
aus spektrum.de, 19.02.2020 zu Jochen Ebmeiers Realien
Verarbeitet das Gehirn 95 Prozent aller Informationen unbewusst?
Der menschliche Geist arbeitet großteils unbewusst, aber wieso sollen es genau 95 Prozent aller Informationen sein, die unserem Bewusstsein verborgen bleiben?
von Andrea Kiesel
Während Sie diesen Artikel lesen, gleitet Ihr Blick von links nach rechts über die Zeilen, ohne dass Sie sich dessen bewusst sind. Sie nehmen es erst wahr, wenn Sie darauf achten. Dasselbe gilt für körperliche Empfindungen. Vermutlich sitzen Sie gerade. Dabei spüren Sie den Druck der Stuhlfläche erst dann, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken. Diese Beispiele veranschaulichen, dass viele Informationen, die dem Gehirn zur Verfügung stehen, uns nicht bewusst werden. Und das ist auch gut so: Würden permanent sämtliche Eindrücke ungefiltert auf uns einprasseln, wären wir heillos überfordert.
Die Rezeptorzellen unserer Sinnesorgane verwandeln fortlaufend Reize in Nervensignale. Zum einen können wir so Informationen aus der Umwelt aufnehmen. Wir sehen, hören, fühlen, riechen, schmecken, und wir spüren, ob es zum Beispiel warm oder kalt ist. Zum anderen erhält das Gehirn ständig Updates über den Zustand des Körpers – etwa bezogen auf das Gleichgewicht, die Stellung der Extremitäten, aber auch Hunger oder Schmerz.
Durch die Medien geistern bisweilen beeindruckende Zahlen dazu, wie viel davon unser Denkorgan uns tatsächlich vorenthält. Mal sollen es 90 Prozent sein, mal 95, mitunter gar 99,9 Prozent. Um jedoch quantitativ abzuschätzen, wie viele Informationen unbewusst bleiben oder im Gegenteil bewusst verarbeitet werden, bräuchten wir eine klare Definition von »Information«. Neben all dem Input aus der Umwelt und dem eigenen Körper, der dem Gehirn zur Verfügung steht, verfügt es etwa noch über riesige Mengen gespeicherter Information. Unterschiedliche Gedächtnissysteme speichern neben unserem Wissen über die Welt und Erinnerungen an wichtige Ereignisse auch motorische Fertigkeiten wie Radfahren sowie konditionierte Reaktionen, die wir im Lauf unseres Lebens erlernt haben.
Hier ist vollkommen unklar, was eine Information ausmacht. Ist die Erinnerung an eine Episode, etwa an die eigene Führerscheinprüfung, eine Informationseinheit, oder aber besteht diese Episode aus vielen Elementen, zum Beispiel dem Namen des Prüfers, der Farbe des Autos oder einzelne Kreuzungen, die Sie befahren haben?
Selbst die Tatsache, dass Informationen im Gehirn durch neuronale Aktivität repräsentiert sind, bringt uns hier nicht weiter. Das Feuern einer einzelnen Nervenzelle als eine Information zu definieren, ist zu weit reichend, denn Nervenzellen feuern auch spontan, ohne dass dies unmittelbar der Weiterleitung von Informationen dient. Damit bleibt die Frage: Welche Rate an neuronaler Aktivität in welchen Neuronenverbänden und mit welcher Frequenz der Aktivierung repräsentiert eine Information?
Obwohl also eine exakte prozentuale Angabe nicht berechenbar ist, kann man getrost davon sprechen, dass ein Großteil der verarbeiteten Daten dem Bewusstsein verschlossen bleibt. Unser Erleben ist schließlich zu jedem Zeitpunkt auf eine Gegebenheit beschränkt. Da unsere Aufmerksamkeit jedoch ständig zwischen verschiedenen Dingen hin und her springt, ist es schwierig zu erfassen, wann etwas überhaupt bewusst verarbeitet wird und wann nicht. Entsprechend beschäftigt sich die psychologische Forschung auch kaum mit der Frage, wie viel unbewusst verarbeitete Information es gibt. Stattdessen untersucht man, ob und wie sich unbewusste und bewusste Informationsverarbeitung voneinander unterscheiden lässt.
In Experimenten zum so genannten Priming zeigt man den Teilnehmern einen sichtbaren Zielreiz, der eine bestimmte Reaktion provozieren soll. Zuvor fügt man jedoch einen weiteren Reiz ein, den so genannten Prime, der entweder dieselbe oder eine andere Bedeutung als der Zielreiz hat. Diesen bekommt der Proband aber nur sehr kurz zu sehen, so dass er ihn nicht bewusst wahrnimmt. Viele derartige Studien haben ergeben, dass unbewusste Reize genau wie bewusste Reize automatische Reaktionen auslösen, Entscheidungen beeinflussen und auf kognitive Kontrollprozesse einwirken. Unser Verhalten steuern sie jedoch weniger stark und anhaltend als solche Informationen, die ins Bewusstsein vordringen.
Nota. - Unlängst habe ich die Verwirrung beanstandet, die der Informations-Begriff in der öffentlichen Dis- kussion anrichtet. In jedem Fach wird er in anderm Sinn verwendet. Wenn ich zum Beispiel einen Fußball in Richtung Tor schieße, gebe ich ihm eine "Information": Das hat einen Sinn, aber nur einen ganz dürftigen, oder richtiger, nur in ganz spezischem fachlichen Zusammenhang.
Oben ist aber von Psychologie die Rede. Aus einem Grund, den sie nicht nennt, will die Autorin von Infor- mation nur reden, wenn eine solche weitergeleitet wird; nicht aber, wenn sponran erzeugt. Wen ein Neuron von sich aus 'feuert', erteilt es den Neuronen, zu denen es Verbindung ht, eine Information, was sonst; und in vermittelter Weise dem gesamten Organismus. Sie bringt zugleich Aufmerksamkeit und Absicht ins Spiel, die eine Information 'verstärken' und dauerhafter machen, sozusagen Information von höherem spezifischen Gewicht. Gemeint ist anscheinend die Dynamik, die 'in der Information steckt': ihre Fähigkeit, einen Emp- fänger weiter hinten in der Kette zu einer Reaktion zu veranlassen.
Letzteres scheint das zu sein, worauf es auf jeden Fall ankommt: nicht, was die Information 'selber ist', son- dern in welchem Maß sie wirkt. Doch dann geht das Rätseln weiter: Wirkt wie eine Queue auf die Billardku- gel, oder wirkt wie ein vernünftiges Argument auf einen freien Willen?
Es wird ihr nichts anderes übrigbleiben - die Autorin wird früher oder später den freien Willen als differentia specifica einführen müssen, wenn sie von Information mal in diesem, mal in jenem Sinn reden will. Da ha- ben Aufmerksamkeit und Absicht einen Sinn. Aber für Stärke und Dauerhaftigkeit können sie in der Physik nicht verantwwortlich gemacht werden. - Kurz und gut, ich vermute, wir sind gut beraten, wenn wir auf das Wort immer dann verzichten, wenn es nicht eindeutig und wenn es nicht unersetzlich ist; also meistens.
JE
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