Sonntag, 14. Juni 2020

Kann ein Fisch sich selbst erkennen?

aus nzz.ch, 14.06.2020                                                   Schmetterlingsbuntbarsch
Ein Test soll zeigen, welche Tierarten ein Ich-Bewusstsein haben – doch er ist umstritten.
Nach fünfzig Jahren sorgt der sogenannte Spiegeltest noch immer für kontroverse Debatten. Wissenschafter stellen unser bisheriges Verständnis von Bewusstsein auf den Prüfstand. 

von Kurt de Swaaf 

Die Idee kam Gordon Gallup beim Rasieren. Als Student hatte er Mitte der 1960er Jahre einen Kurs in experimenteller Psychologie belegt und dabei die Aufgabe erhalten, sich eine neue, einzigartige Versuchs-anordnung auszudenken. Gar nicht so einfach. Also stand Gallup eines Morgens im Bad vor dem Spiegel und grübelte. Moment mal, dachte der junge Mann. Wie würde ein Schimpanse wohl auf sein eigenes Spiegelbild reagieren? Würde er sich selbst erkennen, und wenn ja, wie könnte man das nachweisen? Es war die Geburt eines bahnbrechenden Konzepts.

«Ich konnte das Experiment allerdings erst nach meiner Doktorarbeit verwirklichen», erzählt Gallup heute. Er wechselte an die Tulane University in New Orleans, wo es ein Affenforschungszentrum gab, und führte dort 1970 zum ersten Mal den sogenannten Spiegeltest durch. Dessen Prinzip ist bestechend einfach. Gal-lup brachte einzelne Schimpansen in einem Raum mit einem Spiegel zusammen und beobachtete ihre Re-aktionen. Die Affen waren anfangs nicht begeistert. Vor allem bedrohten sie den mutmasslichen Fremden. Mit der Zeit jedoch beruhigten sich die Tiere und begannen, ihr Spiegelbild neugierig zu betrachten. Es schien sogar, als würden sie mit seiner Hilfe ihre Körper inspizieren. Gallup betäubte die Schimpansen und malte ihnen mit roter Farbe zwei Flecken aufs Gesicht. Wieder zu sich gekommen, verhielten sich die Affen, wie der Forscher es erwartet hatte: Sie erkannten die Punkte im Spiegel und fummelten mit ihren Fingern daran herum. Offenbar wussten die Schimpansen, dass das Spiegelbild sie selbst zeigte.


Der Forscher führte den Test aber auch mit zwei Makaken-Arten und Rhesusaffen durch. Diese kamen gleichwohl nie über die erste Stufe hinaus. Nach zwei Wochen behandelten sie ihr Spiegelbild noch immer wie einen Artgenossen. Gallup schloss daraus, dass die Fähigkeit zur Selbsterkennung wohl nur dem Men-schen und seinen nächsten Verwandten gegeben sei. Fast zur selben Zeit hatten Kollegen von Gallup ähn-liche Versuche mit Babys und Kleinkindern gestartet. Gemäss deren Resultaten erlangt der Mensch im Alter von 18 bis 24 Monaten die Fähigkeit zur Selbsterkennung.

Die Evolution wäre demnach bei diesen Arten auf eine ganz neue Stufe gesprungen. Es gab ein «punctu-ated equilibrium», einen Durchbruch in der Entwicklung, wie Gallup betont. Wer sich selbst erkennt, muss sich seiner selbst bewusst sein, folgerte der Psychologe. Die absolute Einzigartigkeit des Menschen war damit infrage gestellt, ein solides Weltbild bekam Risse. Die Ergebnisse des Spiegeltests lösten hitzige Debatten aus. Konnten Tiere tatsächlich denken? Bis dahin war das kaum vorstellbar gewesen.

