zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Habe ich den Wald vor Bäumen nicht gesehen? Ist es trivialer, als ich dachte? Wollte er mit der Einführung der Begierde
nur dem Umstand Rechnung tragen, dass das 'endliche' Ver-nunftwesen eben
nicht nur vernünftig ist, sondern auch leidenschaftlich? Dass es
Neigun-gen, Vorlieben und Begehrlichkeiten kennt, von denen die Vernunft
nichts weiß? Kurz, dass die Vernünftigkeit der Menschen nicht nur
endlich, sondern sogar begrenzt ist, dass sie zu Unserer Welt gehört und in der Meinen schlicht und einfach nichts zu sagen weiß?
In ästhetischen Angelegenheiten wie
in allen Geschmacksdingen ist für Vernunfturteile kein Platz. So auch
nicht in moralischen, denn Moralität ist nichts als "sittlicher
Geschmack", wie Herbart* treffend formulierte. (Und übrigens auch nicht
in erotischen). Ein Feld der Ver-nunft ist allerdings das Recht, und auch
die Gerechtigkeit ist nicht bloß Privatsache...
Die scheinbar harmlose Rede von den
'endlichen' Vernunftwesen ist aber tückisch. Es ist richtig, dass es
keinen logisch hinreichenden Grund gibt, ein un endliches Vernunftwesen für un möglich
zu halten. Es reicht aber, wenn das einmal gesagt wird. Die ständige
Wiederho-lung lässt indes die Nichtunmöglichkeit wie eine Wahr-
scheinlichkeit oder gar eine Denk-notwendigkeit erscheinen. Und da mag
man heimlich im Hinterkopf mit der Idee einer un-endlichen Vernunft
spielen. Nicht "frag dich, was würde Jesus tun", sondern frag dich, wie
würde eine unendliche Vernunft an deiner Stelle urteilen? Und plötzlich
hat die Vernunft (im Hinterkopf) keine Grenze mehr: Was ich - ohne den
Richtspruch der Vernunft einzu-holen - darf, erscheint nun als das, was
sie lediglich (noch?) nicht verboten hat.
- Das sind nun Mutmaßungen, die am
Buchstaben des Textes nicht nachzuweisen sind. Aber aus der Luft
gegriffen sind sie nicht. Tatsächlich geht Fichte von der Allzuständigkeit der Vernunft aus, oder richtiger: geht auf sie aus. Dass aus dem Totalitarismus des Vernunft-zwecks durch eine Art logischer Rückkoppelung ein Totalitarismus des Vernunftgrundes wird, liegt nahe. Es wäre eine dogmatische Wendung des Transzendentalphilosophen, doch die sollte Fichte schon kurze Zeit nach Abschluss der Wissenschaftslehre nova methodo ausdrück-lich vollziehen.
*
Von einer unendlichen Vernunft kann
ein endlich Vernünftiger nichts wissen - und folglich nicht vernünftig
darüber nachdenken. Die 'endliche' Vernunft ist jedenfalls eine
begrenzte, nämlich in ihrer Zuständigkeit. Ihr Reich ist Unsere Welt,
und Unsere Welt ist das Reich der Vernunft. Das Reich der Geschmäcker
ist ihr nicht zugänglich.
Das heißt nun nicht, dass Unsere
Welt ein Reich des größten Nutzens für die größte Zahl wäre. Wenn wir
zwar einander nicht auf das Schöne und das Gute verpflichtet sind, so
doch auf das Wahre. Dieses ist zwar selber eine Geschmackssache. Aber die darf ich jedem zumu-ten, der mit mir in einer Welt leben will: Sie hält mir beide Welten zusammen.
*
Die Unterscheidung von unserer und meiner Welt gehört zur Transzendentalphilosophie, als ihre Grenze.
*) in Allgemeine praktische Philosophie (1808) in: SW Bd. 8, Hamburg 1890, S. 29
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
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