Dienstag, 31. März 2020

Ist Rhythmus der Stoff des Ästhetischen?

aus nzz.ch, 12.12.2009                                                                                 Francis Difronzo, nothing starts tomorrow, part5
Das Gefühl für Maß und Verhältnis
Ein Geschenk der Evolution steht am Anfang aller Kunst: der Rhythmus-Sinn. Darin wurzelt unsere Fähigkeit, Mass, Form und Proportion als ästhetische Gestalten sinnlich wahrzunehmen und lustvoll zu erleben. Das Erfahren und Erfinden rhythmischer Formbeziehungen ist ein Urtrieb, zu dessen Befriedigung wir uns in das Abenteuer Kunst stürzen.

von Peter Meyer 

Es ist wohl übertrieben zu glauben, wir seien alle Künstler, wie es uns Beuys weismachen wollte, aber et- was scheint an dieser merkwürdigen Behauptung dennoch dran zu sein, wenn auch vielleicht nicht in dem Sinn, wie es Beuys gemeint hatte. Mehr in unserem Leben, als wir denken, hat nämlich mehr mit Kunst zu tun, als wir denken. Mit Kunst, sage ich, nicht mit dem Kunstwerk, das wir oft unbedacht mit Kunst gleich- setzen, obwohl das Kunstwerk doch nur die stoffliche Manifestation eines zugrundeliegenden Prinzips Kunst ist, dessen Vorhandensein und Wirken wir gar nicht einmal wahrnehmen könnten, wenn wir nicht in gewisser Weise dafür prädisponiert wären. Und zwar – das Wort muss heraus – genetisch prädisponiert! Ich weiss nur zu gut, dass viele das für Unsinn halten. Sie behaupten, dass unsere Kunstkompetenz ausschließ- lich eine Sache der Herkunft, des gesellschaftlichen und kulturellen Umfeldes und der darin herrschenden Konventionen sei. Das will ich gar nicht bestreiten, wenigstens nicht, solange es bloss um das Wie der Kunst geht. Wagen wir aber die Frage, weshalb und aus welchem Antrieb wir denn überhaupt etwas wie Kunst betreiben, dann finden wir auf die Frage kaum eine andere Antwort als die, dass wir wohl genetisch dazu ausgestattet, also prädisponiert sein müssen.

Thomas Anshutz, Stahlarbeiter, Mittagspause 

Gefallen als Antrieb 

Denken wir zunächst einmal an all die vielen harmlosen Dinge, die wir als äusserlich zu bezeichnen pflegen, angefangen bei unserem eigenen Aussehen und dem Erscheinungsbild unseres persönlichen Umfeldes. In modernen zivilisierten Gesellschaften gehört es zwar zum guten Ton, solche Dinge mit einer gewissen Nonchalance zu behandeln und ihnen, mindestens dem Anschein nach, nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Werden wir gefragt, weshalb wir dieses oder jenes tun, was doch nur der äusseren Erschei- nung dient, so haben wir in der Regel ganz einfache Antworten zur Hand, die uns plausibel erscheinen und uns kein weiteres Kopfzerbrechen verursachen. Die Feststellung «Ich mag's halt gerne schön» erscheint uns meist durchaus befriedigend und keiner weiteren Erörterung wert. Aber wie kommen wir denn überhaupt dazu, etwas als schön zu empfinden? Und was kann das heissen?

 André Devambez, Der Angriff, 1902/3

Die meisten von uns, auch wenn wir keine Künstler sind, empfinden einen Blumenstrauss in der Wohnung als eine wohltuende Bereicherung. Was wir daran mögen, kann die besondere Art der Blumen sein, ihre Formen, ihre Farben oder ihr Duft. Aber damit nicht genug, wir wünschen uns die Blumen auch schön und wirkungsvoll eingestellt und arrangiert, nicht ungeordnet wie ein Besen, aber auch nicht zu gleichmässig ausgerichtet wie Soldaten. Und die Vase soll in Grösse, Form und Farbe zu den Blumen passen, und sie soll nicht bloss an einer gut sichtbaren Stelle stehen, sondern ihr Platz soll so gewählt sein, dass sich ein dem Auge gefälliges Verhältnis zum Raum und zu seinen Proportionen wie auch zu den anderen darin befind- lichen Objekten ergibt. Viele hängen etwa auch Bilder, Fotos und dergleichen in ihren Wohnungen auf. Und sie placieren diese Dinge nicht nur nach dem Prinzip der guten Sichtbarkeit, sondern sie scheinen dabei einem unbewussten Konzept zu folgen, das ihnen sagt, an welche Wand und wo ganz genau das Bild hin- muss, um die beste Wirkung zu erzielen. 

