Donnerstag, 2. Dezember 2021

Cranach und Kemmer in Lübeck.

 
aus FAZ.NET, 2. 12 2021                                            Hans Kemmer, Liebesgabe  1529.                                          zu Geschmackssachen

Ein Maler für alle Fälle
Zweitausendmal Erfolg, trotzdem anonym: Lübeck stellt den bisher fast unbekannten Cranach-Schüler Hans Kemmer als eigenständigen Maler vor. 

Wenn das St. Annen-Museum in Lübeck derzeit zur Besichtigung fast des gesamten Œuvres von Hans Kemmer einlädt, zucken die meisten vermutlich mit den Schultern und halten diesen für einen zeitgenössischen Lübecker Maler. Und doch kennt jeder von uns mindestens einen Kemmer – das Bildnis Martin Luthers nämlich. Oder charakteristische Reformationsbilder wie „Gesetz und Gnade“. Denn de facto waren es Maler wie Kemmer, die wesentlich zum Ruhm der bestgeführten Malerwerkstatt Deutschlands beigetragen haben, ebenjener von Lucas Cranach, der sich die sagenhafte Zahl von weit über zweitausend Bildern aus der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts verdankt.

Es bleibt ein Paradox: Während bei Dürer alle fünf Meisterschüler bekannt sind, kannte man von Cranachs Arbeitsameisen von sage und schreibe elf Mitarbeitern bis vor einigen Jahren kaum einen mit Namen und Werk. Der Erfolg der straff organisierten Werkstatt bedeutete eben auch, dass alle in ihr hinter dem Markennamen „Cranach“ zurücktraten. Als der 1495 in Lübeck geborene Kemmer nach langen anonymen Jahren unter eigenem Familiennamen mit seiner Werkstatt in Lübeck reüssierte, gut verkaufte und selbst nach dem verinnerlichten Vorbild seines Meisters in Wittenberg ausbildete, hatte er zwar in Norddeutschland einen Namen, versank aber ironischerweise alsbald nach seinem Tod wieder in der Vergessenheit, da er nach Austritt aus der Cranach-Werkstatt ja nicht mehr mit diesem deutschlandweit strahlenden Namen verbunden war.

Der Wein ist schon kaltgestellt

Der als eines der Hauptstücke der Schau stolz gezeigte Neuankauf, ein nur zwölf Zentimeter im Durchmesser großes Medaillonbildnis Luthers von 1525, wird zwar von Cranachs eigener Hand sein, weil der Malerfreund des Reformators in diesem Jahr dessen und seiner Frau Katharina von Bora Trauzeuge war; andere der großen Schar an Luther- und Melanchthon-Bildnissen, die bis heute protestantische Pfarrstuben und Kirchen „behüten“, könnten noch von Kemmer stammen – verdiente der Bildnisprofi doch auch seit der Lübecker Selbständigkeit sein Geld vor allem mit Porträtaufträgen. Vorrangig aber ist das nahe dem Luther-Tondo hängende Bild „Die Liebesgabe“, 1529 schon in Lübeck gemalt, ein Hauptwerk Kemmers, das sich mit den besten Werken seines Meisters mühelos messen kann.

Cranach d. Ä., Luther

Besagtes Paar hält Verlobungspicknick in einer bis ins kleinste Blatt ausgearbeiteten Landschaft, für die Cranach und Kemmer gleichermaßen gerühmt und gefragt waren; auch der Wein ist in einer Zinnflasche im Bach schon kaltgestellt. Das große Bild zeigt wie im Brennspiegel den Epochenwandel: Es handelt sich zwar bei Johann Wigerinck und Agneta Kerckring um die wohlhabenden Sprösse Lübecker Kaufmannsfamilien, doch steht nicht mehr die Repräsentation in einem städtischen Kontext, vielmehr die Liebesheirat zweier Individuen buchstäblich im Vordergrund des nah an den Betrachter herangezoomten Geschehens in Naturabgeschiedenheit.

Hans Kemmer, Christus und die Ehebrecherin, um 1535

Ein freundlich anteilnehmendes Pferd

Zieht man zwei Diagonalen durch das Bild, liegt exakt im Schnittpunkt der funkelnde Rubinring, den Johann soeben Agneta überreicht, was bei zwei Familien mit jeweils „Ring“ im Namen wohl kein Zufall ist. Johann Wigerinck trägt ebenso einen tiefroten Samtmantel und breitkrempigen Hut mit Rubinrot darin wie Agneta Kerckring ein hellrotes Kleid und einen weiß-roten Blütenkranz aus Nelken und Gänseblümchen in der Hand – eigentlich beides Symbole für die Freuden und Schmerzen Mariens, hier zeitgenössisch umgedeutet für Liebe und Jungfräulichkeit stehend.

Cranach d. Ä., Detail aus Christus und Maria, 1516-1520

Das freundlich an der Verlobungsszene anteilnehmende Pferd daneben ist ein direktes Zitat aus Cranachs berühmten „Parisurteil“, in dem dieser den Apfel der Aphrodite übergibt, die ihm dafür die schöne Helena verspricht – und die heißt in Lübeck natürlich Agneta. Solchen mittelschwer zu entschlüsselnden Anspielungsreichtum konnte Kemmer in Cranachs quasi täglich von zu porträtierenden Humanisten heimgesuchten Wittenberger Studio erlernen; er baut ihn noch aus und verfeinert seine Bilder so zu Konversationsstücken der gebildeten Lübecker Oberschicht.

