
aus spektrum.de, 18.08.2021 zu Jochen Ebmeiers Realien
Methodenkritik
Was psychologische Studien wirklich aussagen
Die
Effekte in psychologischen Studien sind oft so schwach ausgeprägt, dass
sie sich nur schwer auf den Einzelnen übertragen lassen. Den Alltag
können sie dennoch beeinflussen
von Christian Wolf
Wer mehr Geld hat, ist glücklicher. Intelligentere Menschen bringen es in Schule und Beruf weiter. Extravertierte Personen ziehen häufiger um.
In psychologischen Studien stoßen Forscherinnen und Forscher immer
wieder auf Zusammenhänge, die das Leben aller zu betreffen scheinen.
Doch was solche Ergebnisse wirklich über den Einzelnen aussagen, ist auf
den ersten Blick oft gar nicht so leicht zu erfassen.
Nehmen wir
zum Beispiel das Thema Geld und Glück. Zahlreichen Untersuchungen
zufolge sind Menschen mit einem hohen Einkommen im Durchschnitt
tatsächlich zufriedener als Altersgenossen mit einem weniger dicken
Gehaltsscheck. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind hierbei –
meist in großen Datensätzen von tausenden Probanden – auf eine positive
Wechselbeziehung oder Korrelation zwischen den beiden Variablen
gestoßen: Nimmt die eine zu, stiegt in einem gewissen Maß auch die
andere. Stellen wir uns nun vor, es gäbe drei gleich große Gruppen:
Menschen mit niedrigem, mittlerem und hohem Einkommen. Picken wir uns
eine Person aus der Gruppe mit hohem Einkommen heraus. Was würde man
erwarten? Wahrscheinlich, dass die betreffende Person ebenfalls mit
Glück gesegnet ist. In fast drei von fünf Fällen läge man mit dieser
Einschätzung allerdings falsch, erklärt Rene Mottus von der University
of Edinburgh.
Der Psychologe hat das Beispiel in einem Blogbeitrag gewählt,
um zu illustrieren, wie problematisch es ist, die Ergebnisse von großen
statistischen Analysen auf den Einzelnen herunterzubrechen. Denn ein
Zusammenhang kann nicht einfach nur vorliegen oder eben nicht – er kann
auch unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Auch dafür kann man in
statistischen Analysen einen Wert ermitteln: die Effektstärke. Für die
Wechselbeziehung zwischen Einkommen und Zufriedenheit liegt die Effektstärke in Studien bei ungefähr 0,2,
was einem kleinen bis mittleren Effekt entspricht. Veränderungen einer
Variablen können dabei gerade einmal rund vier Prozent der Unterschiede
bei der anderen Variablen erklären. Um auch nur in der Hälfte aller
Fälle einen Menschen mit hohem Einkommen zu erwischen, der tatsächlich
besonders zufrieden mit seinem Leben ist, müsste der Zusammenhang
zwischen Einkommen und Glück mindestens doppelt so stark sein, wie er
tatsächlich ist, schreibt Mottus. Zuverlässig vom Einkommen auf die
Zufriedenheit – und umgekehrt! – kann man also höchstens bei einem
abstrakten Durchschnittsmenschen schließen. Bei echten Individuen ist
das eher nicht der Fall. Das könnte Sie auch interessieren: Spektrum Kompakt: Sieh mich an – Was unser Gesicht verrät
Zwar stoßen Psychologinnen und Psychologen auch immer wieder auf robuste Zusammen-hänge. So liegt die Effektstärke für den Zusammenhang zwischen dem Abschneiden in Intelligenztests und dem schulischen Erfolg etwa bei 0,5, was einem starken Effekt entspricht. »Aber meist sind die Effekte in der Psychologie sehr klein«, sagt der Psychologe Felix Schönbrodt von der LMU München. Einer der Gründe: »Der Mensch ist mit der komplizierteste Untersuchungsgegenstand, den es gibt.«
»Eine einzelne Variable kann nur ganz wenig erklären«
Felix Schönbrodt, Psychologe
Das liegt vor allem daran, dass im echten Leben stets unzählige Einflüsse zusammenwirken. »Da kann eine einzelne Variable nur ganz wenig erklären«, erklärt Schönbrodt. So kann etwa die Lernmotivation eines Schülers an einem bestimmten Tag von verschiedensten Faktoren abhängen: Wie ist das Wetter? Hat er in der vergangenen Nacht gut und ausreichend geschlafen? Sich mit einem Freund gestritten? Gestern ein Fußball-EM-Spiel geschaut? Und auch die Persönlichkeit eines Menschen wird von zahlreichen Variablen bestimmt: den Genen, Kindheitserfahrungen, wichtigen Lebensereignissen sowie dem familiären Umfeld, um nur einige Beispiele zu nennen.