Sind wir doch alle Künstler?

Bei vielen Dingen und Tätigkeiten des täglichen Lebens achten wir darauf, dass sie nicht nur funktionieren, sondern dass sie uns auch gefallen. Wie etwas beschaffen sein muss, damit es uns gefällt, das ist vom kultu- rellen Umfeld und vom Hintergrund abhängig. Wir lernen es im Lauf unseres Lebens und passen es immer wieder neuen Gegebenheiten an. Aber dass wir für diesen Lehr- und Lernprozess überhaupt empfänglich sind, dass wir uns Kompetenz erwerben können und es für wichtig genug halten, dem Gefallen, auch wo es über das rein physisch Angenehme hinausgeht, einen so grossen Raum in unserem Leben zuzugestehen, dafür muss ja eine Voraussetzung da sein. Worin mag sie bestehen? Ist es reiner Luxus, bringt es Gewinn, oder sind wir vielleicht doch alle Künstler?

Luís Falero, Fausts Traum

Zunächst einmal äussert sich in solchen Bestrebungen ein Wunsch nach Ordnung. Das Streben nach Ord- nung ist uns angeboren, das heisst in unseren Genen verankert. Ordnungssinn bringt, evolutionär betrachtet, eindeutig einen Überlebensvorteil, denn Ordnung erleichtert uns das Zurechtfinden und den Umgang mit der Verschiedenartigkeit der Dinge. Der Sinn für Ordnung in dieser elementaren Bedeutung, der übrigens keineswegs nur auf das menschliche Verhaltensrepertoire beschränkt ist, ist rein zweckbestimmt. 

Vielerlei «schön»

Aber wenn wir zum Beispiel Bilder aufhängen, dann scheint es um eine höhere Art Ordnung zu gehen. Um eine Ordnung, die keinem praktischen Zweck dient. Auch diese Art Ordnung scheinen wir irgendwie im Blut zu haben. Sie ist allerdings viel schwerer zu verstehen und zu beschreiben. Ich habe es bisher bewusst bei Wörtern wie «bildwirksam», «ansprechend» oder «gefallen» belassen. Aber das klingt alles zunächst einmal ziemlich unscharf und arbiträr. Etwas, was mir gefällt, braucht andern nicht notwendig auch zu gefallen. Trotzdem ist das Wort «gefallen» aussagekräftig, denn es beschreibt eine emotionale Wirkung, ob wir uns nun über die Art und Qualität des Auslösers dieser Wirkung und darüber, wie sie erzielt wird, im Klaren sind oder nicht. Immer wieder wird das Schöne auch mit dem Ästhetischen gleichgesetzt. Das Ästhetische ist aber etwas anderes. Vereinfacht könnte man vielleicht sagen, dass das Ästhetische in der besonderen Art des Umgangs mit dem Schönen liegt, und das heisst natürlich, dass auch das weniger Schöne, möglicherweise auch das Hässliche in das ästhetische Spiel mit einbezogen werden können. Das Schöne wird in dieser Betrachtungsweise zum ästhetischen Sonderfall, der auf einer imaginären ästheti- schen Werteskala zuoberst steht.

 Edgar Degas, Vor dem Ballett, 1880-82

Doch ist auch das Hässliche Teil des Ästhetischen, bloss steht es am anderen Ende der Skala. Das Ästheti- sche ist also nicht dadurch charakterisiert, dass es sich an den Bereich des Schönen hält, sondern dass es aus Schön und Hässlich ein interessantes ästhetisches Spannungsfeld erzeugt, das die axiologischen Unter- schiede vergessen macht. Das Ästhetische ist also noch weniger als das reine Schöne etwas selbstgenüg- sam, «einfältig» und spannungslos in sich Ruhendes, sondern ein Kompositum, ein strukturiertes Ganzes, in dem ein formales Beziehungsgeflecht wirksam ist.

