
Ist Mathematik Kunst oder Wissenschaft?
Don Zagier, der
frühere Direktor des Max-Planck-Instituts für Mathematik in Bonn, über
die Faszination der Zahlen und ungelöste Fragen der Mathematik.
Was ist so interessant an Zahlen?
Jemand, der sich für Mineralogie interessiert und das studiert, sieht in einem Stein spannende Dinge, vielleicht aus Jahrtausenden Erdgeschichte – er kann den Stein lesen. Für mich persönlich dagegen sind Steine völlig uninteressant, ich kann in ihnen nichts erkennen. Und so geht es wohl vielen Nichtmathe-matikern mit Zahlen. Für mich sind Zahlen so konkret, aufregend und vielschichtig wie Steine für den Mineralogen. Je mehr ich mich mit Zahlen und ihren Eigenschaften beschäftige, desto faszinierender werden sie für mich.
Haben Zahlen einen Charakter?
So spekulieren vielleicht Esoteriker über Zahlen – Mathematiker denken nicht so. Zahlen haben Eigen-schaften, von denen manche kompliziert sind. Die Zahlentheorie versucht, diese Eigenschaften zu ver-stehen.
Ist die Null eine besondere Zahl?
Für mich ist Null die Zahl, die zwischen minus 1 und 1 liegt, genau wie 6 zwischen 5 und 7 liegt. Natürlich hat die Null besondere Eigenschaften, aber auch die Zahl 2 hat besondere Eigenschaften. In der Entwick-lung des mathematischen Denkens spielt die Null aber natürlich eine wichtige Rolle. Ohne diese Zahl ist ein etwas höher entwickeltes mathematisches Denken in Zahlen eigentlich nicht möglich. Solange man mit Zahlen nur Objekte zählte, 3 Schafe, 4 Kühe und so weiter, hatte man keine negativen Zahlen und keine Null. Das war sehr primitive Mathematik.
Die Chinesen haben bereits lange vor Christi Geburt mit der Null gerechnet und hatten dafür auch ein Zeichen. Dagegen kannten die Griechen, die eigentlich eine höher entwickelte Mathematik als die Chine-sen hatten, keine Null. Erst der griechische Mathematiker Diophant aus Alexandria hat etwa im zweiten Jahrhundert nach Christi in seiner Arithmetik, von der nur ein Teil erhalten ist, ganz konkret definiert: Was sind Zahlen? Was sind negative Zahlen? Wie rechnet man mit negativen Zahlen? Wie rechnet man mit der Zahl Null? Sein Werk ist eine enorme Leistung. Ich bin von Diophant wirklich fasziniert.
Was ist so besonders an einem griechischen Mathematiker aus dem zweiten Jahrhundert nach Christi?
Diophant hat Fragestellungen entwickelt, die der große Mathematiker Pierre de Fermat anderthalb Jahr-tausende später aufgreifen konnte. So etwas gibt es wahrscheinlich in keiner anderen wissenschaftlichen Disziplin, außer vielleicht in der Philosophie. In der Arithmetik des Diophant stecken Fragen, die wir noch immer nicht vollständig beantworten können. Er hat ein sehr spannendes Gebiet der Zahlentheorie erfun-den, die diophantische Analysis. Das sind Gleichungen, die zum Teil so komplex sind, dass ein Supercom-puter Jahrtausende bräuchte, um sie zu lösen.
Können Sie ein Beispiel für so eine komplexe Gleichung aus der Zahlentheorie nennen?
Vor ein paar Jahren ist eine Formel im chinesischen Internet aufgetaucht, die ich sehr hübsch finde. Sie sieht ganz einfach aus:
(a/b+c)+(b/a+c)+(c/a+b)=4
Gesucht sind die kleinsten möglichen Zahlen für a, b und c. Sie haben mehr als 75 Ziffern:

Mathematiker, die nicht auf Zahlentheorie spezialisiert sind, können diese Gleichung nicht lösen. Ein Computer bräuchte für simples Durchprobieren Millionen Jahre.
Wie lange haben Sie gebraucht?
Etwa zwei Stunden. Ich habe die Theorie der elliptischen Kurven genutzt, die wohl alle Zahlentheoretiker kennen. Die meisten werden nach einer halben Stunde sehen, dass sie mit dieser Theorie arbeiten müssen. Wenn man in dieser Formel die 4 durch eine 6 ersetzt, wird es noch schlimmer – a, b und c sind dann Zah-len mit etwa 100 Ziffern. Und wenn man 4 oder 6 dann durch 896 ersetzt, haben die kleinsten Werte von a, b und c mehr als zwei Billionen Ziffern. Die Formel sieht simpel aus, doch sie ist eine erstaunliche Aufga-be mit weitreichenden Dimensionen.
Wozu braucht man solch abstraktes Wissen?
