Sonntag, 7. März 2021

West-Berliner Baugeschichte.

Luftaufnahme Berlin - Mehringplatz in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg

aus FAZ.NET, 6. 3. 2021                                                                                                                       z

Berliner Baupolitik: 
Die Düttmann-Legende
Werner Düttmann, Berliner Senatsbaudirektor der sechziger Jahre, galt den Freunden des alten Bauens lange als Zerstörer der Stadt. Jetzt wird sein hundertster Geburtstag gefeiert, und längst hat sich sein Bild gewandelt. 
 
Von Patrick Bahners

Wie Montessori-Lehrmaterial sehen die alten Pläne der Friedrichstadt aus, des nach dem ersten preußischen König benannten Teils von Berlin. Im Straßennetz der mit dem Lineal entworfenen Musterstadt klaffen zwecks Demonstration des Spielraums der geometrischen Möglichkeiten drei Löcher: ein (als solches bezeichnetes) „Achteck“ am Potsdamer Tor (heute der Leipziger Platz), ein (quadratisches) „Viereck“ am Brandenburger Tor (heute der Pariser Platz) und ein „Rondell“. Der Rundplatz am Halleschen Tor hieß seit 1815 Belle-Alliance-Platz, nach dem „schönen Bündnis“, auf dessen Sieg Blücher und Wellington anstießen, als sie am Abend der Schlacht von Waterloo in dem Gasthaus mit diesem französischen Namen zusammentrafen, in dem Napoleon sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. 1947 wurde der Belle-Alliance-Platz in Mehringplatz umbenannt, nach Franz Mehring, dem Historiker der Sozialdemokratie, dessen bekanntestes Buch „Die Lessing-Legende“ ist, die Kritik der Rekrutierung des aufgeklärten Dichters für den Hohenzollernkult des nationalliberalen Bürgertums.

Belle-Alliance-Platz

Die Umwidmung zu Ehren eines „sozialistischen Theoretikers“ nannte Wolf Jobst Siedler 1993 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abschätzig einen „wunderlichen Akt der Demokratisierung“. Aber der Akt hatte geschichtsphilosophischen Sinn: Mit seiner mondänen Bebauung war der Belle-Alliance-Platz der Geschichtsort eines militärisch-kulturindustriellen Ideenkomplexes gewesen, der noch heute als großbürgerlich-idealistisches Berlinbild fortlebt. 1945 war die Bebauung zerstört, und bald zerschnitt die Sektorengrenze die Friedrichstraße. Mit dem Wiederaufbau des Viertels um den Mehringplatz wurde Hans Scharoun beauftragt, der die Aufgabe an seinen Schüler Werner Düttmann weitergab.

Der neue Mehringplatz, 1975 eingeweiht, wurde als geschichtsfeindlich geschmäht: Blücher sei rangegangen wie Blücher. Dabei ist der Platz buchstäblich um die barocke Grundidee zentriert: Düttmann hob das Rondell hervor, indem er einen doppelten Ring von Wohn- und Geschäftshäusern um den Platz mit dem Siegesengel Christian Daniel Rauchs legte. Runder Pflock ins runde Loch: So hatte Düttmann es gemacht, aber den Feinden des früheren Senatsbaudirektors kam es falsch vor.

Wohnbauten am Dannenwalder Weg, Märkisches Viertel

Zu Düttmanns hundertstem Geburtstag am heutigen 6. März hat das von ihm erbaute Brücke-Museum eine Ausstellung organisiert, deren im Stadtraum begehbarer Teil von heute an zugänglich ist. Am Mehringplatz konkurrieren die in einem Metallgestell bereitstehenden Informationstafeln am nördlichen Zugang des Rondells mit gerahmten Informationen, die zu einem unbekannten Zeitpunkt in einem der Durchgänge des inneren Rings im Süden angebracht wurden. Dort wird die Geschichte des Ortes wie ein Musterfall des neuen Bauens der Nachkriegszeit erzählt, nach dem Schema von Verheißung und Enttäuschung. Der Bezirksbürgermeister habe 1975 noch von einem der „schönsten Plätze Berlins“ gesprochen, doch „viele Hoffnungen“ hätten sich nicht erfüllt.