Hinzu kommt, dass große
statistische Korrelationsanalysen ganz grundsätzlich erst einmal wenig
über eine Ursache-Wirkungs-Beziehung aussagen. Macht Geld wirklich
glücklich? Oder verdienen Menschen, die ohnehin zufriedener mit ihrem
Leben sind, vielleicht einfach mehr Geld – etwa weil sich ihr
Wohlbefinden positiv auf ihre Arbeitshaltung und ihre Leistung auswirkt?
Denkbar wäre auch, dass eine dritte Variable im Hintergrund sowohl
Einkommen als auch Zufriedenheit steuert.
Je größer der Effekt, desto besser die Übertragbarkeit
Um
Antworten auf solche Fragen zu finden, müssen Forscher und
Forscherinnen letztlich Experimente unter kontrollierten Bedingungen
durchführen. Doch selbst deren Ergebnisse lassen sich nicht so ohne
Weiteres auf jeden Einzelnen übertragen. Denn auch hierbei werden in
aller Regel größere Gruppen untersucht, am Ende werden
Durchschnittswerte gebildet. Zum Beispiel, wenn in einer randomisiert
kontrollierten Studie die Wirkung von bestimmten psychologischen
Interventionen untersucht wird. »Ein Teil der Probanden liegt dann über
und ein Teil unter dem durchschnittlichen Effekt«, sagt Felix
Schönbrodt. Daher habe es Sinn, sich die Streuung hinter dem mittleren
Effekt anzuschauen. Es könnte ja sein, dass alle wenig um den Mittelwert
streuen. Dann wäre der Effekt bei allen Teilnehmern am Ende ungefähr
der gleiche. Genauso sei aber auch eine starke Streuung denkbar. In
diesem Fall tritt dann bei manchen Personen eine stärkere, bei anderen
eine schwächere Wirkung auf.
Wie gut man von Gruppenergebnissen auf den Einzelnen schließen kann, hängt auch hierbei von der Größe der gefundenen Effekte ab. »Je größer die aus Gruppenstudien ermittelten Effektstärken, desto besser ist auch die Genauigkeit der Vorhersage für den Einzelfall«, erklärt der Statistiker und Psychologe Heinz Holling von der Uni Münster.
Wenn kleine Effekte sich aufsummieren
Doch selbst wenn Effekte mager ausfallen, müssen sie für das echte Leben nicht unbedingt bedeutungslos sein. In einer Studie aus dem Jahr 2018
hat sich die Psychologin Sara Weston von der University of Oregon
zusammen mit ihren Kollegen zwei Millionen Kontoabbuchungen von mehr als
2000 Personen angeschaut. Die Forscherinnen und Forscher wollten
ermitteln, ob es einen Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit eines
Menschen und seinem Verhalten bei Weihnachtseinkäufen gibt. Und sie
fanden tatsächlich einen: Je extravertierter eine Person war, desto mehr
Geld gab sie im Schnitt in der Weihnachtszeit aus. Allerdings war der
Effekt nur sehr schwach ausgeprägt – für den Einzelnen hat er also
wenig Bedeutung. Multipliziert man ihn aber mit der Anzahl der Menschen,
die sich in der Woche vor Weihnachten in einem Kaufhaus tummeln, macht
die Persönlichkeit der Einkäufer für den Ladenbesitzer schon einen
deutlichen Unterschied. Selbst kleine Effekte können sich also über
große Gruppen hinweg anhäufen und relevant für das reale Leben sein.
Obwohl
Merkmale wie Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit das Handeln einer
Person oft nur in geringem Maß beeinflussen, können sich die Folgen
schnell aufsummieren
Kleine Effekte können sich aber
nicht nur über große Gruppen hinweg, sondern auch über die Zeit hinweg
anhäufen. Dann können sie durchaus auch für den Einzelnen relevant sein,
erklären die Psychologen David Funder und Daniel Ozer von der
University of California in Riverside in einem Aufsatz.
Besonders offensichtlich ist das im Hinblick auf die Persönlichkeit:
Obwohl stabile Merkmale wie Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit das
Handeln einer Person oft nur in geringem Maß beeinflussen, können sich
die Folgen schnell aufsummieren. In einer Überschlagsrechnung gehen die
beiden Psychologen davon aus, dass die Verträglichkeit eines Menschen
und sein Erfolg bei einer sozialen Interaktion ungefähr mit einer
Effektstärke von 0,05 korrelieren. Ein Mensch, der sich durch Altruismus
und Hilfsbereitschaft auszeichnet, ist also im Schnitt ein kleines
bisschen erfolgreicher im Umgang mit anderen. Was zunächst nach einem
kaum messbaren Effekt klingt, kann sich aber bereits im Lauf von
550 zwischenmenschlichen Begegnungen deutlich bemerkbar machen. Tausche
sich etwa ein verträglicher Student 20-mal pro Tag mit anderen aus,
hätte das schon nach weniger als einem Monat einen positiven Einfluss
auf seine Beliebtheit, wie die Forscher schreiben
Auch
Felix Schönbrodt kennt solche Beispiele. Etwa, wenn jemand häufig
schlecht gelaunt, verärgert oder herablassend aussieht, obwohl er
überhaupt nicht so empfindet – ein Phänomen, das in der Öffentlichkeit
mitunter auch »Resting Bitch Face« bezeichnet wird. »In der Folge
reagieren vielleicht die Mitmenschen jedes Mal einen Tick unfreundlicher
auf diese Person.« Ein einzelnes negatives Feedback macht dabei
zunächst nicht viel aus. Doch verhalten sich die Menschen immer wieder
so, wird die betreffende Person womöglich irgendwann dünnhäutig oder
zieht sich zurück.