Ästhetische Wahrnehmung scheint auf den Menschen beschränkt zu sein. Wir wissen nicht, wann und auf welcher evolutionären Stufe der Menschheitsgeschichte zum ersten Mal so etwas wie ein ästhetischer Sinn auftritt. Aber wir wissen, dass irgendwann Menschen angefangen haben, Gegenstände zu verzieren, nicht zu einem praktischen Zweck, sondern allein aus einem ästhetischen Bedürfnis heraus. Und es ist anzuneh- men, dass Menschen schon viel früher, lange vor den ersten Zeugnissen einer Sachkultur, primitive Formen von Musik und Tanz, wahrscheinlich im Rahmen kultischer Rituale, entwickelt haben.


cy twombly,  untitled 1985, 3

Ästhetische Erfahrung ist also viel mehr als die Empfindung von Schön und Hässlich, sie ist das ganzheit- liche Erlebnis stofflich-formaler Spannung und Harmonie und verdankt sich einer mentalen Disposition, die uns sinnlich wahrgenommene Eindrücke automatisch und unwillkürlich danach abtasten lässt, ob sie sich zu gestalthaften Gebilden zusammenfügen. Der Schöpfer der sogenannten Gestalttheorie, der öster- reichische Philosoph und Psychologe Christian von Ehrenfels, entwickelte seine Theorien am Phänomen der Melodie, die gegenüber den Tönen, aus denen sie besteht, einen Mehrwert besitzt, einen eigenen Cha- rakter, der sie transponierbar macht. Noch überzeugender wird die Sache, wenn man neben der Tonfolge noch einem anderen Faktor Beachtung schenkt, den Ehrenfels nicht erwähnt, der mir aber der wichtigste überhaupt zu sein scheint. Ich meine das Phänomen des Rhythmus. Der Rhythmus ist vielleicht das am stärksten gestaltbildende Element und daher in der Kunst, und zwar in aller Kunst, nicht nur in der Musik, von überragender Bedeutung. 

Eine unschätzbare Bereicherung

Nun wird gern eingewendet, Rhythmus sei keine menschliche Erfindung, sondern überall vorhanden, im Makrokosmos wie im Mikrokosmos. Aber darum geht es eigentlich gar nicht, sondern es geht vielmehr um die Wahrnehmung, das Erlebnis des Rhythmus, mithin um die Tatsache, dass wir in der Lage sind, rhyth- misches Geschehen oder, allgemeiner, rhythmische Verhältnisse (denn Rhythmus ist nicht nur ein Zeit-, sondern ebenso auch ein Raumphänomen) in einem begrenzten (Frequenz-)Bereich mit unseren Sinnen unmittelbar wahrzunehmen. Was das bedeutet, das kann, denke ich, in seiner Tragweite gar nicht über- schätzt werden. Denn der Sinn für das Rhythmische schlechthin ist Grundlage und Voraussetzung für unsere Fähigkeit, zeit- und raumgliedernde Proportionen als Bewusstseinsqualitäten zu erfahren. Was hätte es für einen Sinn, den Goldenen Schnitt zu berechnen und zu konstruieren, wenn wir ihn nicht sehen, ihn nicht erleben könnten! Was würde uns die Oktave mit ihrem reinen Schwingungsverhältnis von 1:2 bedeuten, wenn wir sie nicht in ihrer besonderen Qualität hören könnten? Dieses Erlebenkönnen und Erlebenwollen rhythmischer, proportionaler Verhältnisse, ist es nicht vor allen anderen Motivationen die eigentliche Triebfeder aller Kunst? Ja vielleicht der menschlichen Kultur überhaupt? 

Johannes Bosboom, Dom zu Trier

Goethe könnte Ähnliches im Sinne gehabt haben, als er in der «Italienischen Reise» (Eintrag vom 9. April 1787) schrieb, dass es das Gefühl der Wasserwaage und des Perpendikels sei, das uns eigentlich zu Menschen mache. Wohlverstanden: Nicht der Gebrauch dieser Hilfsmittel, sondern das Gefühl(!) für Mass und Verhältnis, die damit gemessen werden, das mache uns zu Menschen, also zu kultur- und kunstfähigen Wesen. Dass wir rhythmische Strukturen in der Natur, in einem Bild, an einer Hausfassade, in einem Gedicht mit unseren Sinnen erfassen und in ihrer je eigenen Gestalt erkennen und erleben, einige unter uns sogar solche Gestalten erschaffen können, das hat uns eine unschätzbare Bereicherung unserer Erlebnisfähigkeit beschert. 

