
aus derStandard.at, 6. 3. 2021 Ein etwa neun Monate alter Borneo-Orang-Utan zuJochen Ebmeiers Realien
Er will seinen Artgenossen etwas mitteilen, will sie zum gemeinsamen Spielen auffordern. Die Rolle vorwärts und der Kopfüber-Blick nach hinten sind im Orang-Utan-Reich also Gesten ähnlich einer Handbewegung, mit der ein Autofahrer einem Fußgänger signalisiert, dieser könne ruhig über die Straße gehen, er werde so lange warten. So weit, so simpel.
Aber als Marlen Fröhlich von der Universität Zürich und ihre Kollegen solche Gesten bei Orang-Utans untersuchten, machten sie eine erstaunliche Entdeckung: Im Wald der indonesischen Inseln Sumatra und Borneo, der Heimat dieser Menschenaffen, nutzten die Tiere andere Gesten als in Zoos. In der freien Wildbahn war das Repertoire zudem wesentlich kleiner als in den Affenhäusern der verschiedenen europäischen Tiergärten. Die Gesten-Studie zeigt, wie stark die Kommunikationsform von der Umwelt abhängt.
Bislang sind die Erkenntnisse von Marlen Fröhlich noch nicht in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht. Sie diskutiert sie derzeit mit ihren Kollegen im sogenannten Pre-Print: einem Stadium der Vorab-Publikation. „So können wir unsere Schlussfolgerungen aus den Beobachtungsdaten absichern und Einwände unserer Kollegen berücksichtigen“, erklärt die deutsche Forscherin von der Züricher Universität.
Eine dieser Kolleginnen ist Simone Pika, die an der Universität Osnabrück lehrt und dort die Kommunikation bei Menschenaffen, Kindern und Raben erforscht: „Diese Studie ist interessant, da sie erstmalig die Gesten-Produktion von zwei Orang-Utan-Arten untersucht, deren Sozialverhalten im Freiland durchaus unterschiedlich ist“, sagt die Verhaltensbiologin.
Wann und mit welchen Gesten Menschenaffen sich verständigen, ist noch nicht besonders gut erforscht. Dabei interessieren sich Wissenschaftler seit Jahrzehnten dafür. Schließlich könnte, wenn man die Gestensprache der Tiere mit der der Menschen in Einklang bringt, vielleicht ein Dialog zwischen den Arten möglich sein. In den 1960er- und 1970er-Jahren haben US-Forscher zur Klärung dieser Fragen Schimpansen in menschlicher Obhut großgezogen: Mit Windel und Latzhose ausstaffiert saßen die Tierkinder mit am Esstisch und sollten lernen, wie ihre menschlichen Eltern zu leben.
Und sie sollten lernen, sich mit ihren Menscheneltern zu verständigen. Der US-amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle beschreibt dies in seinem gerade erschienenen Buch „Sprich mit mir“. Obwohl es zunächst Hinweise darauf gab, dass die Experimente geglückt waren, zeigten unabhängige Analysen, dass die Schimpansen wohl nur nachahmen konnten – aber nicht kommunizieren.
Heute erscheinen Familienexperimente fast abstrus, unwissenschaftlich und tierethisch zweifelhaft. Um die Gestensprache der Tiere zu verstehen, muss man sie schließlich in freier Wildbahn beobachten. Das ist aber oft alles andere als einfach.
Besonders schwierig ist das im Fall der Orang-Utans. Die Tiere sind, zumindest auf der Insel Borneo, notorische Einzelgänger. Abgesehen von Müttern mit ihrem Nachwuchs bleiben sie in der Natur gerne allein. Gestensprache lässt sich hier also nur bei der Kommunikation zwischen Mutter und Kind erforschen. Anders ist das bei den Orang-Utans auf Sumatra, die sich nicht ganz so konsequent aus dem Weg gehen. Hier schwingen sich häufiger kleine Gruppen von sieben oder acht Tieren für einige Stunden gemeinsam durch die Wipfel des Regenwaldes und suchen nach Futter. Danach gehen die Tiere wieder ihre eigenen Wege, um sich vielleicht Wochen später mit anderen Artgenossen zu einer neuen Gruppe zusammenzufinden.
Auf Borneo und Sumatra müssen die Wissenschaftler bereits morgens um halb vier aufstehen, um die Tiere zu beobachten. „Über kilometerlange Holzbohlen-Wege laufen wir dann zu den Bäumen, in denen sich ein Orang-Utan am Abend vorher in einem Nest schlafen gelegt hat“, sagt Marlen Fröhlich. Wo das genau ist, wissen die Forscher durch ihre Arbeit am Vortag. Wenn das Tier oder auch eine Mutter mit Kind am Morgen aufwacht, können die Forscher es einen weiteren Tag beobachten
Zumindest in der Theorie. Die Praxis sieht meist anders aus: Die Orang-Utans leben hoch oben in den Bäumen, wo sie Früchte, Sprossen oder auch Ameisen und Termiten verspeisen. Ist ein Baum abgeerntet, versetzen sie dessen Wipfel manchmal in Schwingungen, um dann im richtigen Moment zum nächsten zu klettern. Die Wissenschaftler am Boden müssen sich dann häufig durch unwegsames Gelände mühen.
