Luis Trenker zuJochen Ebmeiers Realien
aus Die Presse, Wien, 08.09.2020
„Die Berge machen die Menschen wild“, heißt es in den „Misérables“ von Victor Hugo. Ob in großer Literatur oder Groschenroman: Bergbewohner werden als rau, stur und verschlossen dargestellt. Alles nur Klischee? Oder längst überholt, weil früher abgelegene Gebiete heute mit breiten Straßen und Glasfaserkabel erschlossen sind und ihre Bewohner vom Fremdenverkehr leben, statt auf steilen Hängen die Sense zu schwingen?
Psychologen der Universität Cambridge, unterstützt unter anderem von ihrem Kollegen Stefan Stieger von der Karl Landsteiner Privatuni in Krems, haben sich des heiklen Themas für die USA angenommen (Nature Human Behaviour, 7. 9.). Ihr Algorithmus nutzt Persönlichkeitstests, die 3,3 Millionen Amerikaner online ausgefüllt haben, und vergleicht die Ergebnisse mit den topografischen Gegebenheiten von Heimat- und Wohnort. Der Test ermöglicht die bewährte Klassifizierung nach fünf Charakterzügen, die zusammen die Persönlichkeit eines Menschen beschreiben.
Grob lässt sich sagen: Die Klischees haben sich bestätigt. Bergbewohner zeichnen sich tendenziell durch ein etwas weniger „angenehmes Wesen“ aus, sind nicht so vertrauensvoll, versöhnlich und freundlich wie Leute in der Ebene (wer unter harten Bedingungen überleben musste, war besser misstrauisch und hütete Hab und Gut). Sie sind introvertierter (weil sie früher in einsamer Gegend auf sich selbst angewiesen waren) und Individualisten, die ihre Freiheit lieben, gern rebellieren und sich vom Staat nicht leicht etwas vorschreiben lassen.
Diese drei Merkmalsgruppen lassen sich in jeder US-Gebirgsregion nachweisen. Bei den zwei übrigen gibt es hingegen signifikante Unterschiede zwischen Ost und West. Nur in der alten Grenzregion der Rocky Mountains finden sich starke Spuren der Wildwest-Mentalität: Großes Durchsetzungsvermögen und emotionale Stabilität (in der Sprache der Psychologen: geringer Neurotizimus) paaren sich mit Offenheit für neue Erfahrungen und Mobilität, die Siedler und Glücksritter mitbringen mussten.
Bei den Bewohnern der Appalachen im Osten ist diese Offenheit weit weniger stark ausgeprägt. Und sie sind emotional eher instabil, möglicherweise bedingt durch die chronische Wachsamkeit, die sie über Jahrhunderte zum Überleben brauchten. In Summe dürften die Ergebnisse bei ihnen tatsächlich etwas mit Seehöhe und schroffen Hängen zu tun haben – und mögen damit in unseren alpinen Regionen zum Teil replizierbar sein.
Der Unterschied zwischen Berg und Ebene sei „robust, aber klein“, und nur einer von Hunderten Aspekten, die auf komplexe Weise Persönlichkeiten formen. Dennoch könne er, wenn Hunderttausende Menschen ihn über Jahrhunderte tendenziell teilen, ganze Regionen prägen – was sich dann etwa in Wahlergebnissen oder der Wirtschaftskraft zeigt.
aus derStandard.at, 12. September 2020
Gebirgs-Psychologie
Echo des Wildwest-Pioniergeistes hält sich in einst ungezähmten "Frontier-Gebieten"
Forscher suchten in den USA nach Zusammenhängen zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und vorherrschenden Landschaftsformen

Bergbewohner gelten mitunter als komische Käuze. Forscher haben sich den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Landschaftsform genauer angesehen.
Krems – Die Bergbewohner seien seltsame Leute, heißt es unter den Flachländern. Bergfexe, "Almöhis" und kauzige Kraxler – der bergländische Sonderling ist eine wiederkehrende Figur vor allem in der Populärkultur und mag durchaus auf realen Erfahrungen fußen. In der Forschung stellt man sich die Frage, wie dieser Zusammenhang zustande kommmt: Zieht die anspruchsvolle Topografie eher solche Charaktere an oder formen die schroffen Berglandschaften ihre Bewohner in entsprechender Weise? Eine Studie in den USA fand nun Antworten – und den Nachhall des Wildwest-Pioniergeists in der Persönlichkeit der Bergbewohner.