Das ist wie die Frage: Worin liegt der Nutzen einer Sonate von Mozart? Oder der eines Goethe-Gedichts? Nicht bei allem, was Menschen machen, geht es um den unmittelbaren, praktischen Nutzen. Menschen machen auch Dinge, weil sie schön sind oder faszinierend. Die Mathematik ist davon nicht weit entfernt. Wozu betreibt man Forschung? Natürlich auch um praktische Probleme zu lösen, Krankheiten zu heilen, Geld zu verdienen oder weil man auf den Nobelpreis hofft. Aber echte Forscher sind vor allem von Neugier getrieben. Natürlich ist der Satz des Pythagoras praktisch, wenn man Flächen berechnen oder ein Gebäude bauen will. Egal welche Winkel ein Dreieck hat – ihre Summe ist immer 180 Grad. Aber das hat auch eine eigene Schönheit, zumindest für Mathematiker.
Hat eine mathematische Formel für Sie einen ästhetischen Reiz?
Absolut, wie vollendete Musik. Kein Mathematiker kann entscheiden, ob die Mathematik eine Wissen-schaft ist oder eine Kunst. Vielleicht ist sie beides. Ein Mathematiker, der für eine mathematische Aussage mehrere Beweise kennt, wird immer den elegantesten, den schönsten Beweis vorziehen. Es gibt einen be-rühmten Satz von Fermat über das Verhältnis zwischen Primzahlen und der Summe zweier Quadratzahlen: p = a² + b². Für diesen Satz gibt es Hunderte Beweise. Ein Beweis, den ich vor Jahren gefunden habe, ist der bei Weitem kürzeste, was mir natürlich Spaß macht, aber lange nicht der schönste oder eleganteste.
Aber es geht in der Mathematik nicht nur um Schönheit und die Freude an der Abstraktion, oder?
Selbstverständlich ist Mathematik nützlich, die gesamte moderne Technologie beruht darauf. Es gibt aber auch Entdeckungen, die anfangs nur für Mathematiker faszinierend waren, für die keine praktische Anwen-dung erkennbar war und die dann später in Kontexten wichtig wurden, von denen ihre Entdecker nichts ah-nen konnten. Kein Computer würde funktionieren ohne die Erfindung der binären Zahlen oder die Boole’ sche Algebra. Doch als Boole die etwa 1850 entwickelte, galt sie als sinnlose Spielerei, fern jedes prakti-schen Nutzens. Ein anderes Beispiel ist Kryptografie, Verschlüsselung: Die Codes, mit denen Banküber-weisungen vor nicht legitimierten Zugriffen geschützt werden, beruhen auf relativ avancierter Zahlenthe-orie – die nicht zu diesem Zweck entwickelt wurde.
Haben Sie noch mehr Beispiele?
Dass GPS-Systeme heute so präzise sind, hängt mit dem sogenannten LLL-Algorithmus zusammen, den Freunde von mir vor vielen Jahren entwickelt haben. Ihnen ging es darum, Vektoren in einem hochdimen-sionalen Gitter, etwa einem Gitter von dreißig Dimensionen zu finden. Nichtmathematiker können sich das vermutlich nicht vorstellen, das ist eine besonders anwendungsfremde Fragestellung der Zahlentheorie. Doch dann wurde der LLL-Algorithmus zur Verbesserung von GPS- Systemen benutzt. Aber die Mathema-tiker, von denen er stammt, wurden nicht einmal informiert. Sie haben erst viel später durch Zufall davon erfahren.
Zahlen sind, anders als die Untersuchungsgegenstände der Naturwissenschaft, eine Erfindung der Menschen. Wissen wir irgendwann alles, was wir über sie wissen wollen?
Wir kennen noch lange nicht alle Eigenschaften der Zahlen. Ich will zwar nicht sagen, 1800 Jahre nach Diophant stünden wir gerade erst am Anfang, aber jede Lösung von einiger Tiefe führt zu neuen Fragestel-lungen. Die wichtigsten Fragen sind nicht annähernd gelöst. Riesige Themenfelder, etwa in der Theorie der elliptischen Kurven, sind nicht einmal richtig erschlossen. Und in anderen Gebieten kennen wir die wirk-lich interessanten Fragen wahrscheinlich noch gar nicht.
Die schwierigste Aufgabe in der Mathematik ist eigentlich, produktive Fragestellungen zu entwickeln. Es geht immer eher darum, Probleme zu finden, als Probleme zu lösen. Viele der Fragen, die mich beschäfti-gen, habe ich selbst gefunden, jedem guten Forschungsmathematiker geht es genauso. Diese Freiheit hat man wahrscheinlich in keiner anderen Disziplin. Aber dabei kann man nie sicher sein, ob eine selbst ge-stellte Aufgabe zu tieferen Fragestellungen führt.