Fünfzig Jahre nach Gallups ersten Versuchen ist die Diskussion kein bisschen leiser geworden – im Gegenteil. Andere Wissenschafter haben den Spiegeltest zum Teil adaptiert und mit weiteren Tierarten durchgeführt. Einige davon bestanden, meinen zumindest die jeweiligen Studienautoren. Zu den Selbst-erkennern sollen unter anderem Bonobos (nah mit dem Schimpansen verwandte Menschenaffen), Tümm-ler, Schwertwale, Elstern und der Asiatische Elefant gehören.

Im vergangenen Jahr schliesslich gesellten sich noch Fische zu dieser illustren Gruppe hinzu. Ein Team der Osaka City University hatte tropischen Putzerlippfischen der Art Labroides dimidiatus einen Spiegel vor-gesetzt. Wie bei den Schimpansen wich bei manchen der Fische anfängliche Aggression offenbar einer wachsenden Neugier. Sie betrachteten ihre Spiegelung und begannen, seltsame Bewegungsmuster darzu-bieten. Mitunter schwammen sie sogar auf dem Rücken. Vermutlich hätten die Tiere damit überprüft, ob ihr Spiegelbild tatsächlich sie selbst dargestellt habe, sagt der Studienleiter Alex Jordan. Das sei Teil eines Lernprozesses.

In der zweiten Phase des Experiments spritzten die Forscher den zuvor betäubten Fischen ein harmloses Gel am Kopf oder an der Kehle unter die Haut. Die dadurch entstehende braune Quaddel sollte optisch einen Parasiten imitieren, ohne für den Fisch fühlbar zu sein. Wieder vor dem Spiegel zurück, inspizierten die Tiere den angeblichen Schmarotzer, schwammen zu einem Stein und rieben die betroffene Körperstelle daran. Anschliessend wandten sie sich – laut den Autoren der Studie anscheinend zur Erfolgskontrolle – erneut ihrem Spiegelbild zu.

Jordan, der inzwischen am Max-Plank-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell arbeitet, sieht darin einen klaren Beleg für Selbstwahrnehmung. Die Fische hatten demnach zudem gelernt, den Spiegel als Werkzeug zu nutzen. Mit der Publikation der Studie in der Fachzeitschrift «Plos Biology» bekam die Debatte um das Bewusstsein von Tieren neuen Stoff. Wenn ein Fisch den Spiegeltest besteht, was bedeutet das für die Kognitionsforschung?

Der Forscher selbst sieht keinen Grund zur Aufregung. Selbsterkennung sei nichts Besonderes, sagt der Verhaltensökologe. «Sogar Bakterien unterscheiden zwischen dem Selbst und dem Nichtselbst.» Ein Bewusstsein brauche es dafür nicht, und entsprechend spricht Jordan den Putzerlippfischen auch keine selbstreflexiven Fähigkeiten zu.

Stattdessen solle man die Kognition, die komplexe geistige Aktivität, als graduelle Entwicklung sehen, die bei unterschiedlichen Arten unterschiedlich ausgeprägt sei. Für eine solche Sicht plädieren auch andere Wissenschafter. «Es gibt eine grundlegende Form der Selbstwahrnehmung, die genau deshalb grundlegend ist, weil sie noch nicht die Fähigkeit des Self-Monitoring eigener mentaler Zustände erfordert», erklärt etwa der Philosoph Johannes Brandl von der Universität Salzburg. Mit anderen Worten: Eine Kreatur kann sich selbst empfinden, ohne seine Regungen zu überdenken.

Gallup indes bleibt bei seiner dualen Betrachtung: «Es kann keine Selbsterkennung ohne Selbstbewusstsein geben.» Jordans Fische hätten im Spiegel nicht ihr eigenes Bild gesehen, sondern einen Artgenossen. Ihr merkwürdiges Schwimmverhalten sei der Versuch gewesen, das Gegenüber zu manipulieren, und das Gel habe die Tiere wohl doch irritiert. Daher das Reiben an den Steinen. Die Lernfähigkeit der Fische zweifelt Gallup gleichwohl nicht an: «Viele Spezies haben kluge Hirne, aber dumpfe Geister.»