Ein grosses «Geschenk»

Wir scheinen also genetisch prädisponiert für die Wahrnehmung von Mass und Proportion. Ausgangspunkt und Ursprung dieser Anlage, die man nicht anders denn als unschätzbares «Geschenk» der Evolution bezeichnen kann, dürfte also in dem in unseren menschlichen Urahnen erwachenden Gefühl für rhythmische Bewegung zu finden sein, das sich wohl schnell zum eigentlichen Rhythmus-Sinn entwickelt hat. Wir wissen darüber nichts, zugegeben, aber es ist sicher keine bodenlose und schon gar keine besonders kühne Spekulation, wenn wir annehmen, dass schon lange vor den Zeiten, aus denen die ersten Zeugnisse primitiver menschlicher Kulturformen stammen, sich Menschen zu kultischen motivierten Tänzen vereint und dabei gemeinsam die Macht des Rhythmischen erlebt haben könnten. 

 
Gerhard Richter, 4 Panes of Glass 1967. 

Dass sich dieser Sinn für, diese Lust auf das Rhythmische im Laufe der menschlichen Stammesgeschichte nicht wieder verloren hat, weist darauf hin, dass es sich dabei um mehr als eine zwar bereichernde, aber für das praktische Leben letztlich nutzlose Erweiterung des Erfahrungshorizontes ins rein Spielerische handeln muss und dass sich hinter dieser Fähigkeit möglicherweise ein Überlebensvorteil verbirgt. Denn die Macht des Rhythmischen wirkt besonders stark, wenn sie in einer Gemeinschaft erlebt und praktiziert wird. Sie kann in einer Gruppe ein unwiderstehliches Gemeinschaftsgefühl hervorrufen.


Der Rhythmus-Sinn wurzelt im Triebhaft-Animalischen und eröffnet gleichzeitig die Welt des Abstrakt-Formalen als neuen Erfahrungshorizont. Damit wird er, so meine ich, zum Movens allen künstlerischen Tuns. Soll man es erstaunlich finden oder vielmehr als logisch erachten, dass das einem Phänomen gelingt, das eigentlich nichts anderes als eine Formbeziehung ist – eine reine Beziehungsgrösse, die auf dem Verhältnis zwischen einer gleichförmigen, markierten oder auch nur gefühlten Zeit- oder Raumeinteilung (Takt) und zusätzlichen, das Grundmass spannungsvoll überlagernden, meist stärker und lebendiger gegliederten Zeit- oder Raumstrukturen beruht? Die dynamische Kraft, die daraus in unserem Bewusstsein entsteht, ist zugleich animalisch und abstrakt-formal. Beides liegt viel näher beisammen, als man gemeinhin denkt, und die Verbindung beider Bereiche scheint mir die Grundbedingung für das Entstehen aller Kunst zu sein. 

 J. M. W. Turner, Tintern Abbey, 1820

Drang zur Form

Kunstwerke formalisieren und abstrahieren die Erfahrung der Lebensrealität. Sie schaffen rhythmisch strukturierte Beziehungsgeflechte und ästhetische Spannungsfelder von je eigener Gestaltqualität. Natürlich macht das allein noch keine Kunst aus, wirkliche Kunstwerke müssen mehr sein als das. Es kommt die ganze Assoziations- und Bedeutungsebene hinzu. Das Rhythmisch-Ästhetische aber, in welchem sich das Animalisch-Triebhafte mit dem Abstrakt-Formalen vor jeglicher Erkenntnis verbindet, ist treibende Kraft, Nährboden und Lebensnerv der Kunst, von Anfang an. Ähnliches dürfte übrigens auch für jegliche Religionsausübung gelten, die aus dem Bedürfnis nach Kult und Ritual gewachsen sein muss und nicht umgekehrt. So sollte man sich vielleicht von der Vorstellung trennen, Kunst sei im Grunde nichts als eine «luxuriösere» Art von Inhaltsvermittlung, die Form hingegen etwas Verstandesmässiges, hoch Künstliches, das sich erst auf einer höheren kulturellen Stufe des Stoffs bemächtige. Das Primitive, Animalisch-Vitale in uns drängt ohne den Umweg über das Denken zur Form, zur Abstraktion. Und weil wir so sind, deshalb machen wir Kunst.