Ich würde Ihnen gern einige Fragen ausführen, die mich faszinieren. Aber Sie müssten jahrelang Mathema-tik studieren, um sie nachvollziehen zu können. Es gibt mathematische Fragestellungen, die vielleicht nur ein Dutzend Menschen wirklich verstehen, weil das ihr Spezialgebiet ist. Es gibt mehr extrem interessante Probleme als darauf spezialisierte Mathematiker. Man kann also sagen, dass die Zahlentheorie sehr kom-plex geworden ist – auch wenn ihr Gegenstand einfach Zahlen bleiben.
Eine letzte Frage: Glauben Sie, dass auch Nichtmathematiker, zu deren Beruf das Rechnen und die Arbeit mit Zahlen gehört, etwa Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, die Schönheit der reinen mathematischen Abstraktion erkennen und genießen?
Ich glaube, dass jeder Mensch, ob jung oder alt und ob mit dem Umgang mit Zahlen vertraut oder nicht, diese Schönheit erkennen und genießen kann, wenn sie ihm richtig präsentiert wird. Er müsste dafür einige der wirklich schönen Beispiele mathematischen Denkens kennenlernen, was allerdings eher der euklidische Beweis der Unendlichkeit der Primzahlfolge wäre als etwa die Frage, wie man die Steuer effizient berech-net. Leider lernt man solche Beispiele all zu selten in der Schule kennen und später erst recht nicht. Ich denke, ein bisschen Liebe zur Mathematik steckt potenziell in jedem.
Boole’sche Algebra Benannt nach George Boole, der 1847 in seinem Logikkalkül erstmals alge- braische Methoden in der Klassenlogik und Aussagenlogik anwandte. Ihre heutige Form verdankt sie der Weiterentwicklung durch Mathematiker wie John Venn oder Charles Peirce Diophantos von Alexandria |
Nota. - 1. Der Unterschied zwischen Kunst und Wisenschaft ist kein gewissermaßen ergonomischer, der in ihren Verahrensweisen begründet läge, da hat der Autor wohl Recht. Er liegt in ihrer Bedeutung für die Lebenswelt: Wissenschaft kann als eine solche nur betrieben werden, wenn sie bereit ist, die Ergebnisse hinzunehmen, zu denen sie eben kommt - ob sie einen erkennbaren Nutzend haben oder nicht. Aber jede ihrer Errungenschaft kann unter gegebenen Umständen die Mächtigkeit der Menschen über ihre Lebens-umstande stärken, auch darin hat der Autor Recht. Doch die Gewissheit dieser Möglichkeit gehört zu ihren Bedingungen.
Kunst dagegen bewährt sich als eine solche darin, dass sie außer dem Ästhetischen selbst schlechterdings keinem Zweck dient noch dienen kann. Das unterscheidet die von Kitsch und Agitprop und ist die Bedin-gung ihrer kulturellen Geltung. Wahr ist allerdings, dass diese Unterscheidung erst seit rund zwei Jahrhun-derten gemacht wird.
2. kann ich mich nur wiederholen: Kein gewisseres Indiz für die Abstammung der Mathematik aus mensch-lichem Geist könnte es geben, als ihre originäre Verwurzelung in seinem ästhetischen Vermögen, denn je-nes - und nicht unsere Intelligenz - ist es, die die Menschenwelt unumkehrbar vom Tierreich geschieden hat. Wenn es aber nicht aus dem phylogentischen Marschgepäck stammt - woher denn dann? Vom Himmel gefallen ist es nicht, also muss er es wohl selbst aus sich hervorgebracht haben.
PS. Mir fällt auf, dass der Autor wie auch der meines gestrigen Eintrags unter Mathematik ganz selbstver-ständlich das Operieren mit Zahlen versteht - währdend sich der gebildete Laie Mathematik eher als aus der Geometrie entstanden und als Anschauung von Räumen vorstellt.
Das Operieren mit Zahlen ist anscheinend älter, jedenfalls sind die ersten geometrischen Überlegungen erst bei den Griechen bezeugt. Letztere brauchten dazu Zahlen, und dafür konnten sie auf die Inder zurückgrei-fen. Doch zu einer Wissenschaft ist Mathematik doch wohl erst dadurch geworden: indem den Zahlen ein ihnen spezifischer Eedeutungsraum zugewiesen wurde; prosaisch: indem ersichtlich wurde, wozu man sie brauchen kann. Bis dahin müssten Rechnungen wirkliche Kunststücke geblieben sein.
Es sei denn, die Zahlen - oder doch Zeichen, die Verhältnisse anzeigen konnten, spezifisch: räumliche Ver-hältnisse - hätten in Astrologie und Astronomie ihre Rolle gespielt und reichten damit wohl bis in die me-sopotamische Vorzeit zurück. Jedenfalls hat Pythagoras ihre Mystifikation daraus hergeleitet; und der Vorläufer von Euklid, dem Begründer der Mathematik als Wissenschaft in specie, war er.
JE
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