Damit stünde der Psychologe vielleicht doch nicht so weit von Jordans Position entfernt. «Ein Tier muss nur wissen, dass ein Spiegel die Welt wiedergibt», sagt Letzterer. Für weitere Einblicke in die Entwicklung des Ich-Bewusstseins brauche die Forschung allerdings einen Perspektivwechsel – weg von den anthropo-zentrischen Kategorien, hin zu einer echten Objektivität. Die auf menschliche Denk- und Erkennungsmu-ster fixierte Sicht blockiere das Verständnis. Vielleicht hat die Evolution auch in tierischen Hirnfunktionen mehr Diversität hervorgebracht, als wir uns bis jetzt vorstellen können.


Nota. - "Bewusstsein" ist nicht wirklich ein Begriff. Es ist ein Wort, das in vielen Situationen und Sinn-zusammenhängen eine bestimmte Bedeutung haben kann: doch nie dieselbe. Wird es außerhalb dieses be-stimmten Fachgebiets verwendet, verschwimmt es im Ungefähr. Einen gewissen Grad von Ungefähr braucht unsere Umgangssprache, weil sie unsern Umgang miteinander vermitteln soll und nicht unsere Besonde-rungen schärfen. 

Allerdings bleibt seine umgangssprachliche Allgegenwart nicht ohne Wirkung auf unser Denk- und Vor-stellungsweise, und mischt sich unbemerkt immer wieder auch in die feinsten Distinktionen der Wissen-schaft ein - wo es nicht hingehört.

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Das Ich wurde von Descartes in die Philosophie eingeführt als das denkende Ego. Beim Denken fängt Descartes seine Überlegungen an, da ist das umgangssprachliche Bewusstsein schon selbstverständlich drin enthalten. Von Reflexion redet Descartes nicht ausdrücklich.

Dass Philosophie wesentlich reflektiert, war eine Entdeckung Kants. Transzendentalphilosophie ist toto coelo Reflexion des Denkens auf sich selbst, und wenn sie konsequent ist, stößt sie irgendwann auf - na ja, auf Bewusstsein als dessen Bedingung. So bei Kants Fortsetzer Fichte. Seine Wissenschaftslehre  eruiert nicht nur die Herkunft der Erfahrungsbegriffe, sondern auch, Kant radikalisierend, den Ursprung des Apri-ori, das nach Kant Erfahrung erst möglich macht. Sie geht daher hinter die Begriffe zurück und findet auch das Apriori in der vorstellenden Tätigkeit des Subjekts selbst gegründet. Es gilt daher. den Ursprung des Vorstellens freizulegen - Begriffe, Denken und Bewusstsein werden sich aus ihm schrittweise ergeben.

Ich kürze ab: Am Grunde des Vorstellens findet die transzendentale Reduktion das sich selbst setzende Ich vor. Das 'Setzen seiner selbst' ist seine ursprüngliche Tat. 'Es selbst' ist zunächst ganz unbestimmt. 'Es' be-stimmen kann nur 'es selber' - denn vor ihm war in der Vorstellung nichts. 'Seine' Vorstellung von 'sich-selbst' Fortbestimmen ist eo ipso Selbstbewusstsein. Alles weitere - Denken (Reflektieren), Begriffe, 'Be-wusstein'- folgt daraus.

Das ist, was die Philosophie über Bewusstsein sagen kann. "Bloße Logik", hat Kant es genannt, Reflexions-philosophie hat Hegel gespottet. Der eine hatte die Transzendentalphilosophie nicht zu Ende geführt, der andere hatte sie nie verstanden: Kritik der Vernunft, so radikal sie sei, hat ihm nicht genügt, er wollte dar-über hinaus gehen und hat sie folgerichtig links liegen lassen.
JE


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