Dr. Peter Meyer ist Kulturhistoriker und Publizist in Zollikofen


Jacques-Louis David, Marats Tod. 

Nota I. - Ich bin ja auf der Suche nach dem Ursprung des spezifisch-Ästhetischen, weil es wohl das ist, was uns Menschen von den Tieren spezifisch unterscheidet. Aus heiterm Himmel wird es kaum gefallen sein, denn dafür hat es in unserer Gattungsgeschichte viel zu lange gedauert, bis es sich zu identifizierbarer Ge- stalt herausgearbeitet hat. Es ist nicht "emergiert", sondern wird sich wohl auf älteren Grundlagen gebildet, aus älterem Material aus gebildet haben. Ich sage es, wie ich es meine: Es ist mit dem "Geist", der seiner- seits als Kompensation für die verlorenen Selbstverständlichkeiten unserer früheren Umweltnische aufge- treten ist, selber entstanden - als der 'Teil', der sich zu nichts Nützlichem gebrauchen ließ; und erst wieder zu den verdienten Würden kam, als der eingetretene materielle Überfluss das Menschenleben aus der selbstverschuldeten Knechtschaft von Nutz und Brauch freigesetzt  hat.

Und dass es dem Autor gelungen ist, von der unnützen Seite des Geistes auf das "animalisch Triebhafte" zurückzukommen, lässt keine evolutionistischen Wünsche offen.  


16. 10. 2013


Nota II. - Da ließe sich noch viel zu sagen. Es sollte aber nicht das Wichtigste überdecken: dass sich unser ästhetisches Vermögen stammesgeschichlich aus der Wahrnehmung des Rhythmischen in all seinen Aus- prägungen entwickelt habe. Den Gedanken sollte man fortentwickeln. Für heute nur noch dies: "Alle Künstler" sind wir ganz sicher nicht. Doch uns dem ästhetischen Zustand zu ergeben sind wir wohl alle vermögend, wenn auch dieser mehr, jener weniger. Nur muss man es wollen.
JE 


 

Empathie und Perpektivwechsel sind nicht dasselbe.

 aus scinexx                                      aus Jochen Ebmeiers Realien

Intensives Mitgefühl kann Verstehen beeinträchtigen
Starke Aktivität in Empathie-relevanten Hirnregionen hemmt Hirnbereiche für Verstehen
Wer empathisch ist, kann andere auch gut verstehen? Diese Gleichung geht Forschern zufolge nicht immer auf. Sie zeigen mit einem Experiment, dass überbordendes Einfühlen das kognitive Verstehen sogar beeinträchtigen kann. Demnach können die für die beiden Fähigkeiten zuständigen neuronalen Netzwerke einander hemmen. Die Folge: Fühlen wir intensiv und emotional mit, verstehen wir mitunter schlechter, was das Gegenüber weiß, plant oder will.
Die Fähigkeit, sich in die Gefühlswelt von anderen hineinversetzen zu können, ist bei Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Veränderte Hirnaktivitäten machen Studien zufolge rund ein Fünftel der Bevölkerung zu besonders sensiblen und empathischen Personen. Im Umgang mit Mitmenschen kann diese Eigenschaft zum Vorteil werden. "Eine erfolgreiche soziale Interaktion basiert auf unserer Fähigkeit, an den Gefühlen anderer teilzuhaben", sagen Psychologen um Philipp Kanske vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.

Ebenso wichtig wie Empathie ist es aber, die Gedanken und Absichten anderer erennen zu können. Doch können Menschen, die sich gut in andere hineinfühlen können, diese auch zwangsläufig gut verstehen? Dieser Frage ist das Team um Kanske nun nachgegangen – und hat Erstaunliches festgestellt.


Gute Empathie gleich gutes Verständnis?