Der Streit um die autogerechte Stadt

Zwei Gründe des Missfallens werden hier unter der Überschrift „Der Mehringplatz 1947 bis heute“ genannt, die aus der architekturkritischen Publizistik geläufig sind und sich nicht auf das Rondell beziehen, sondern auf dessen unmittelbare Umgebung, die Scharoun gemäß dem Programm der sogenannten autogerechten Stadt geplant hatte. „Wilhelm- und Lindenstraße laufen jetzt am Platz vorbei. Die Randbebauung, ursprünglich als Abschir-mung für die dann nie gebaute Stadtautobahn gedacht, wirkt erdrückend und unproportio-niert.“ Fiel der Ortsgeist dem Zeitgeist zum Opfer, dem sozialtechnologischen Glauben an die Planung? Zu diesem Verdacht passt die Tatsache, dass die Wohngebäude am Mehring-platz von der Neuen Heimat errichtet wurden. Michael Mönninger, früherer Architektur-redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat unlängst in seinem Buch über die Hauszeitschrift der Gewerkschaftsfirma als Chronik einer utopischen Bauepoche auch den Artikel über den Mehringplatz aus Heft Nr. 4 des Jahrgangs 1971 faksimiliert.

Akademie der Künste

In der hohen Zeit der Berlin-Euphorie nach der Wiedervereinigung brachte die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter der redaktionellen Federführung von Florian Illies einen eigenen Berlin-Teil heraus, „Berliner Seiten“. Der Schriftsteller David Wagner unternahm Stadtspaziergänge in der großen Feuilleton-Tradition des großstädtischen Flaneurwesens und inspizierte im Jahre 2000 auch den Mehringplatz. Die Eindrücke, die er notierte, entsprachen dem Handbuchwissen der damaligen Stadtgeschichte. „Die Nachkriegsveränderungen haben aus der Friedrichstraße eine Sackgasse, einen stummeligen Wurmfortsatz gemacht. Linden- und Wilhelmstraße münden nicht mehr in das ehemalige Rondell, den alten Belle-Alliance- und heutigen Mehringplatz, der aus einer Zeit überkommen ist, die sich dem Gedanken, alles neu und viel besser zu machen, noch verpflichtet fühlte. Jeder Zeit die Architektur, die sie verdient: um den runden Platz liegen Wohnbunker in Doppelreihe.“

Mehringplatz von außen

Zum Katalogbuch der Düttmann-Ausstellung hat David Wagner jetzt eine Geschichte in der Form eines Selbstgesprächs beigesteuert. Im Abstand von zwanzig Jahren blickt er viel freundlicher auf Düttmanns Bauten, und man kann vielleicht sagen, dass er sich im Gespräch mit seinem früheren Ich darüber Gedanken macht, wie vor allem er selbst, sein Blick und sein Geschmack, sich verändert hat. An dem ältesten Gebäude, das Werner Düttmann in öffentlichem Auftrag baute, einem vom Abriss bedrohten früheren Seniorenheim im Wedding, gefällt ihm nun die Beschaulichkeit. Die Gegenstimme im Kopf sagt zu ihm: „Du hast vermutlich Sehnsucht nach dem Beton deiner Kindheit. Nach der Zeit, in der deine Eltern jung und du selbst noch nicht auf der Welt warst. Nach Jahrzehnten, die du verpasst hast.“

Das Abgeschiedene wirkt heute urban

In ähnlicher Weise machen die bescheidenen Proportionen und Materialien Düttmanns Mehringplatz in der Nachbarschaft der Investitionsruinen der Gründerzeit nach 1989 attraktiv. Ist es wirklich ein Verlust, dass Wilhelmstraße und Lindenstraße die Kreislinie nicht mehr schneiden? Das Abgeschiedene hat zwischen lauter zu langen, unter der Regie von Düttmanns Nachfolger Hans Stimmann zu monoton bebauten Straßen eine eigene urbane Qualität. Spaziert man zwischen den beiden Ringen, kann es passieren, dass einem die Orientierung abhanden kommt und man nicht mehr weiß, wo Norden und Süden ist. Aber gerade diese Verlusterfahrung ist städtisch! Düttmann hat hier vielleicht die einzige Fußgängerzone angelegt, die nicht den Eindruck von okkupiertem Terrain macht, das dem städtischen Leben geraubt worden ist.