Haben die Forscher die Tiere im Blick, zeichnen sie ihre Gesten auf Video auf. Auf einer Tablet-App notiert sich Marlen Fröhlich alle paar Minuten wichtige Daten zum Sozialleben: Wie weit ist die Mutter von ihrem Kind weg? Sind noch andere Orang-Utans in der Nähe und wie weit sind diese entfernt? Nach einigen Monaten mühseliger Beobachtungen geht es dann zurück ins Institut in Zürich, um die auf Video aufgezeichneten Gesten auszuwerten.
Hier können sie die Gesten mit denen vergleichen, die sie in Zoos und Tierparks beobachtet haben – einem für die Tiere zwar unnatürlichen Lebensraum, der den Forschern aber gute Dienste leistet. Hier teilen sich Orang-Utans beider Arten viele Jahre lang ein Gehege, und das könnte zu einer Veränderung der Gestenkommunikation führen.
Die Clips aus der Natur zeigen ähnliche Gesten wie die aus dem Zoo: Da streckt ein kleiner Orang-Utan einen Arm aus und hält die geöffnete Hand unter das Kinn eines anderen Tiers. „So bitten sie um Futter“, sagt Fröhlich. In der Natur betteln die Kleinen meist bei ihrer Mutter, weil ja normalerweise kaum andere Artgenossen in der Nähe sind. Im Zoo wird auch bei Fremden gebettelt.
Allerdings ist die Erfolgsquote der Bettler in der Natur viel höher als im Zoo. „Schließlich wissen die Mütter, dass die Pfleger genug Futter für alle bringen“, vermutet Marlen Fröhlich. Weshalb aber betteln dann die Kleinen im Zoo überhaupt? „Vermutlich wollen sie sich einfach das Kauen sparen“, meint die Verhaltensbiologin. Schließlich ist es für den Nachwuchs viel schwieriger, harte Früchte und Blätter zu zerkleinern.
Häufig fordert der Nachwuchs die Großen auch zum Spielen auf. Schleppen die Kleinen zum Beispiel einen Stock an, kann das der Auftakt für ein wildes Verfolgungsrennen sein, in dem die Tiere versuchen, sich gegenseitig das Holz abzujagen. Natürlich können zwei Orang-Utans auch an beiden Enden des Stocks zerren und so eine Art Tauziehen veranstalten. Vor allem die männliche Jugend versucht sich gern in eifrigen, aber keineswegs aggressiven Raufereien. Und manchmal kitzeln sich die Tiere.
Was die Wissenschaftler aber zunächst erstaunt hat: Im Zoo nutzen die Tiere viel mehr Gesten, um miteinander in Kontakt zu treten. So fordern die Jungtiere in Gefangenschaft nicht nur mit einem herbeigeschleppten Stock zum Spielen auf, sondern schlagen auch Purzelbäume oder blicken kopfüber durch die Beine nach hinten – Gesten, die ebenfalls zum Spiel animieren sollen. Im dichten Geäst des Urwalds wurde derartiges Verhalten noch nicht beobachtet.
Vielleicht, so die Forscher, haben die Tiere im Zoo einfach viel mehr Möglichkeiten. „Und vor allem haben sie viel mehr Zeit und damit gute Gelegenheiten, neue Gesten zu erfinden“, sagt Marlen Fröhlich. Andererseits entstehen durch das erzwungene dauerhafte Zusammenleben auf engem Raum für die notorischen Einzelgänger der Borneo-Orang-Utans und die nur sporadisch in Gruppen lebenden Sumatra-Orang-Utans immer wieder Konflikte, die ebenfalls mit kleinen Gesten gelöst werden. Bringen die Tierpfleger zum Beispiel neues Futter ins Gehege, kommt es vor, dass ein Orang-Utan seinen Kontrahenten mit den Fingerspitzen antippt und ihn so wegschickt. Oder er hebt seinen Arm, signalisiert drohend: „Ich könnte dich schlagen.“
Insgesamt beobachteten Marlen Fröhlich und ihre Kollegen bei den Einzelgängern auf Borneo 24 Gesten, während die zumindest manchmal in Gruppen lebende Verwandtschaft auf Sumatra sich mit 32 Gesten untereinander verständigt. Im Zoo dagegen verschwinden bei den beiden Arten eine oder zwei aus der Natur bekannte Gesten, gleichzeitig tauchen sieben oder neun neue auf. Die neuen Möglichkeiten und Zwänge eines Lebens in Gefangenschaft bringt die Orang-Utans also dazu, neue Gesten zu entwickeln, mit denen sie sich mit ihren Artgenossen verständigen, vermuten Marlen Fröhlich und ihre Kollegen.