Die Forscher wollten wissen, ob Empathie und die sogenannte kognitive Perspektivübernahme – also das Vermögen zu verstehen, was andere Menschen wissen, planen oder wollen – miteinander einhergehen. Dafür untersuchten sie, wie unterschiedliche Personen auf bestimmte Videosequenzen reagieren – und welche Hirnareale dabei aktiv sind.

Kanske und seine Kollegen zeigten rund 200 Studienteilnehmern eine Reihe von kurzen Filmen, in denen der Erzähler mal mehr, mal weniger emotional war. Anschließend sollten die Probanden angeben, wie sie sich selbst fühlten und wie sehr sie mit der Person in dem Film mitgefühlt hatten. Zudem mussten sie Fragen zu den Filmen beantworten, beispielsweise was die Personen gedacht, gewusst oder gemeint haben könnten.


Hirnaktivität im Blick 


Auf diese Weise identifizierten die Psychologen Probanden mit einem hohen Maß an Empathie. Anschließend untersuchten sie, wie die empathischen Menschen im Vergleich zu den weniger einfühlsamen bei dem Test zur kognitiven Perspektivübernahme abgeschnitten hatten. Hatten sie die Personen im Film womöglich auch besser verstanden?

Zudem beobachteten die Wissenschaftler mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie, welche Bereiche des Gehirns der Teilnehmer während des Tests aktiv waren. "Uns interessierte, ob sich die für die beiden Leistungen Empathie und Perspektivübernahme zuständigen neuronalen Netze gegenseitig beeinflussen", schreiben die Forscher.


Starkes Mitgefühl beeinträchtigt Verstehen

Die Hirnbilder offenbarten: Tatsächlich interagieren diese beiden Netzwerke im Gehirn miteinander – und sie scheinen sich gegenseitig ausbremsen zu können, wie die Wissenschaftler berichten. In sehr emotionalen Situationen, zum Beispiel wenn jemand vom Tod eines Freundes erzählt, kann demnach eine Aktivierung in einem Teil des Empathie-relevanten Netzwerkes, der sogenannten Insula, bei manchen Menschen einen hemmenden Einfluss auf die für die Perspektivübernahme relevanten Gehirnareale haben.

"Das führt wiederum dazu, dass überbordendes Einfühlen Verstehen sogar beeinträchtigen kann", schreiben Kanske und seine Kollegen. Ihre Studie habe gezeigt: "Menschen, die zu Mitgefühl neigen, sind demzufolge nicht notwendigerweise diejenigen, die andere Menschen kognitiv gut verstehen." 

Die Fähigkeit zur Empathie geht demnach nicht automatisch mit der Fähigkeit zum Verstehen einher. Vielmehr beruhe soziale Kompetenz auf verschiedenen und voneinander unabhängigen Fertigkeiten, so das Fazit der Forscher. So sollten Trainings, die das Ziel haben, soziale Kompetenz zu verbessern, die Bereitschaft sich in andere einzufühlen und die Fähigkeit, andere kognitiv zu verstehen, getrennt voneinander fördern, berichten sie. (Social Cognitive and Affective Neuroscience, 2016; doi: 10.1093/scan/nsw052)

(Julius-Maximilians-Universität Würzburg, 02.05.2016 - DAL)
Nota. -  Empathie und Perspektivwechsel sind nicht dasselbe. Sie haben 'miteinander zu tun', aber nicht als Verbündete, sondern als Rivalen. (Erkennen ist kein Identifizieren, sondern ein Unterscheiden.) 
JE, 3. 5. 16

Frauenfeindlich?

Wouters, Crazy violence                                                                                                 aus Männlich 

Mann, wie kommen Sie denn darauf! Auf diesen Seiten polemisiere ich gegen den Feminismus, und dem hängen unter den Frauen nur ganz wenige an. Lila Pudel, die auf diesem Flämmchen ihre eigenen Süppchen köcheln, gibt es viel mehr. Ich verwende ja mit Bedacht das große BinnenI: FeministInnen; so können auch die sich angesprochen fühlen.

Schwierig wird es bloß, wenn ich schreiben will: frau will, frau kann nicht... Dazu habe ich keine gegenderte Version gefunden, nichtmal bei Google; manIn jeht doch nich.

22. 2. 16 

Nachtrag: Man*n würde zur Not gehen; ich denk drüber nach.
31. 3. 20



 

Ganztagsrisiko.

