Freitag, 26. März 2021

Die Shigir-Stele.

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aus Tagesspiegel.de,

Kunst aus der Kälte
Altes Holz und eine neue Geschichte
Eine Stele aus einem Torfstich im Ural ist älter als vermutet. Der Befund wirft ein neues Licht auf Kunst und Kultur dort, wo man sie bislang nicht erwartete.
 
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Es ist ein Merksatz, den auch Virologen derzeit gern anbringen: Abwesenheit von Evidenz ist nicht Evidenz von Abwesenheit. Etwas einfacher ausgedrückt: Wenn man etwas nicht findet, bedeutet das nicht, dass es nicht existiert. Bei einem Erreger kann das zum Beispiel heißen, dass er, auch wenn es noch keinen Nachweis dafür gibt, längst in problematischer Weise mutiert sein kann.

Unter Forschenden allgemein ist der Satz schlicht eine Warnung, sich stets auch daran zu erinnern, dass man manches, was vielleicht wichtig ist, vielleicht einfach noch nicht weiß. Das gilt vor allem dort, wo es offensichtlich besonders schwer ist, „Evidenz“ zu finden, etwa in der Paläontologie.

Alter Fund, neuer Befund

Gegenüber der New York Times sagte nun der Paläoanthropologe João Zilhão von der Universität Barcelona wieder einmal genau diesen Satz. Er sagte ihn, weil es jetzt eben doch jene Evidenz für etwas gibt, was eine seiner Meinung nach sehr einseitige Ur- und Frühgeschichtsforschung lange Zeit für undenkbar hielt: kulturell, künstlerisch, spirituell-religiös hochentwickelte menschliche Gesellschaften bei Jägern und Sammlern vor mehr als 10 000 Jahren. Er sagt, es sei nun sogar an der Zeit, die Ur- und Frühgeschichte umzuschreiben.Grund dafür ist nicht einmal ein neuer Fund, sondern ein ziemlich alter – aber ein neuer Befund dazu. Dieser stammt aus dem Labor des Göttinger Professors für Ur- und Frühgeschichte Thomas Terberger. Er und seine Kolleginnen und Kollegen haben nichts anderes gemacht, als von ein paar Stücken Lärchenholz das Alter mit den besten verfügbaren Methoden zu bestimmen. Ergebnis der Messungen per Beschleunigungs-Massenspektrometrie: 12 100 Jahre.

Aus altem Holz geschnitzt

Aus jenem Holz ist das so genannte Shigir-Idol, das 1890 in einem Torfstich im Ural unweit des russischen Jekaterinburg gefunden wurde. Als Jäger und Sammler es dort benutzten, war es insgesamt möglicherweise mehr als fünf Meter lang, beziehungsweise hoch: eine Stele mit zahlreichen abstrakten Mustern verziert. Sie zeigt zudem acht menschliche Gesichter, eines davon ganz oben, mit geöffnetem Mund und, wie Terberger der „Times“ sagte, recht angsteinflößend dreinblickend.

Derart altes Holz guterhalten zu finden und auch auf Torfstecher vor anderthalb Jahrhunderten zählen zu können, die seine Besonderheit erkennen, ist der sprichwörtliche Lottogewinn mit Superzahl. Die neue Datierung der Stele, die lange Zeit auf ein Alter von etwa 9500 Jahren beziffert wurde, legt vor allem eines nahe: Um das Ende der letzten Eiszeit herum, ganz ohne Landwirtschaft und Sesshaftwerdung und weitab von den Gegenden, in denen bislang Jahrtausende später erst der Ursprung einer komplexen Kultur für möglich gehalten wurde, hat es genau das gegeben. Was fehlt, sind genügend Nachweise, weil die Zeugnisse dafür in Gegenden, in denen es viel Holz gab, schlicht meist aus Holz waren und in den allermeisten Fällen längst verrottet sind. Sie sind damit, wie Zilhão sagt, „archäologisch unsichtbar“.

Allzu menschliche Kultur

Ähnliches gilt für Zeugnisse von Kunst und Kultur der Neandertaler. In den letzten Jahren hat es auch hier Funde gegeben, die die alte Sicht des plumpen und dem „modernen“ Menschen schlicht kognitiv unterlegenen Urmenschen-Cousins als nicht mehr haltbar erscheinen lassen. Die Ur- und Frühgeschichte des oder der Menschen scheint jedenfalls komplexer zu sein, als es in den Büchern steht – und Kultur und Kunst älter und weiterverbreitet als lange angenommen.

Der Abwesenheit von Evidenz versuchen etwa in Russland Paläoanthropologen durch gezielte Suche, unter anderem in ganz ähnlichen Torfstichen zu begegnen. Mikhail Zhilin von der russischen Akademie der Wissenschaften und Co-Autor der neuen Studie, die in „ Quaternary International“ erschienen ist, ist einer von ihnen. Der „New York Times“ sagte er, eine ganz andere Abwesenheit sei für Leute wie ihn das größte Problem: die Abwesenheit ausreichender finanzieller Mittel für Grabungen.

 

Nota. - Was das Sensationelle daran sein soll, ist mir schleierhaft. Die Höhlenmaler und -schnitzer von der Dordogne und der Schwäbischen Alb lebten vor rund 40 000 Jahren, also viel früher als die Holzschnitzer im Ural . und dreimal so lange vor dem Ausbruch von Landwirtschaft und Arbeitsgesellschaft. Dass ihre Kunst kultischen und nicht privat-persönlichen Charakter gehabt habe, wurde meines Wissens auch nie bezweifelt. Dass die Shigir-Stele dreitausend Jahre älter ist als der Tagesspiegel dachte, wirft keinen vom Hocker. 

Zumal, als ich es schon vor drei Jahren berichtet habe. Nur eben, dass es dort kühler und kärger ist als etwa in Göbekli Tepe...

JE

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