Montag, 1. März 2021

Kant über Einbildungskraft

Erleuchtung                                zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen.

Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft, der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende An-schauung geben kann, zur Sinnlichkeit; sofern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist, welche bestimmend, und nicht, wie der Sinn, bloß bestimmbar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft sofern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, den Kategorien gemäß, muß die transzendentale Synthe-sis der Einbildungskraft sein, welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist. Sie ist, als figürlich, von der intellektuellen Synthesis ohne alle Einbildungskraft bloß durch den Verstand unterschieden.

Sofern die Einbildungskraft nun Spontaneität ist, nenne ich sie auch bisweilen die produk-tive Einbildungskraft, und unterscheide sie dadurch von der reproduktiven, deren Synthesis lediglich empirischen Gesetzen, nämlich denen der Assoziation, unterworfen ist, und wel-che daher zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori nichts beiträgt, und um deswillen nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die Psychologie gehört. 
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 151f.



Nota. -  Kant hat das phänomenologische Verfahren in die Philosophie eingeführt: Er beobachtet, was die Intelligenz auf ihrem Wege wirklich tut, und zerlegt es analytisch, um einen Sinn darin erkenntlich zu machen. Dann allerdings begnügt er sich mit einer Defini-tion. So erhält er z. B. nacheinander die drei Grundvermögen theoretische Vernunft, prakti-sche Vernunft und Urteilsvermögen. Sie nach ihrer Herkunft alias Wesen zu befragen, hält er nicht für seines Amtes. Zwar deutet er die Möglichkeit an, dass es sich 'im Grunde' nur um verschiedene Handlungsweisen ein und desselben menschlichen Gesamtvermögens handeln könnte, aber er kommt darauf nicht wieder zurück.

Hier nun hat die Beobachtung die Einbildungskraft identifiziert: das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen. So etwas kann die Intelligenz, wir können ihr dabei zusehen, aber woher sie kommt, 'was sie ist', ist nicht weiter zu eruieren. Und dass sie einmal produktiv, ein andermal nur reproduktiv tätig wird, muss lediglich definitorisch unterschieden werden. 

Dabei liegt eine Welt dazwischen, denn als bloß repoduktive fällt sie gar nicht in den Be-reich der Philosophie, sondern der Psychologie. Als produktive Einbildungskraft jedoch, als "eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung", fällt sie geradezu ins Zentrum der Transzendentalphilosophie!

Fichte hat sie folgerichtig zum menschlichen Grundvermögen erklärt, aus dem alle andern Tätigkeiten der Intelligenz abzuleiten sind. 

[wann?]

 

Ach, und fast hätte ich's unausgesprochen gelassen: Die transzendentale Synthesis, der Akt, der die mannigfachen Sinneseindrücke zu Etwas zusammenreißt und als Dieses bestimmt, ist für Kant ein Werk der Einbildungskraft. Sie ist das Übersinnliche - das Intelligible - an unserem Wissen. Sie ist die prädikative Qualität, das poietische Vermögen. Sie ist der Geist in der Materie.

 

 

 

 

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