                                                               aus Levana, oder Erziehlehre.

Aus gegebenem Anlass zitiert die [...] FAZ ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2003. Der hatte in einem Grundsatzurteil „zur Haftung bei Schulunfällen“ (VI ZR 34/02) entschieden, zur Erlangung von Schmerzensgeld „bei einem durch schülertypisches Verhalten verursachten Schulunfall“ müsse sich „der Vor- satz insbesondere auch darauf erstreckt haben, dass bei dem geschädigten Mitschüler ernsthafte Verletzungsfol- gen eintreten“. Denn „gegenseitige Verletzungshandlungen von Schülern bei Spielereien, Raufereien und über- mütigem und bedenkenlosem Handeln während der Abwesenheit von Aufsichtsper- sonen, die ohne den Wil- len zur Zufügung eines größeren Körperschadens erfolgen, gehören nach wie vor zum Schulalltag“.

Daraus folgt? Dass es in den bestehenden und noch zu befürchtenden Ganztagsschulen keine Abschnitte geben wird, in denen die Schüler freie Zeit haben, in der sie ohne Aufsicht sind und tun können, was ihnen eben einfällt: Dem steht die Aufsichtspflicht entgegen.

Es ist zutiefst verlogen, eine Schule machen zu wollen, die - "wenigstens streckenweise" - keine Schule ist. Das will ja auch keiner im Ernst; sie wollen das Ganztagsschulkind; das Kind, das, sobald es die elterliche Wohnung verlässt, nur noch Schüler ist.

28. 7. 2015





Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. 

Reductio ad absurdum.

Doré                                                                       aus Marxiana 

Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die grosse Quelle des Reichthums zu sein, hört [auf] und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maaß zu sein und daher der Tauschwerth [das Maaß] des Gebrauchs- werths. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen / Reich- thums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes

Damit bricht die auf dem Tauschwerth ruhnde Production zusammen, und der unmittelbare materielle Pro- ductionsprocess erhält selbst die Form der Nothdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift. Die freie Ent- wicklung der Individualitäten, und daher nicht das Reduciren der nothwendigen Arbeitszeit um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduction der nothwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht. 

Das Capital ist selbst der processirende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu re- duciren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maaß und Quelle des Reichthums sezt. Es vermindert die Arbeitszeit daher in der Form der nothwendigen, um sie zu vermehren in der Form der über- flüssigen; sezt daher die überflüssige in wachsendem Maaß als Bedingung – question de vie et de mort – für die nothwendige. Nach der einen Seite hin ruft es also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur, wie der gesell- schaftlichen Combination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichthums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit. Nach der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit, und sie einbannen in die Grenzen, die er- heischt sind, um den schon geschaffnen Werth als Werth zu erhalten.

Die Productivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen – beides verschiedne Seiten der Entwicklung des ge- sellschaftlichen Individuums – erscheinen dem Capital nur als Mittel, und sind für es nur Mittel, um von seiner bornirten Grundlage aus zu produciren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen. "Wahrhaft reich [ist] eine Nation, wenn statt 12 Stunden 6 gearbeitet werden. Wealth ist nicht Com- mando von Surplusarbeitszeit (realer Reichthum), sondern disposable time ausser der in der unmittelbaren Pro- duction gebrauchten für jedes Individuum und die ganze Gesellschaft."
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K. Marx, Grundrisse, MEGA II/1.2, S. 581f. [MEW 42, S. 601f.]


Nota. -  Der 'prozessierende Widerspruch' besteht darin, dass die Stoffseite die Formseite gewissermaßen über- wuchert. Es ist der Gebrauchswert des fixen Kapitals, der die Formbestimmung des Kapitals ad absurdum führt: Die Mehrwertrate wächst ins Astronomische, während die Profirate fällt; allerdings auch letzteres nicht der Formel nach, sondern aufgehalten und womöglich ins Gegenteil verkehrt von tausend rein faktischen, d. h. der Gebrauchwertseite zugehörigen Momenten, deren Kontingenz jede begrifflichen Fassung unmöglich macht. Das ist ein 'Gesetz', zu dessen Bestimmung es gehört, dass es womöglich niemals aktuell gelten wird.
JE 14. 8. 15

 

Wer soll dem Vernunftreich denn angehören?

  psychologytoday                
                                                                                                                                  aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Corollaria.

