"Hallooo, hallooo, ist denn auch die Mama da? Kann die mal an den Bildschirm kommen und etwas zu Seite 46 im Arbeitsheft sagen?" Die Lehrerin meines Grundschulkindes wirkt etwas hilflos. Also ist die Mama gleich zur Stelle. Ich hocke mich in Sichthöhe an den Monitor neben meinem Kind. "Ja, das stimmt, Seite 46 haben wir gestern Abend nicht mehr ganz geschafft, mir war nicht ganz klar, was bei den Zahlenboxen zu kalkulieren ist, aber dafür haben wir im Indianerheft das Geldrechnen beendet." Während ich rede, blättere ich hektisch im roten Schnellhefter meines Kindes, in dem ich die betreffenden Seiten mit gelben Post-its markiert habe. Eine Nachricht meines Google-Kalenders, ping, erinnert mich an die diversen Deadlines für das Blätterprojekt oder die Cornelia-Funke-Leserolle. Bei zwei Grundschulkindern komme ich auf etwa zehn Pings, also Schulaufgaben, pro Woche, macht mindestens eine Erinnerung am Tag. Und da schon wieder. Ping. Dienstag, Frosch-Heft fertig machen.

Können Kinder ihre Hausaufgaben denn nicht mehr selber machen? Das fragen sich Eltern inklusive mir in den sozialen Netzwerken, im Bekanntenkreis und Klassenchat-Gruppen ständig. Die Antwort ist ein klares: Nein. Sie sollen es wohl auch gar nicht mehr können. Denn anders ist es nicht zu erklären, warum in Zeiten von Homeschooling und Wechsel-unterricht bereits Grundschüler 30-seitige Themenmappen und komplexe Mathematik-Arbeitshefte im Wochentakt durcharbeiten sollen. Dazu kommt noch die Uhrzeit lernen, die Kringel beim Schreibschrift-L ohne Aufdrücken des Füllers meistern und jeden Tag fünf Blätter mit Text füllen. Mein Sohn und seine Klassenkameraden, Schüler einer normalen Berliner Regelschule, können das alles mit acht oder neun Jahren jedenfalls nicht alleine. Sie spielen lieber Fußball, schauen von ihrem Schreibtisch aus im Himmel den Wolken beim Vorbeiziehen zu. Ihre schulische Motivation ist nach einem Jahr Pandemie kaum mehr da. "Macht dein Kind die Aufgaben?", fragen sich die Eltern untereinander im Klassenchat. Die gängige Antwort: "Ja, aber nur wenn ich danebensitze."

Mehr Quality Time

Dass Kinder ihre Hausaufgaben nicht selbst machen, war auch schon vor Corona so. Nach zwei Lockdowns und Monaten ohne Präsenzunterricht ist die Unselbstständigkeit schlimmer denn je. Davon handelt auch der Anfang März erschienene Familienbericht der Bundesregierung. Es ist der neunte seit dem Jahr 1968. Im aktuellen Bericht steht, dass seit dem Jahr 2012 ein deutlicher Anstieg der täglichen Zeit zu beobachten ist, die Eltern für die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder aufbringen – nicht nur bei Vätern, sondern absolut betrachtet sogar noch stärker bei den Müttern. Die Zeit, die Mütter mit ihren Kindern als sogenannte Quality Time verbringen, sich also intensiv mit ihren Kindern beschäftigen, habe sich seit den Neunzigerjahren verdreifacht – nämlich von 31 Minuten auf anderthalb Stunden am Tag. Bei den Vätern fiel der Anstieg moderater aus: von 19 auf 51 Minuten täglich. Laut Familienbericht sei dies, so heißt es, "vor dem Hintergrund der steigenden Erwerbsbeteiligung von Müttern bemerkenswert".