Röntgenaufnahmen offenbarten Überraschungen

Als ein weiterer Grund für das beinah vollständige Vergessen dieses hervorragenden Malers ist ehrlicherweise allerdings auch festzuhalten: Vor der Restaurierung vieler Kemmers wie etwa des „Epitaphs Wittinghoff“ war deren künstlerische Qualität viel schwieriger zu erkennen – große Schüsselrisse, Ausbleichungen und ein stark vergilbter Firnis verkleisterten die einstige Farbbrillanz des Bildes erheblich. Im Zuge der Ausstellung mit ihren 64 Bildern wurden alle Werke Kemmers intensiv kunsttechnologisch untersucht, was erstaunliche Erkenntnisse mit sich brachte. Wer sich soziohistorisch je gefragt hat, was mit den vielen Malern nach der eher ikonophoben Reformation geschah, erhält nun durch die Arbeit der Restauratoren Antwort: Denn der oft existenzielle Einbruch der Auftragslage lässt sich gut an dem Bild „Christus und die Ehebrecherin“ von 1535 ablesen, das als eines der meistreproduzierten Programmbilder der neuen Konfession die zentrale Frage nach der Vergebung der Sünden allein an Gott delegiert, hier eben in Gestalt seines Sohnes Christu

Lucas Cranachs neue Bildform „Gesetz und Gnade“ von 1529 stellt die Lutherische Rechtfertigungslehre dem alten Glauben entgegen und wurde von seinen elf Schülern vielfach kopiert

Die Restauratoren aber fanden mittels Röntgenaufnahmen unter der heutigen Maloberschicht ein völlig anderes Bild vor. Dort liegt unter der Brust der Ehebrecherin gegenüber Christus ein Kind, dessen Beine über ihren gefalteten Händen quer im Bild liegen. Unter der Christusfigur wiederum verbirgt sich eine Maria, die das Kind einst in ihren Armen hielt, ein klassisch katholisches Bildmotiv. Das bedeutet nichts anderes, als dass der ursprüngliche altgläubige Auftraggeber wohl abgesprungen ist und Kemmer sich angesichts des in der neuen Zeit kaum mehr verkäuflichen Bildes dazu entschied, dieses mit einem lutherischen Thema zu übermalen. Ausweislich der Anlage der „Maria mit Kind“ unter dem heutigen Bild dürfte es sich um eine Komposition gehandelt haben, wie sie sich bei einem seiner malerischen Vorbilder neben Cranach, Jakob von Utrecht, mit einem ebenfalls sehr schrägliegenden Kind findet.

Nicht ohne meine Zitrone

Das Annen-Museum im gleichnamigen mittelalterlichen Kloster stellt heute noch in seinem Kreuzgang mehrere Schnitz- und Tafelaltäre von Utrechts aus, die Kemmer gekannt haben wird, und die den zweiten, noch größeren Teil der konzentrierten Ausstellung bilden. Fehlte doch bis dato der Kontext, in dem Kemmer arbeitete, gezeigt anhand des reichen Museumsbestands an Lübecker Schnitzaltären, die – siehe Jakob von Utrecht – direkt von Niederländern stammten oder stark niederländisch beeinflusst waren. Besonders klar ist das zu sehen an den beiden anderen Malervorbildern Kemmers, Hans von Köln und Benedikt Dreyer, deren prachtvoller Lübecker Antoniusaltar ebenfalls im Kreuzgang aufgestellt ist. All das Gold und der bisweilen kleinteilige wie auch kleinfigurige Erzählstil werden von Kemmer durch klare Konturiertheit sowie größere und einheitlichere Farbflächen nach dem Vorbild Cranachs ersetzt.

Dass die in den Anfangsjahren der Reformation prekäre Auftragslage sich allerdings nicht nur in Übermalungen und Einkunftseinbußen auswirkte, vielmehr auch künstlerische Freiheiten betraf, belegt indirekt das „Porträt des Hans Sonnenschein“ von 1534. Wohl schon nahezu vollendet, fand man in der Röntgenaufnahme den Kopf des reichen Patriziers von einem bildbreiten Barett bedeckt, in der Hand zum Ausweis seiner Belesenheit und seiner ausgedehnten Händel eine Schriftrolle. Offenbar verstarb Sonnenschein aber über dem Por­trätsitzen.

Hans Kemmers Passionstriptychon für den reichen Auftraggeber Gotthard von Höveln formt die alte Bildtradition des Schmerzensmannes um und versieht sie reichlich mit Schrift. 

Die Witwe gewordene Ehefrau ordnete beträchtliche Änderungen an: Der Gatte sollte nun ohne das altertümliche Barett in voller Haarpracht erscheinen – tatsächlich glänzen die glatt und sauber gekämmten Haare besonders stark. Statt der Rolle hält er eine Zitrone in der Hand, die als Frucht vom Baum des ewigen Lebens ebenjenes verheißen sollte. Es galt in der protestantischen Werkethik nun viel stärker ein „Wer zahlt, schafft an“. Die Künstler hatten getreuer als zuvor nach lutherischem Schriftwort und Auftraggeberwünschen umzusetzen. Selbst diese di­plomatische Geschmeidigkeit war Kemmer aber bei Cranach vermittelt worden, der bis zuletzt für evangelische wie katholische Auftraggeber arbeitete.

Lucas Cranach d. Ä. und Hans Kemmer – Meistermaler zwischen Renaissance und Reformation. Im St. Annen-Museum Lübeck; bis zum 6. Februar 2022. Der Katalog kostet 40 Euro

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