird sie als Ursprung und Rechtfertigung des Profits anführen - nicht nur, um sich gegenüber der Lohnarbeit zu rechtfertigen, sondern um sich über die idle classes zu erheben. Um zielstrebig den eigenen Geschmack zu auszubilden fehlte ihnen die Muße, für eigene künstlerische Produktion erst recht. Feine Kultur und die schönen Künste zumal dienten der genießenden Erholung vom Werktag und wurden allenfalls von ihren Töchtern betrieben.

Der Unterschied zum faulenzenden Adel, namentlich dem geistlichen, liegt nicht darin, dass diese selber künst-lerisch produktiv gewesen wären. Das taten viele von ihnen freilich auch, etwa der malenden preußische Soldatenkönig und sein flötender Sohn, oder auch Beetho-vens Erzherzog und Prinz Louis Ferdinand. Doch auch sie nur ne-benbei - denn die Künst-lerexistenz war ihnen verwehrt. Entsprechend nebensächlich ist ihr Beitrag zur Kunst.

Der Unterschied ist aber, dass sie, wenn sie das Regieren ihren Mätressen und Güstlingen überließen und die Ländereien den Verwaltern, sich der feineren Kultur voll und ganz hin-geben und das Genießen selbst zur Kunst entwickeln konnten. Auch die Künstler selbst waren in feudalen Zeiten noch keine bettelnden Hungerleider, sondern gehörten in den mittelalterlichen Städten selber zu den Spitzen der Gesellschaft. Die Lukasgilden der Maler standen neben den Goldschmieden an der Spitze der Zunftordnung, und auch die Musikan-ten waren ein zünftiger Stand. Klerus und Adel konnten sie umso selbstbewusster entge-gentreten, wie die wirtschaftliche Bedeutung der städtischen Gesellschaft wuchs.

Und in der italienischen Renaissance stiegen die Meister der Malerwerkstätten direkt zu cortigiani auf, fürstlichen Gefolgsleuten wie Gelehrte, Söldnerführer und Bankiers, die am adligen Bankett teilhatten. Doch zugleich wurden sie zu Schrittmachern bürgerlichen Fort-schritts: Je wichtiger den - in Italien längst nicht mehr durch blaues Blut legitimierten - Fürsten gegenüber den konkurrierenden andern Usurpatoren das Repräsentieren wurde, umsomehr bildeten sich zwischen Künstlern und Auftraggebern marktähnliche Verhält-nissse aus. Zwar machten fromme Szenen weiter das Gros der Bildproduktion aus, aber die Kunst bildete sich neben der entstehenden Wissenschaft zu einer autoritativen Instanz in einer immer bürgerlicher werdenden Welt.


Eine Zäsur war das 18. Jahrhundert. Hollands Goldenes Zeitalter war vorüber und der ita-lienische Adel verarmte. Hier war die Kunst eine Marktangelegenheit geworden und dort - wurden die herrschaftlichen Sammlungen nach und nach an reisende englische Gentlemen versilbert. In der bürgerlichen Gesellschaft wird der Künstler 'frei' von persönlichen Botmä-ßigkeiten und musste sich ums Brot selber kümmern; aber frei wurde seine Kunst: Es wur-de erst gemalt und dann ein Käufer gesucht. Wer sich freilich etabliert hatte, bekam Aufträ-ge für Porträts und wurden gut bezahlt.


'Die Kunst' wurde neben 'der Wissenschaft' eine kulturelle Macht - und eine besondere soziale Gruppe, la bohème, tief unter den ordentlich Ständen und doch auch irgendwie zwischen ihnen. Das Repräsentationsbedürfnis der Aristokraten war so ungebrochen wie ihre Genusssucht, doch ihre Geldbeutel waren schmaler geworden, während die aufstreben-de Bourgeoisie sich zur Erholung und Erbauung auch mit anspruchslosen Sachen zufrieden gab. Doch ihr Drang, es dem Erbadel gleichzutun und ihn womöglich in den Schatten zu stellen, ließ sie größere Summen lockermachen; aber geschmacklich hing er an dessen Tropf und war schon stolz, wenn er ihn wenigstens imitieren konnte.


Und so verkehrte la bohème mit etwas Glück in den vornehmsten Kreisen, während sie zugleich bei den unabhängigsten des gehobenen Kleinbürgertums für bescheidnere Beträge ihre ästhetisch gewagteren Produktionen an den Mann bringen konnten. Anders hätte es in der Kunst des Abendlands eine Avantgarde nie gegeben: Aber sie ruhte auf einem breiten Fundament von Mainstream - Salonmalerei - in einem Meer von massenhafter Trivialkunst.

Der gültige Gute Geschmack des Ancien Régime war verlorengegangen in dem Maße, wie die Fürstenhöfe aufhörten, die bessere Gesellschaft an sich zu binden, und die rivalisieren-den Salons ein neues Corps von Gebildeten in die Welt setzten. Dass das bürgerliche Zeit-alter die Moderne Kunst hervorgebracht hat, ist nicht dem futuristischen Geschmack einer vorwärtsdrängenden Unternehmerklasse geschuldet, sondern der zersetzenden Kraft des Kapitals, das auch die höheren Werte der ewigen Kunst nach Mark und Pfennig schätzt. Ihr verdanken wir, dass zeitgenössische Kunstwerke zu über hundert Millionen Dollar gehan-delt werden, während jeder, der das Zeug ästhetisch beurteilt, ausgelacht wird. 



Nota. - Zum Kennzeichen der Moderne als spezifisch bürgerlicher Ästhetik gehört,  dass sie keine Stile mehr hervorbringt, sondern Moden in rascher Folge. Am ehesten könnte man noch das Biedermeier als einen bürgerlichen Stil bezeichnen. Er beschränkt sich allerdings auf Mobiliar und Intérieur, während er in der Malerei die Verseichtung der Romantik bedeutet (Nazarener, Adrian Ludwig Richter). Bemerkenswert, dass hier ein bürgerlicher Geschmack von der Aristokratie übernommen wurde und nicht umgekehrt. Er blieb freilich auf Deutschland und Österreich beschränkt.

15. 6. 2020




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