Dass das, was ist, ist,
haben wir nicht selbstgemacht. Es ist schlechterdings da, wieso und
wozu kann uns vor der Hand gleichgültig sein. Denn das, was es ist,
haben wir allerdings selber bestimmt und bestimmen es unentwegt neu:
was es für uns sein soll, was man daraus machen kann, als was es uns gilt. Das ist ein praktische Frage.
Einem isolierten Individuum hat sie sich in der Geschichte nie gestellt. Defoes Robinson hatte den Zweckbegriff
aus der Zivilisation mitgebracht, und wenn er gelegentlich einem Ding,
das er noch nicht kannte, einen neuen Zweck anerfunden hat, so hatte er
die Idee, Dinge an ihren Zwecken zu erkennen, doch nicht selber erfinden
müssen.
Die Menschen und ihre Vorläufer in der Gattungsgeschichte konnten nicht
leben, ohne zu-sammenzuleben. Dinge fanden sie nicht als Einzelne vor,
sondern gemeinsam. Die Frage nach ihren Zwecken stellte sich nicht jedem
allein, sondern allen zusammen. Oder auch: Als geltend bewährt haben
sich diejenigen Zwecke, die sie teilten, die andern gingen wieder
ver-loren. So entstanden Begriffe von den Dingen.
Richtig ist wohl, dass die Zwecke, die unsere Vorläufer erfanden, sich
hauptsächlich aufs nackte Überleben bezogen haben dürften - auf ihren
Erhaltungswert für die Individuen in ihren Lebensgesgemeinschaften.
Materielle Zwecke teilen sich regelmäßiger mit, ideelle Zwecke bleiben
länger individuell. Aber das ist ein gradueller Unterschied, der mit der
Hö-he der Kultur abnimmt; im Prinzip ist ein Zweck ein Zweck.
Historisch ist es zwar eine bedeutsame Frage, wie
immaterielle und daher fernerliegende Zwecke für Homo sapiens eine so
viel mächtigere Kraft gewinnen konnten als in allen andern Gattungen.
Aber dass es so ist, ist ein Faktum, das aller Anthropologie
richtung-weisend zugrundeliegt. Denn umstritten sind die Zwecke nur, wenn
und weil sie geteilt werden sollen.
Es ist diese historische Gegebenheit, die wir seit gut drei Jahrhunderten als Vernunft be-zeichnen. Sie aktualisiert sich alltäglich im Streit.
30. 8. 17
Auch dies ist nicht
transzendental und im Konjunktiv gesprochen, sondern realistisch im
Indikativ. Dass die Vernunft in der Welt ist, dass alle Vernünftigen
darin übereinkommen, dass sie allenthalben zu gelten hat und dass die
Vernünftigen den Meinungskampf überall da beherrschen, wo er öffentlich
stattfindet, ist das Faktum, von dem die Transzendentalphi-losophie
ausgeht. Nicht nur ausgeht: ist das Faktum, das sie verstehen will; das Faktum, auf das sie hinausläuft.
Das wirkliche Aufkommen der Vernunft im Laufe der Geschichte kann wohl mit den In-strumenten der
Vernunft - Begriff und logische Schlussregeln - beschrieben werden. Aber da sie sich selber voraussetzen, können sie nicht sichtbar machen, was an dem beschrie-benen Geschehen das Vernüftige gewesen sein soll: Es ist ein Petitio principii, durch die nichts ver-ständlicher wird.
Verstehen, 'wie die
Vernunft zur Welt gekommen ist', will der Transzendentalphilosoph ja, um
einen Maßstab zu finden, nach dem er beurteilen kann, ob dieses oder jenes vernünftig ist. Er will nicht aus Neugier entdecken, wo die Vernunft herkam, sondern er will wissen, wie sie begründet ist. Dass sie begründet ist, muss er aus heuristischen Gründen vorausset-zen, sonst hätte er ja nichts, wonach er suchen kann. So wird er von der Vernunft ein Mo-dell entwerfen. Mit dem ist es wie mit allen Modellen: Sie bestehen, wenn sie in Bewegung die Leistungen erbringen, die von ihnen erwartet werden. Vorausgesetzt ist die Leistung, aufge-sucht werden die Bedingungen, unter denen sie möglich ist. Leistet das Modell, was es soll, so wird es selber Kriterium der Vernünftigkeit: Was nicht ins Modell passt, ist aus dem Verkehr vernünftiger Wesen auszuscheiden.
Die Transzendentalphilosophie ist Vernunftkritik. Hat
sie ihre Arbeit besorgt, kann sie sich der wirklichen Geschichte
davon zuwenden, wie die Vernunft nach und nach die Köpfe von immer mehr
Menschen erfasst hat, und kann beurteilen, ob ihr Anspruch auf
Weltherr-schaft realistisch ist. Dieser zweite Arbeitsgang heißt Anthropologie.
6. 6. 18
Aktualisieren und Fortschreiben der Vernunftkritik ist nicht nur möglich, sondern dringend geboten. Die gegenwärtige Philosophie ist festgefahren in dem unfruchbaren und ausweglo-sen Gegensatz zwischen der sprachanalytisch-'systematischen' Partei und den historisieren-den 'Kontinentalen'. Den Gegensatz überwinden, indem sie ihn gegenstandslos werden lässt, kann allein die Transzendentalphilosophie.
Sie will nicht nur
Begriffe bestimmen, sondern das Bestimmen selber durchsichtig machen. Da
hat sie noch einiges zu erledigen und Philosophen mit dem historischem
Blick sind reichlich bedient. Sie will aber zu ihrer eigenen Bestimmung gelangen: der Begründung einer kritischen Anthropologie. Da haben die mit dem systematischen Verlangen zu tun bis ans Ende ihrer Tage.
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