
Das Gefühl für Maß und Verhältnis
Ein Geschenk der Evolution steht am Anfang aller Kunst: der Rhythmus-Sinn. Darin wurzelt unsere Fähigkeit, Mass, Form und Proportion als ästhetische Gestalten sinnlich wahrzunehmen und lustvoll zu erleben. Das Erfahren und Erfinden rhythmischer Formbeziehungen ist ein Urtrieb, zu dessen Befriedigung wir uns in das Abenteuer Kunst stürzen.
von Peter Meyer
Es ist wohl übertrieben zu glauben, wir seien alle Künstler, wie es uns Beuys weismachen wollte, aber et- was scheint an dieser merkwürdigen Behauptung dennoch dran zu sein, wenn auch vielleicht nicht in dem Sinn, wie es Beuys gemeint hatte. Mehr in unserem Leben, als wir denken, hat nämlich mehr mit Kunst zu tun, als wir denken. Mit Kunst, sage ich, nicht mit dem Kunstwerk, das wir oft unbedacht mit Kunst gleich- setzen, obwohl das Kunstwerk doch nur die stoffliche Manifestation eines zugrundeliegenden Prinzips Kunst ist, dessen Vorhandensein und Wirken wir gar nicht einmal wahrnehmen könnten, wenn wir nicht in gewisser Weise dafür prädisponiert wären. Und zwar – das Wort muss heraus – genetisch prädisponiert! Ich weiss nur zu gut, dass viele das für Unsinn halten. Sie behaupten, dass unsere Kunstkompetenz ausschließ- lich eine Sache der Herkunft, des gesellschaftlichen und kulturellen Umfeldes und der darin herrschenden Konventionen sei. Das will ich gar nicht bestreiten, wenigstens nicht, solange es bloss um das Wie der Kunst geht. Wagen wir aber die Frage, weshalb und aus welchem Antrieb wir denn überhaupt etwas wie Kunst betreiben, dann finden wir auf die Frage kaum eine andere Antwort als die, dass wir wohl genetisch dazu ausgestattet, also prädisponiert sein müssen.
Thomas Anshutz, Stahlarbeiter, Mittagspause
Gefallen als Antrieb
Denken
wir zunächst einmal an all die vielen harmlosen Dinge, die wir als
äusserlich zu bezeichnen pflegen, angefangen bei unserem eigenen
Aussehen und dem Erscheinungsbild unseres persönlichen Umfeldes. In
modernen zivilisierten Gesellschaften gehört es zwar zum guten Ton,
solche Dinge mit einer gewissen Nonchalance zu behandeln und ihnen,
mindestens dem Anschein nach, nicht zu viel Bedeutung beizumessen.
Werden wir gefragt, weshalb wir dieses oder jenes tun, was doch nur der
äusseren Erschei- nung dient, so haben wir in der Regel ganz einfache
Antworten zur Hand, die uns plausibel erscheinen und uns kein weiteres
Kopfzerbrechen verursachen. Die Feststellung «Ich mag's halt gerne
schön» erscheint uns meist durchaus befriedigend und keiner weiteren
Erörterung wert. Aber wie kommen wir denn überhaupt dazu, etwas als
schön zu empfinden? Und was kann das heissen?
Die
meisten von uns, auch wenn wir keine Künstler sind, empfinden einen
Blumenstrauss in der Wohnung als eine wohltuende Bereicherung. Was wir
daran mögen, kann die besondere Art der Blumen sein, ihre Formen, ihre
Farben oder ihr Duft. Aber damit nicht genug, wir wünschen uns die
Blumen auch schön und wirkungsvoll eingestellt und arrangiert, nicht
ungeordnet wie ein Besen, aber auch nicht zu gleichmässig ausgerichtet
wie Soldaten. Und die Vase soll in Grösse, Form und Farbe zu den Blumen
passen, und sie soll nicht bloss an einer gut sichtbaren Stelle stehen,
sondern ihr Platz soll so gewählt sein, dass sich ein dem Auge
gefälliges Verhältnis zum Raum und zu seinen Proportionen wie auch zu
den anderen darin befind- lichen Objekten ergibt. Viele hängen etwa auch
Bilder, Fotos und dergleichen in ihren Wohnungen auf. Und sie placieren
diese Dinge nicht nur nach dem Prinzip der guten Sichtbarkeit, sondern
sie scheinen dabei einem unbewussten Konzept zu folgen, das ihnen sagt,
an welche Wand und wo ganz genau das Bild hin- muss, um die beste Wirkung
zu erzielen.