Simone Pika von der Universität Osnabrück hält die Studie ihrer Kollegen für wichtig, denn die Ergebnisse entsprechen dem, was man aufgrund der Intelligenz der Menschenaffen erwartet. Orang-Utans steht, genau wie anderen Menschenaffen, ein vielfältiges Verhaltensrepertoire zur Verfügung, mit dem sie auf Veränderungen in der Umwelt reagieren können. „Das bedeutet, dass sie auf einen gut gefüllten kommunikativen und kognitiven ,Werkzeugkasten‘ zurückgreifen können“, erklärt die Verhaltensbiologin. Daraus können Tiere die passenden Gesten rasch hervorholen, um sich mit anderen Orang-Utans zu verständigen. „Mich fasziniert die Komplexität ihres Verhaltens, welches über Jahrmillionen anhand ihrer natürlichen Lebensräume geformt wurde.“
Die Pfleger der Menschenaffen in den Zoos beobachten oft, dass Orang-Utans und Schimpansen Probleme auf sehr unterschiedliche Weise lösen: Stehen Letztere vor einer Futterstation, bei der sie mit bestimmten Verhaltensweisen an das schmackhafte Innere kommen, probieren sie zwar einiges aus, um die Station zu öffnen. Oft aber versuchen die Schimpansen, das Problem mit roher Gewalt zu lösen.
Orang-Utans dagegen brüten manchmal tagelang vor der Futterstation über einer Lösung, bis sich ihre Hartnäckigkeit endlich auszahlt und sie den Öffnungsmechanismus ausgetüftelt haben. Wissenschaftlich untersucht ist das Phänomen allerdings noch nicht.
Nota. - Die
Natur veschwendet nichts, lautet eine gängige Plattitüde; so als ob sie
ein sparsamer Spießer wäre wie du und ich, allezeit ihre
Kosten-Nutzen-Rechnung nicht im Geiste, sondern schon im Rücken- mark
mit sich führend. Dagegen hat der Schweizer Zoologe Adolf Portmann den Begriff der Hypertelie in die Biologie eingeführt, die Tendenz von Organismen, sich "über das Ziel hinaus" zu entwickeln und Formen auszubilden, die unter den gegebenen Lebensumständen dem Organismus keinerlei Erhaltungsvorteil ver-schaffen; einen allgemein luxurierenden Grundzug des Lebens.
Das zu erklärende Phänomen wäre daher nicht diese oder jene Fähigkeit dieser
oder jener Spezies, deren Voraussetzung phylogenetisch längt gegeben
war, sondern der Umstand, dass sie bei der einen Art verwirklicht und
weiterentwickelt wurde, während sie bei einer ande-ren brach liegenblieb.
Und die Erklärung ist eben in den Umständen zu finden, die - mehr
oder minder 'zufällig' - die Situationen vermehren, in denen die
Fähigkeit herausgefordert wird, in denen die Individuen "damit was
anfangen können" und dies Anfangen in der Spezies schließlich
habituell wird.
Am
Stammbaum des Menschen gemessen, stehen die Echsen ganz unten. Aber
auch ihnen scheinen Stoffwechsel und Fortpflanzung als Sinn des Lebens
nicht zu reichen. Spätestens wenn die Stoffe gewechselt und das
Fortpflanzungsgeschäft besorgt ist, suchen sich ihre Gehirne eine andere
Beschäftigung, und die finden sie in lauter Dingen, die für Selbst- und
Arterhaltung gar keinen Nutzen haben. Der eine Forscher sagt, sie tun
das, um sich fit zu halten; wer (zu lange) rastet, der rostet. Der
andere Forscher sagt, sie tun diese Dinge um ihrer selbst willen. Wie
dem auch sei - sie haben mehr Möglichkeiten, als die schiere Natur ihnen abverlangt.
Und
je höher nun die Tierarten sich entwickeln, umso wahrscheinlicher wird
es, dass eine von ihnen eines Tages ernstlich beginnt, was daraus zu
machen. Die Bonobos treiben bloß zwecklosen Sex, die Hominiden gingen
schon etwas weiter.
Das
ist der springende Punkt: Im Prinzip könnten sie, doch die Erfolgsquote
ist gering; denn warum sollten sie? Der Erfolg der vier von dreizehn
ist ja mehr der Langeweile in der Gefangenschaft geschuldet, als den
Notwendigkeiten des Überlebens: Für sie ist gesorgt, da sind die
Cashewkerne ein Luxus - auf den man aber auch ganz guz verzichten kann.
Die Leistung der Vier ist fast Verschwendung, denn wenn der Versuch
abgeschlossen ist, kön-nen sie biegen, so viel sie wollen: Cashewkerne
wirds dafür nicht mehr geben. Tiere in freier Wildbahn, die mit
Selbsterhaltung voll beschäftigt sind, können sich keine Verschwendung
leisten; jedenfalls nicht so oft, dass eine soziale Tradition daraus würde!
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