Samstag, 27. Juni 2020

Das Gehirn ist hierarchisch aufgebaut.

aus spektrum.de, 20.01.2020 
Hierarchien im Hirn
Um sich einen Reim auf Überraschungen zu machen, müssen separate Gruppen von Gehirn-zellen einander gestaffelt zuarbeiten.

von Michael Springer

Angenommen, Sie sind zum Essen eingeladen, und da es Ihnen wunderbar schmeckt, bitten Sie um das Rezept. Doch als Sie die Speise selbst zubereiten, ist sie ungenießbar. Da fragen Sie sich: Habe ich beim Kochen etwas falsch gemacht, oder ist das Rezept fehlerhaft? Fortwährend sind wir mit Überraschungen konfrontiert, deren Ursache nicht auf der Hand liegt. In der Regel glauben wir erst an einen Zufall und versuchen das Nächstliegende: Der Koch wiederholt das Rezept. Erst wenn die Misserfolge nicht enden, sehen wir ein, dass etwas prinzipiell nicht stimmt.

Wie kommt das Gehirn von Tieren und Menschen zu der – mitunter lebenswichtigen – Erkenntnis, welche Ursache sich hinter einem unerwarteten Ereignis verbirgt? Sind für diese kognitive Leistung spezielle Areale zuständig, und wie arbeiten sie zusammen?

Die Frage haben die Hirnforscher Mehrdad Jazayeri und Morteza Sarafyazd vom Massachusetts Institute of Technology an Primaten untersucht. Sie konfrontierten Makaken mit Abfolgen von Lichtreizen und brachten den Tieren durch kleine Belohnungen bei, je nach der zeitlichen Abfolge der Farbpunkte mit Hin- oder Wegsehen zu reagieren. Letzteres garantierte, dass mehr zu Stande kam als ein bloßer Reiz-Reaktions-Automatismus.

Wie registriert das Gehirn, was für eine Ursache sich hinter einem unerwarteten Ereignis verbirgt?

Nachdem die Makaken gelernt hatten, eine bestimmte Reizabfolge mit entsprechenden Blickbewegungen zu quittieren, drehten die Forscher den Rhythmus der Farbblitze um. Jetzt bildeten diese eine neue, wiederum regelmäßige Abfolge. Die Tiere standen nun vor dem Dilemma, darin bloß eine zufällige, vorübergehende Störung zu sehen – oder die systematische Änderung zu erkennen. Tatsächlich dauerte es nur kurz, bis den Primaten diese Erkenntnis gelang und sie auf das neue System wiederum mit entsprechend angepassten Augenbewegungen antworteten.

Was ging dabei in den Versuchstieren vor? Während der modifizierten Blickversuche ließ sich eine besonders hohe Aktivität in zwei Regionen des Vorderhirns feststellen: im dorsomedialen frontalen Kortex (DMFC) und im knapp darunterliegenden anterioren zingulären Kortex (ACC). Diese Gebiete waren von vornherein »verdächtig« – sie sind auf Handlungskontrolle, kognitive Prozesse und strategische Entscheidungen spezialisiert.

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Der Clou der Studie ist aber der Nachweis einer hierarchischen Zusammenarbeit beider Regionen. Die Information über die neue Reizfolge landet nämlich zunächst »außen« beim DMFC und wird dort nur als Überraschung registriert, als enttäuschte Erwartung. In dieser Phase kann noch nicht entschieden werden, ob es sich um eine vorübergehende Störung handelt, auf die man am besten mit »business as usual« rea-giert, oder um etwas grundlegend Neues, das kognitive Verarbeitung und geändertes Verhalten erfordert.

Die Entscheidung darüber fällt »innen« im ACC, der als Informationspuffer wirkt und auf die neue Nach-icht verzögert reagiert. Erst wenn hier erkannt wird, dass sich etwas dauerhaft verändert hat, kann sich das Individuum an die neue Situation anpassen. Die derart hierarchisch organisierte Kognition des Primatengehirns scheint also eines der Geheimnisse jener höheren Erkenntnisleistungen zu sein, die ihm vorderhand kein künstliches neuronales Netz nachzumachen vermag. 


Nota. - Hirnforscher waren enttäuscht, als sie im Gehirn keine oberste Instanz finden konnten, das die letztendlich ausgeführten Entscheidungen traf. Was sie fanden, war systemische Interaktion, aber kein Zentralorgan. Die schlossen daraus, dass 'das Ich' eine selbstgefällige Illusion sei, der physiologisch nichts entspricht.

Dabei reicht es aus, dass die Interaktion nicht lediglich horizontal, sondern auch vertikal stattfindet - und zwar so, dass auf den höheren Ebenen Entscheidungen von weiterer Tragweite gefällt werden als auf den niederen. Das mag man sich als "stärkeren Willen" versinnbildlichen oder es bleiben lassen. Jedenfalls wird vorstellbar, wie nicht eine horizontale Dauerschleife entsteht, sonden zum Schluss ein Ergebnis zustande-kommt. Es muss kein außersystemischer "Faktor" namens Kausalität eingeführt werden, damit sich nicht alles im Kreise dreht.

Entscheiden ist aber - und das ist in der Hirnforschung schon lange nicht mehr strittig -, dass das Menschen-hirn nicht lediglich auf Signale von außen reagiert, sondern Erfahrungen selber aktiv hervorruft, indem es ans aktuelle Geschehen Erwartungen heranträgt und von der Außenwelt Antworten heischt. Erwartungen mögen sich hauptsächlich aus vorangegangenen Erfahrungen nähren, aber das muss nicht exklusiv sein, sofern sich nämlich eine übergeordnete Instanz einmischen kann, die eine eigne Aktivität entfaltet. Ent-scheidend ist: Durch sie wird eine Wahl möglich ob dieses oder ob jenes als vorrangig gweertet werden soll. 
JE

PS. - Mein obiges Bild zeigt ein Kind. Es stellt, so ist sein Gehirn eingerichtet, Erwartungen an die Welt. Sehr viele Erfahrungen hat es noch nicht sammeln können, und vor allem ist es unsicher bei der Unter-scheidung von Erfahrungen und Einbildungen. Aber das ist der springende Punkt: Wo keine Erfahrungen vorliegen, muss es einbilden. Und weil es unsicher ist, staunt es, wie man deutlich sieht.
JE




Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE. 

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