Sind wir doch alle Künstler?
Bei
vielen Dingen und Tätigkeiten des täglichen Lebens achten wir darauf,
dass sie nicht nur funktionieren, sondern dass sie uns auch gefallen.
Wie etwas beschaffen sein muss, damit es uns gefällt, das ist vom
kultu- rellen Umfeld und vom Hintergrund abhängig. Wir lernen es im Lauf
unseres Lebens und passen es immer wieder neuen Gegebenheiten an. Aber
dass wir für diesen Lehr- und Lernprozess überhaupt empfänglich sind,
dass wir uns Kompetenz erwerben können und es für wichtig genug halten,
dem Gefallen, auch wo es über das rein physisch Angenehme hinausgeht,
einen so grossen Raum in unserem Leben zuzugestehen, dafür muss ja eine
Voraussetzung da sein. Worin mag sie bestehen? Ist es reiner Luxus,
bringt es Gewinn, oder sind wir vielleicht doch alle Künstler?
Luís Falero, Fausts Traum
Zunächst einmal äussert sich in solchen Bestrebungen ein Wunsch nach Ordnung. Das Streben nach Ord- nung ist uns angeboren, das heisst in unseren Genen verankert. Ordnungssinn bringt, evolutionär betrachtet, eindeutig einen Überlebensvorteil, denn Ordnung erleichtert uns das Zurechtfinden und den Umgang mit der Verschiedenartigkeit der Dinge. Der Sinn für Ordnung in dieser elementaren Bedeutung, der übrigens keineswegs nur auf das menschliche Verhaltensrepertoire beschränkt ist, ist rein zweckbestimmt.
Zunächst einmal äussert sich in solchen Bestrebungen ein Wunsch nach Ordnung. Das Streben nach Ord- nung ist uns angeboren, das heisst in unseren Genen verankert. Ordnungssinn bringt, evolutionär betrachtet, eindeutig einen Überlebensvorteil, denn Ordnung erleichtert uns das Zurechtfinden und den Umgang mit der Verschiedenartigkeit der Dinge. Der Sinn für Ordnung in dieser elementaren Bedeutung, der übrigens keineswegs nur auf das menschliche Verhaltensrepertoire beschränkt ist, ist rein zweckbestimmt.
Vielerlei «schön»
Aber
wenn wir zum Beispiel Bilder aufhängen, dann scheint es um eine höhere
Art Ordnung zu gehen. Um eine Ordnung, die keinem praktischen Zweck
dient. Auch diese Art Ordnung scheinen wir irgendwie im Blut zu haben.
Sie ist allerdings viel schwerer zu verstehen und zu beschreiben. Ich
habe es bisher bewusst bei Wörtern wie «bildwirksam», «ansprechend» oder
«gefallen» belassen. Aber das klingt alles zunächst einmal ziemlich
unscharf und arbiträr. Etwas, was mir gefällt, braucht andern nicht
notwendig auch zu gefallen. Trotzdem ist das Wort «gefallen»
aussagekräftig, denn es beschreibt eine emotionale Wirkung, ob wir uns
nun über die Art und Qualität des Auslösers dieser Wirkung und darüber,
wie sie erzielt wird, im Klaren sind oder nicht. Immer wieder wird das
Schöne auch mit dem Ästhetischen gleichgesetzt. Das Ästhetische ist aber
etwas anderes. Vereinfacht könnte man vielleicht sagen, dass das
Ästhetische in der besonderen Art des Umgangs mit dem Schönen liegt, und
das heisst natürlich, dass auch das weniger Schöne, möglicherweise auch
das Hässliche in das ästhetische Spiel mit einbezogen werden können.