Skt. Agnes, daneben Akademie der Künste

Dass sich entlang des Rundbogens keine schicken Geschäfte angesiedelt haben, ist nicht Düttmann vorzuwerfen. Wagner machte vor zwanzig Jahren noch Witze über die Pseudo-Alt-Berliner Namen der Kneipen in diesem weiland künstlichen, längst naturalisierten Kiez. Auf den verglasten, mit Graffiti beschmierten Informationstafeln, die selbst historische Dokumente sind, wird über das Einweihungsfest 1975 mitgeteilt, dass Spanferkel und Bier ausgegeben wurden. Die  Abwertung von Düttmanns Ensemble in kleinbürgerlichem Ocker ist von der Herablassung gegenüber der dort wohnenden Bevölkerung nicht zu trennen, auch insofern kann man hier die Geschichte der Demokratisierung studieren. Das zusammenfassende Urteil der offiziellen, aber anonymen Stadthistoriker: „Seine einstige Lebendigkeit wird dem Platz durch die neue Bebauung genommen.“

Dieser amtliche Defätismus ist nicht das letzte Wort des Berliner Selbstbilds. Man kann das Platzinnere derzeit nicht betreten. Das sieht deprimierend aus, ist aber ein gutes Zeichen: Die Grünanlage wird wieder hergerichtet. In der Berliner Denkmalliste ist als Urheber der Anlage neben Scharoun und Düttmann auch der Landschaftsarchitekt Walter Rossow eingetragen, Direktor der Abteilung Baukunst der Akademie der Künste in der Ära des Präsidenten Düttmann. Klio, die Muse der Geschichte, blickt in diesem Berliner Innenhof neuen Stils als Statue von Ferdinand Hartzer nachdenklich in ihr offenes Buch. Das Kapitel Werner Düttmann in der Baugeschichte von Berlin ist noch nicht abgeschlossen. Hans Stimmann hat im vergangenen Jahr in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung noch einmal die kritische Ansicht reproduziert: „Die dem Mehringplatz bis dahin seine Bedeutung gebenden Einmündungen der Wilhelm- und Lindenstraße wurden amputiert, und die kümmerlichen Reste des südlichen Teils der Friedrichstraße enden seitdem wie in einer Großsiedlung als Fußgängerzone.“

Entwurf für den Fest- und Speisesaal eines Seniorenheims

Längst schlägt die schmutzige Düttmann-Legende in Verklärung um. Es war Stimmann, der die Friedrichstraße bis zum U-Bahnhof Hallesches Tor verlängern wollte und auf dem einstigen Belle-Alliance-Platz sein Waterloo erlebte. Für Werner Düttmann wird dort noch einmal die Sonne von Austerlitz aufgehen.

Verkehrsinsel am Kurfürstendamm gegenüber von Kranzlereck
 

Nota. - Die Friedrichstadt lag in Trümmern, sie musste neu aufgebaut werden. Das Schicksal des Belle-Alliance- bzw. Mehringplatzes war besiegelt mit dem Entschluss, die Hauptverkehrsader an ihm vorbeizuführen. Das Areal konnte nur ein stilles Eckchen werden. Entweder nobel gediegen oder plebejisch schlicht. Nobel und gediegen hätte man politisch forcieren müssen - an die Wiedervereinigung glaubte schon keiner mehr -, reali-stisch war eher eine Randlage mitten im Zentrum. Dann ist die Wiedervereinigung doch noch gekommen, aber das Kind lag längst im Brunnen. Da holt's jetzt keiner so bald wieder raus. Das kleingläubige Ocker anstelle von selbstbewusstem Weiß hat einen Schlussstrich gezogen, da hat Patrick Bahners Recht.

JE

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