Allerdings müsse man in jedem Fall genau hinschauen, ob sich ein kleiner Effekt wirklich mit der Zeit aufsummiert, mahnt Schönbrodt. Oder ob das Ganze eher zur Ehrenrettung der Psychologie vorgebracht wird.
Ermitteln, worauf es wirklich ankommt
Wie
wichtig es ist, Effekte richtig zu bewerten, machen psychologische
Interventionen deutlich. Menschen, die zum Beispiel eine Psychotherapie
beginnen, verspüren oft einen großen Leidensdruck. Zudem kostet die
Behandlung Zeit und Geld. Nicht nur Psychologen haben also ein großes
Interesse daran, herauszufinden, welche Interventionen sich auch in der
Praxis bewähren. In Studien geht es bislang oft vor allem darum, ob ein
statistisch signifikanter Unterschied zwischen der Behandlungs- und der
Kontrollgruppe besteht. Gibt es einen Effekt, wird anschließend
geschaut, wie groß er ist. Doch schon lange streiten Psychologen
darüber, welche Aussagekraft das in der Praxis überhaupt hat.
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»Eine neue Idee ist, zu schauen, ob die Versuchspersonen
selbst überhaupt eine Veränderung bemerken« sagt Felix Schönbrodt. Die
Psychologen Farid Anvari und Daniël Lakens von der Technischen
Universität Eindhoven untersuchten 2021 die Emotionen von Probanden zu zwei verschiedenen Zeitpunkten.
Dazu sollten diese auf verschiedenen Skalen angeben, wie stark sie
gerade bestimmte Gefühle (etwa Aufregung, Stolz, Nervosität oder Trauer)
verspürten. Außerdem wollten die Forscher bei der zweiten Befragung
wissen, ob sich die Teilnehmer insgesamt besser oder schlechter fühlten
als bei der ersten Fragerunde. Obwohl die Forscher auf ihren Skalen
durchaus Veränderungen sehen konnten, berichteten manche Probanden, sich
ähnlich wie zuvor zu fühlen – sie nahmen subjektiv also gar keinen
Unterschied wahr. Solche Ergebnisse lassen sich laut Felix Schönbrodt
für Interventionsstudien nutzen. »Man kann so feststellen, wie groß die
Veränderung in einem psychologischen Messinstrument sein muss, damit die
Patienten auch subjektiv eine merkliche Verbesserung spüren.«
Nota. - Wenn sich alle Probanden zur Hälfte im oberen und zur andern Hälfte im unteren Ende der Statistik ballten und der Zwischenraum ganz leer wäre, wären im Durchschnitt doch alle Menschen... durchschnittlich; wer hätte das gedacht!
Das Problem wäre eines weniger der Wissenschaft, sondern eher eines der Wissenschafts-kommunikation, möchte man meinen. Politiker und Interessenvertreter weisen in der Öf-fentlichkeit selbst, wenn sie es wissen, selten darauf hin, dass eine statistische Korrelation noch lange kein Kausalverhältnis wiedergibt. Das ist demagogisch, aber das ist ihr Geschäft. Weisen aber Wissenschaftler in ihren Kommunikationen stets auf die Effektstärke ihrer sta-tistischen Befunde hin - gerade dann, wenn sie gering ist? Die sollten es jedesmal wissen, aber vielleicht vergessen sie es gelegentlich in der Hektik des Tagesbetriebs. In der Wissen-schaft herrscht nämlich auf allen Gebieten wenigstens soviel Konkurrenz wie in allen an-dern gesellschaftlichen Bereichen, und vielleicht schärfere, weil sie differentieller ist.
Will sagen, Subtilitäten fallen da schonmal unter den Tisch. Die Konkurrrenz in den Wis-senschaften kann man nur unterbinden, wenn man ihre Freiheit einschränkt, und das liefe auf ihre Abschaffung hinaus. Mit der Publizistik ist es dasselbe.
Ein institutionelles Andidotum gibt es nicht, nur eine aktuales: Kritik. Und die ist Sache der Wissenschaft und der Publizistik. Dreht sich die Sache also im Kreis? Allerdings. Hauptsa-che nur, sie dreht sich.
JE
Nota. Das
oberste Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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