Das Schöne wird in dieser Betrachtungsweise zum ästhetischen Sonderfall,
der auf einer imaginären ästheti- schen Werteskala zuoberst steht.
Edgar Degas, Vor dem Ballett, 1880-82
Doch ist auch das Hässliche Teil des Ästhetischen, bloss steht es am anderen Ende der Skala. Das Ästheti- sche ist also nicht dadurch charakterisiert, dass es sich an den Bereich des Schönen hält, sondern dass es aus Schön und Hässlich ein interessantes ästhetisches Spannungsfeld erzeugt, das die axiologischen Unter- schiede vergessen macht. Das Ästhetische ist also noch weniger als das reine Schöne etwas selbstgenüg- sam, «einfältig» und spannungslos in sich Ruhendes, sondern ein Kompositum, ein strukturiertes Ganzes, in dem ein formales Beziehungsgeflecht wirksam ist.
Ästhetische Wahrnehmung scheint auf den Menschen beschränkt zu sein. Wir wissen nicht, wann und auf welcher evolutionären Stufe der Menschheitsgeschichte zum ersten Mal so etwas wie ein ästhetischer Sinn auftritt. Aber wir wissen, dass irgendwann Menschen angefangen haben, Gegenstände zu verzieren, nicht zu einem praktischen Zweck, sondern allein aus einem ästhetischen Bedürfnis heraus. Und es ist anzuneh- men, dass Menschen schon viel früher, lange vor den ersten Zeugnissen einer Sachkultur, primitive Formen von Musik und Tanz, wahrscheinlich im Rahmen kultischer Rituale, entwickelt haben.
Edgar Degas, Vor dem Ballett, 1880-82
Doch ist auch das Hässliche Teil des Ästhetischen, bloss steht es am anderen Ende der Skala. Das Ästheti- sche ist also nicht dadurch charakterisiert, dass es sich an den Bereich des Schönen hält, sondern dass es aus Schön und Hässlich ein interessantes ästhetisches Spannungsfeld erzeugt, das die axiologischen Unter- schiede vergessen macht. Das Ästhetische ist also noch weniger als das reine Schöne etwas selbstgenüg- sam, «einfältig» und spannungslos in sich Ruhendes, sondern ein Kompositum, ein strukturiertes Ganzes, in dem ein formales Beziehungsgeflecht wirksam ist.
Ästhetische Wahrnehmung scheint auf den Menschen beschränkt zu sein. Wir wissen nicht, wann und auf welcher evolutionären Stufe der Menschheitsgeschichte zum ersten Mal so etwas wie ein ästhetischer Sinn auftritt. Aber wir wissen, dass irgendwann Menschen angefangen haben, Gegenstände zu verzieren, nicht zu einem praktischen Zweck, sondern allein aus einem ästhetischen Bedürfnis heraus. Und es ist anzuneh- men, dass Menschen schon viel früher, lange vor den ersten Zeugnissen einer Sachkultur, primitive Formen von Musik und Tanz, wahrscheinlich im Rahmen kultischer Rituale, entwickelt haben.
Ästhetische Erfahrung ist also viel mehr als die Empfindung von Schön und Hässlich, sie ist das ganzheit- liche Erlebnis stofflich-formaler Spannung und Harmonie und verdankt sich einer mentalen Disposition, die uns sinnlich wahrgenommene Eindrücke automatisch und unwillkürlich danach abtasten lässt, ob sie sich zu gestalthaften Gebilden zusammenfügen. Der Schöpfer der sogenannten Gestalttheorie, der öster- reichische Philosoph und Psychologe Christian von Ehrenfels, entwickelte seine Theorien am Phänomen der Melodie, die gegenüber den Tönen, aus denen sie besteht, einen Mehrwert besitzt, einen eigenen Cha- rakter, der sie transponierbar macht. Noch überzeugender wird die Sache, wenn man neben der Tonfolge noch einem anderen Faktor Beachtung schenkt, den Ehrenfels nicht erwähnt, der mir aber der wichtigste überhaupt zu sein scheint. Ich meine das Phänomen des Rhythmus. Der Rhythmus ist vielleicht das am stärksten gestaltbildende Element und daher in der Kunst, und zwar in aller Kunst, nicht nur in der Musik, von überragender Bedeutung.