Tatsächlich gehen mehr als drei Viertel der Mütter mit Schulkindern arbeiten. Wie das Statistische Bundesamt mitteilte, waren im Jahr 2018 rund 78 Prozent der Mütter, die in einer Partnerschaft leben, erwerbstätig. Damit stieg dieser Anteil in zehn Jahren um fast zehn Prozentpunkte. Da sitzen also Millionen von berufstätigen Frauen (und natürlich auch Männern), die abends Fischstäbchen braten und danach mit ihrem Kind bei elektrischem Licht der Schreibtischlampe herausfinden, warum Bauer Roggenschuh die meisten Schafe hat oder Werther eigentlich depressiv war. Danach, wenn alle im Bett sind, klappen viele dieser Eltern ihren Rechner wieder auf, um den eigenen Arbeitstag am nächsten Morgen zu planen, legen ihren schlafenden Kindern noch frische Klamotten heraus und setzen sich dann an die Korrektur des Einmaleins-Ausmalbildes – es muss ja schließlich morgen abgegeben werden. Und man fragt sich, ob das wirklich so sein sollte.

Elternschaft hat sich durch Notendruck in der Schule gewandelt

"Wie läuft’s in der Schule?", fragte mich mein Vater früher einmal die Woche. Bei meiner Antwort schaute er manchmal kaum von seiner Zeitung auf. Das musste er auch gar nicht. Aus der Schule hielten sich die Eltern in den Achtzigern noch raus, ihre vornehmliche Aufgabe bestand darin, vor und nach dem Unterricht am Schultor zu winken ­– wenn überhaupt. Heute lacht die Generation meines Vaters über Helikoptereltern, die ständig um ihren Nachwuchs kreisen. Dabei ist es aber genau das, was Schulen in Zeiten von Lehrermangel und Homeschooling verlangen: aktive Mitarbeit und ständige zeitliche Verfügbarkeit von Müttern und Vätern.

Elternschaft habe sich gewandelt und gehe sowohl mit steigenden Standards als auch erhöhten Ansprüchen einher, heißt es im Familienbericht der Bundesregierung. Viele Eltern sähen sich in der Pflicht, ihre Kinder bestmöglich zu fördern, und verspürten einen gesellschaftlichen Druck, dem Ideal aufopfernder Eltern zu entsprechen. Und so ist der Rotstift des Lehrers auf den Übungsblättern der Kinder auch ein Tadel der Eltern. Ungenügend. Also wird nächste Woche noch ein bisschen engagierter geklebt, geheftet, erklärt und ausradiert. Reicht die interne Motivation nicht aus, haben die Lehrer die volle Aufmerksamkeit der Eltern spätestens bei dem Wörtchen: versetzungsrelevant.

Besonders gefürchtet: das Grundschulabitur

Die Eignung für das Gymnasium wird je nach Bundesland bis zu einem Notendurchschnitt von 2,33 bescheinigt, aber oft will das Wunschgymnasium einen Einserdurchschnitt sehen. Viele Eltern sprechen vom "Grundschulabitur", das notfalls mit noch mehr Büffeln zu Hause und monetärem Investment für professionelle Nachhilfe erreicht werden muss. Das ständige Lernen und Hineinschlüpfen in die Lehrerrolle belastet laut des Familienberichts dabei alle sozialen Milieus, weil vor lauter Hausaufgaben kaum Zeit für das unkomplizierte Miteinander von Eltern und Kindern bleibt.

Besonders belastend ist diese Aufgabe für Familien mit wenig Ressourcen. Auch die aktuellen Auswertungen der OECD-Studien zu den Pisa-Tests, die das Wissen von Schülerinnen und Schülern jährlich abfragen, legt dies nahe. Demnach ist für den Bildungserfolg eines Grund- und Oberschulkindes die Mithilfe des Elternhauses entscheidend. Konkret erreichte ein 15-jähriger Schüler aus einer sozial benachteiligten Familie im Schnitt 466 Punkte – ihre Kameraden aus privilegierten Elternhäusern schafften 103 Punkte mehr.