In bergigen Regionen erfolgreich seinen Lebensunterhalt zu bestreiten war vor allem historisch gesehen durchaus fordernder als im Flachland. Das prägt mitunter die dort lebenden Menschen. Schon bei der oft historisch späteren Besiedlung von gebirgigen Gegenden sind Menschen mit anderen Persönlichkeitsstrukturen im Vorteil, das könnte sich dann wiederum langfristig im Mindset der dortigen Bevölkerung niederschlagen, so ein theoretischer Ansatz. Eine andere Idee beruht darauf, dass hügelig-bergige Umgebungen selbst den mitunter schrofferen regionalen Charakter ein Stück weit mitformen.
Auf der Suche nach den Sonderlingen
Ein internationales Forscherteam um den Psychologen Friedrich Götz von der Cambridge University (Großbritannien) hat sich im Rahmen einer im Fachmagazin "Nature Human Behaviour" erschienen Studie in einem riesigen Datensatz aus den USA auf die Suche nach Hinweisen dazu gemacht. Neben Kollegen aus den Vereinigten Staaten selbst, sowie aus Australien war auch Stefan Stieger vom Department Psychologie und Psychodynamik der Karl Landsteiner Privatuniversität (KL) Krems mit an Bord.
Die Wissenschafter setzten Daten von über 3,3 Millionen US-Amerikanern, die online einen Persönlichkeitsfragebogen ausgefüllt hatten, in Bezug zur vorherrschenden Landschaftsform ihres Wohn- und Geburtsortes. Die 37.227 verschiedenen Ortschaften wurden hinsichtlich ihrer "Gebirgigkeit" eingestuft. Die Studienteilnehmer wiederum wurden hinsichtlich der jeweiligen Ausprägung der fünf großen Persönlichkeitsfaktoren, den sogenannten "Big Five", eingereiht. Dahinter verbergen sich die Merkmale "Offenheit für Erfahrungen", "Gewissenhaftigkeit", "Extraversion", "Verträglichkeit" und "Neurotizismus" oder emotionale Labilität.
Introvertierter und weniger gewissenhaft
Zuerst suchten die Wissenschafter nach Unterschieden in der Ausprägung der "Big Five" unter Berücksichtigung der Topografie. Dabei erschienen Menschen aus den Bergen ein Stück weit weniger verträglich, etwas introvertiert und weniger gewissenhaft als der durchschnittliche Flachländer. Im Vergleich zu letzteren präsentierten sie sich allerdings auch als emotional stabiler und offener für Erfahrungen. All diese Effekte waren den Forschern zufolge sehr gering ausgeprägt, aber stabil zu finden.
Eine etwas stärkere Pioniergeist-Mentalität legen US-Bergbewohner im Durchschnitt also auch noch heute an den Tag, schließen die Forscher. Das war auch noch nachzuweisen, wenn Menschen im Laufe ihres Lebens aus solchen Regionen wegzogen: Sie zeigen demnach auch an einem anderen Wohnort etwas weniger Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Extraversion.
Eine weitere Annäherung daran, woran dies liegen könnte, erlaubte dem Team die Geographie und Besiedlungsgeschichte der Vereinigten Staaten: Denn diese durchziehen bekanntlich im Osten die Appalachen und im Westen die Rocky Mountains jeweils von Nord nach Süd.
Wildnis zieht eher spezielle Persönlichkeiten an
"Doch aufgrund der speziellen und späten (modernen) Besiedlungsgeschichte der USA zog nur der Westen als raues, ungezähmtes 'Frontier-Gebiet' Menschen an, die spezielle Persönlichkeitsmerkmale aufwiesen", so Stieger: "Wären es die Berge, die die Persönlichkeiten prägen, so sollte es keine Unterschiede dieser Prägung zwischen Osten und Westen geben – wenn aber das soziokulturelle Umfeld einen Einfluss hat, dann schon."
Tatsächlich sprachen die Daten dafür, dass die Bewohner der östlichen Bergregionen etwas verträglicher und kontaktfreudiger sind als die Bergbewohner im einstigen Wilden Westen. Dass letztere etwas besser in das tradierte Bild der Pioniermentalität passen, illustriert auch, dass sie im Schnitt deutlich höhere Werte in Bezug auf ihre Abenteuerlust aufwiesen. Auch wenn diese Unterschiede insgesamt gering seien, könnten sie über die gesamte regionale Bevölkerung gesehen Einfluss auf politische, wirtschaftliche oder gesundheitliche Faktoren haben, so die Forscher. (red, APA, 12.9.2020)
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