Eine unschätzbare Bereicherung
Nun
wird gern eingewendet, Rhythmus sei keine menschliche Erfindung,
sondern überall vorhanden, im Makrokosmos wie im Mikrokosmos. Aber darum
geht es eigentlich gar nicht, sondern es geht vielmehr um die
Wahrnehmung, das Erlebnis des Rhythmus, mithin um die Tatsache, dass wir
in der Lage sind, rhyth- misches Geschehen oder, allgemeiner, rhythmische
Verhältnisse (denn Rhythmus ist nicht nur ein Zeit-, sondern ebenso
auch ein Raumphänomen) in einem begrenzten (Frequenz-)Bereich mit
unseren Sinnen unmittelbar wahrzunehmen. Was das bedeutet, das kann,
denke ich, in seiner Tragweite gar nicht über- schätzt werden. Denn der
Sinn für das Rhythmische schlechthin ist Grundlage und Voraussetzung für
unsere Fähigkeit, zeit- und raumgliedernde Proportionen als
Bewusstseinsqualitäten zu erfahren. Was hätte es für einen Sinn, den
Goldenen Schnitt zu berechnen und zu konstruieren, wenn wir ihn nicht
sehen, ihn nicht erleben könnten! Was würde uns die Oktave mit ihrem
reinen Schwingungsverhältnis von 1:2 bedeuten, wenn wir sie nicht in
ihrer besonderen Qualität hören könnten? Dieses Erlebenkönnen und
Erlebenwollen rhythmischer, proportionaler Verhältnisse, ist es nicht
vor allen anderen Motivationen die eigentliche Triebfeder aller Kunst?
Ja vielleicht der menschlichen Kultur überhaupt?
Johannes Bosboom, Dom zu Trier
Goethe könnte Ähnliches im Sinne gehabt haben, als er in der «Italienischen Reise» (Eintrag vom 9. April 1787) schrieb, dass es das Gefühl der Wasserwaage und des Perpendikels sei, das uns eigentlich zu Menschen mache. Wohlverstanden: Nicht der Gebrauch dieser Hilfsmittel, sondern das Gefühl(!) für Mass und Verhältnis, die damit gemessen werden, das mache uns zu Menschen, also zu kultur- und kunstfähigen Wesen. Dass wir rhythmische Strukturen in der Natur, in einem Bild, an einer Hausfassade, in einem Gedicht mit unseren Sinnen erfassen und in ihrer je eigenen Gestalt erkennen und erleben, einige unter uns sogar solche Gestalten erschaffen können, das hat uns eine unschätzbare Bereicherung unserer Erlebnisfähigkeit beschert.
Johannes Bosboom, Dom zu Trier
Goethe könnte Ähnliches im Sinne gehabt haben, als er in der «Italienischen Reise» (Eintrag vom 9. April 1787) schrieb, dass es das Gefühl der Wasserwaage und des Perpendikels sei, das uns eigentlich zu Menschen mache. Wohlverstanden: Nicht der Gebrauch dieser Hilfsmittel, sondern das Gefühl(!) für Mass und Verhältnis, die damit gemessen werden, das mache uns zu Menschen, also zu kultur- und kunstfähigen Wesen. Dass wir rhythmische Strukturen in der Natur, in einem Bild, an einer Hausfassade, in einem Gedicht mit unseren Sinnen erfassen und in ihrer je eigenen Gestalt erkennen und erleben, einige unter uns sogar solche Gestalten erschaffen können, das hat uns eine unschätzbare Bereicherung unserer Erlebnisfähigkeit beschert.