1) Es ist eine bedenkliche Frage an die Philosophie, die sie meines Wissens noch nirgends gelöst hat: Wie kommen wir dazu, auf einige Gegenstände der Sinnenwelt den Begriff der Vernünftigkeit zu übertragen, auf andere nicht; welches ist der charakteristische Unterschied beider Klassen? 


Kant sagt: Handle so, dass die Maxime deines Willens Prinzip einer allgemeinen Gesetzge-bung sein könnte. Aber wer soll denn in das Reich, das durch diese Gesetzgebung regiert wird, mit gehören und Anteil an dem Schutze derselben haben? Ich soll gewisse Wesen so behandeln, dass ich wollen kann, dass sie umgekehrt mich nach der gleichen Maxime be-handeln. Aber ich handle doch alle Tage auf Tiere und leblose Gegenstände, ohne die auf-gegebenen Frage auch nur im Ernste aufzuwerfen. Nun sagt man mir: Es versteht sich, dass von Wesen, die der Vorstellung von Gesetzen fähig sind, die Rede sei; und ich habe zwar statt des einen unbestimmten Begriff einen anderen, aber keineswegs eine Antwort auf meine Frage.

Denn wie weiß ich denn, welches bestimmte Objekt ein vernünftiges Wesen sei; ob etwa nur der Europäer oder auch dem schwarzen Neger, ob nur dem erwachsenen Menschen oder auch dem Kinde der Schutz jener Gesetzgebung zukomme, und ob er nicht etwa auch dem treuen Haus-/tiere zukommen möchte? So lange diese Frage nicht beantwortet ist, hat bei aller seiner Vortrefflichkeit jenes Prinzip keine Anwendbarkeit und Realität.
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J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 80f.
 



Nota. - Er hat auf kritisch-analytische Weise am historisch gegebenen Vernunftsystem das sich-selbst-setzende Ich als dessen Grund aufgewiesen. Aus dieser Prämisse hat er Schritt um Schritt rekonstruiert, wie aus einer bedingt notwendigen Vorstellung bedingt notwendig die folgende Vorstellung hervorgeht. Dabei hat sich an einer Stelle die Notwendigkeit erge-ben, eine Aufforderung zum freien Handeln seitens einer Reihe vernünftiger Wesen anzu-nehmen. Erfahrungstatsachen sind dabei nicht in Erwäguung gekommen.

So ist er schließlich zum Rechtsverhältnis als sachlichem Ergebnis gelangt. Seither ist aber von historisch wirklichen Menschen die Rede. Der 'Rechtsbegriff' ist ein Begriff, den sie haben. Sie haben ihn aus der Erfahrung ihres täglichen Verkehrs mit einander. Die trans-zendentale Deduktion hat ihn gewonnen durch Konstruktion aus der Prämisse vom not-wendig wollenden und sich-selbst-setzenden Ich. Hier treffen sie beide aufeinander und erklären sich gegenseitig: die Reihe vernünftiger Wesen als bürgerliche Gesellschaft und die bürgerliche Gesellschaft als das Reich der Vernunft; die intelligible Welt als Bild der sinn-lichen Welt.

Wobei aus der Erfahrung lediglich die sinnliche Welt bekannt ist; das Erkennen der intelli-giblen Welt in derselben ist erst noch problematisch: Die Erfahrung lehrt nämlich auch, dass um die Geltung des Rechtsbegriffs so wie der anderen Gebote der Vernunft immer erst noch gestritten werden muss! Vernunftsystem ist die bürgerliche Gesellschaft nach ihrer transzendentalen Rekonstruktion und nicht nach der Erfahrung. Nach der Erfahrung ist sie es nur zum Teil. Nach ihrem transzendentalen Begriff soll sie es ganz werden.

*

Es gibt keine Veranlassung, die Zugehörigkeit eines Menschen zur bürgerlichen Gesell-schaft aus seiner körperlichen Organisation herzuleiten. Dazu gehört, wer unmittelbar oder mittelbar am Marktgeschehen teilhat. Diese Teilhabe kommt den Individuen zu, bevor sie auf die Welt kommen. Sie ist zwar erfahrbar, ist aber apriori.

JE, 6. 5. 19