Ein grosses «Geschenk»
Wir
scheinen also genetisch prädisponiert für die Wahrnehmung von Mass und
Proportion. Ausgangspunkt und Ursprung dieser Anlage, die man nicht
anders denn als unschätzbares «Geschenk» der Evolution bezeichnen kann,
dürfte also in dem in unseren menschlichen Urahnen erwachenden Gefühl
für rhythmische Bewegung zu finden sein, das sich wohl schnell zum
eigentlichen Rhythmus-Sinn entwickelt hat. Wir wissen darüber nichts,
zugegeben, aber es ist sicher keine bodenlose und schon gar keine
besonders kühne Spekulation, wenn wir annehmen, dass schon lange vor den
Zeiten, aus denen die ersten Zeugnisse primitiver menschlicher
Kulturformen stammen, sich Menschen zu kultischen motivierten Tänzen
vereint und dabei gemeinsam die Macht des Rhythmischen erlebt haben
könnten.
Gerhard Richter, 4 Panes of Glass 1967.

Gerhard Richter, 4 Panes of Glass 1967.
Dass sich dieser Sinn für, diese Lust auf das Rhythmische im
Laufe der menschlichen Stammesgeschichte nicht wieder verloren hat,
weist darauf hin, dass es sich dabei um mehr als eine zwar bereichernde,
aber für das praktische Leben letztlich nutzlose Erweiterung des
Erfahrungshorizontes ins rein Spielerische handeln muss und dass sich
hinter dieser Fähigkeit möglicherweise ein Überlebensvorteil verbirgt.
Denn die Macht des Rhythmischen wirkt besonders stark, wenn sie in einer
Gemeinschaft erlebt und praktiziert wird. Sie kann in einer Gruppe ein
unwiderstehliches Gemeinschaftsgefühl hervorrufen.
Der
Rhythmus-Sinn wurzelt im Triebhaft-Animalischen und eröffnet
gleichzeitig die Welt des Abstrakt-Formalen als neuen
Erfahrungshorizont. Damit wird er, so meine ich, zum Movens allen
künstlerischen Tuns. Soll man es erstaunlich finden oder vielmehr als
logisch erachten, dass das einem Phänomen gelingt, das eigentlich nichts
anderes als eine Formbeziehung ist – eine reine Beziehungsgrösse, die
auf dem Verhältnis zwischen einer gleichförmigen, markierten oder auch
nur gefühlten Zeit- oder Raumeinteilung (Takt) und zusätzlichen, das
Grundmass spannungsvoll überlagernden, meist stärker und lebendiger
gegliederten Zeit- oder Raumstrukturen beruht? Die dynamische Kraft, die
daraus in unserem Bewusstsein entsteht, ist zugleich animalisch und
abstrakt-formal. Beides liegt viel näher beisammen, als man gemeinhin
denkt, und die Verbindung beider Bereiche scheint mir die Grundbedingung
für das Entstehen aller Kunst zu sein.
J. M. W. Turner, Tintern Abbey, 1820
J. M. W. Turner, Tintern Abbey, 1820
Drang zur Form
Kunstwerke
formalisieren und abstrahieren die Erfahrung der Lebensrealität. Sie
schaffen rhythmisch strukturierte Beziehungsgeflechte und ästhetische
Spannungsfelder von je eigener Gestaltqualität. Natürlich macht das
allein noch keine Kunst aus, wirkliche Kunstwerke müssen mehr sein als
das. Es kommt die ganze Assoziations- und Bedeutungsebene hinzu. Das
Rhythmisch-Ästhetische aber, in welchem sich das Animalisch-Triebhafte
mit dem Abstrakt-Formalen vor jeglicher Erkenntnis verbindet, ist
treibende Kraft, Nährboden und Lebensnerv der Kunst, von Anfang an.
Ähnliches dürfte übrigens auch für jegliche Religionsausübung gelten,
die aus dem Bedürfnis nach Kult und Ritual gewachsen sein muss und nicht
umgekehrt. So sollte man sich vielleicht von der Vorstellung trennen,
Kunst sei im Grunde nichts als eine «luxuriösere» Art von
Inhaltsvermittlung, die Form hingegen etwas Verstandesmässiges, hoch
Künstliches, das sich erst auf einer höheren kulturellen Stufe des
Stoffs bemächtige. Das Primitive, Animalisch-Vitale in uns drängt ohne
den Umweg über das Denken zur Form, zur Abstraktion. Und weil wir so
sind, deshalb machen wir Kunst.
Dr. Peter Meyer ist Kulturhistoriker und Publizist in Zollikofen
Jacques-Louis David, Marats Tod.
Nota I. - Ich bin ja auf der Suche nach dem Ursprung des spezifisch-Ästhetischen, weil es wohl das ist, was uns Menschen von den Tieren spezifisch unterscheidet. Aus heiterm Himmel wird es kaum gefallen sein, denn dafür hat es in unserer Gattungsgeschichte viel zu lange gedauert, bis es sich zu identifizierbarer Ge- stalt herausgearbeitet hat. Es ist nicht "emergiert", sondern wird sich wohl auf älteren Grundlagen gebildet, aus älterem Material aus gebildet haben. Ich sage es, wie ich es meine: Es ist mit dem "Geist", der seiner- seits als Kompensation für die verlorenen Selbstverständlichkeiten unserer früheren Umweltnische aufge- treten ist, selber entstanden - als der 'Teil', der sich zu nichts Nützlichem gebrauchen ließ; und erst wieder zu den verdienten Würden kam, als der eingetretene materielle Überfluss das Menschenleben aus der selbstverschuldeten Knechtschaft von Nutz und Brauch freigesetzt hat.
Und dass es dem Autor gelungen ist, von der unnützen Seite des Geistes auf das "animalisch Triebhafte" zurückzukommen, lässt keine evolutionistischen Wünsche offen.
16. 10. 2013
Nota II. - Da ließe sich noch viel zu sagen. Es sollte aber nicht das Wichtigste überdecken: dass sich unser ästhetisches Vermögen stammesgeschichlich aus der Wahrnehmung des Rhythmischen in all seinen Aus- prägungen entwickelt habe. Den Gedanken sollte man fortentwickeln. Für heute nur noch dies: "Alle Künstler" sind wir ganz sicher nicht. Doch uns dem ästhetischen Zustand zu ergeben sind wir wohl alle vermögend, wenn auch dieser mehr, jener weniger. Nur muss man es wollen.
JE
Jacques-Louis David, Marats Tod.
Nota I. - Ich bin ja auf der Suche nach dem Ursprung des spezifisch-Ästhetischen, weil es wohl das ist, was uns Menschen von den Tieren spezifisch unterscheidet. Aus heiterm Himmel wird es kaum gefallen sein, denn dafür hat es in unserer Gattungsgeschichte viel zu lange gedauert, bis es sich zu identifizierbarer Ge- stalt herausgearbeitet hat. Es ist nicht "emergiert", sondern wird sich wohl auf älteren Grundlagen gebildet, aus älterem Material aus gebildet haben. Ich sage es, wie ich es meine: Es ist mit dem "Geist", der seiner- seits als Kompensation für die verlorenen Selbstverständlichkeiten unserer früheren Umweltnische aufge- treten ist, selber entstanden - als der 'Teil', der sich zu nichts Nützlichem gebrauchen ließ; und erst wieder zu den verdienten Würden kam, als der eingetretene materielle Überfluss das Menschenleben aus der selbstverschuldeten Knechtschaft von Nutz und Brauch freigesetzt hat.
Und dass es dem Autor gelungen ist, von der unnützen Seite des Geistes auf das "animalisch Triebhafte" zurückzukommen, lässt keine evolutionistischen Wünsche offen.
16. 10. 2013
Nota II. - Da ließe sich noch viel zu sagen. Es sollte aber nicht das Wichtigste überdecken: dass sich unser ästhetisches Vermögen stammesgeschichlich aus der Wahrnehmung des Rhythmischen in all seinen Aus- prägungen entwickelt habe. Den Gedanken sollte man fortentwickeln. Für heute nur noch dies: "Alle Künstler" sind wir ganz sicher nicht. Doch uns dem ästhetischen Zustand zu ergeben sind wir wohl alle vermögend, wenn auch dieser mehr, jener weniger. Nur muss man es wollen.
JE