aus spektrum.de, 20. 12. 2021
Borderline-Persönlichkeitsstörung zuJochen Ebmeiers Realien
Von wegen lebenslänglich
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung galt lange als kaum behandelbar. Zahlreiche neurowissenschaftliche Befunde sprechen inzwischen dagegen. Sie offenbaren bei den Betroffenen Besonderheiten in der Informationsverarbeitung des Gehirns, die sich verändern lassen.
von Marlene Krauch
Wer krank ist und eine Diagnose erhält, erlebt das oft als sehr belastend. Das liegt zum einen an den Symptomen selbst, zum anderen aber auch daran, welche Vorurteile in der Gesellschaft bezüglich einer Erkrankung verbreitet sind und welche Stigmatisierung Betroffene erleben. Gerade bei psychischen Störungen hält sich beispielsweise die Annahme hartnäckig, man sei selbst verantwortlich für die Erkrankung.
Viele Vorurteile gibt es gegenüber so genannten Persönlichkeitsstörungen. Darunter versteht man anhaltende Veränderungen im Denken, Erleben und Verhalten, die überwiegend im frühen Jugendalter beginnen. Die erheblichen Schwierigkeiten, die die Betroffenen in ihrem Alltag und im Umgang mit anderen Menschen haben, werden in der Gesellschaft oft weniger als tatsächliche Erkrankung, sondern mehr als Charakterschwäche wahrgenommen

Wer
an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet, hat also mit einer
ganzen Palette von Problemen zu kämpfen. Gleichzeitig stößt er mit
seinem Verhalten bei den Mitmenschen oft auf Unverständnis und
Ablehnung, sogar in der Behandlung. Auch Therapeuten und anderes
medizinisches Personal sind manchmal überfordert von der Bandbreite an
Symptomen und schätzen die Chance auf einen Behandlungserfolg häufig als
gering ein, was zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden kann.
Menschen
mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung haben mit einer Palette von
Schwierigkeiten wie überwältigenden Emotionen zu kämpfen. Zugleich
stoßen sie bei anderen mit ihrem Verhalten häufig auf Ablehnung.
Lange
galt die Persönlichkeitsstörung als kaum heilbare chronische
Erkrankung. Neuere Befunde bringen diese Ansicht ins Wanken: Zehn Jahre
nach der Diagnose erfüllen über 80 Prozent der Patienten nicht mehr die
entsprechenden Kriterien.
Das Gehirn der Betroffenen reagiert sensibler und stärker auf emotionale Reize. Zudem sind Regionen, die Gefühle und Verhalten regulieren, weniger aktiv. Eine Psychotherapie kann nicht nur Symptome reduzieren, sondern auch Auffälligkeiten in der neuronalen Reizverarbeitung.
In den letzten 20 Jahren ist das Wissen über die Erkrankung
und ihre Therapiemöglichkeiten glücklicherweise stark gewachsen. Ganz
wesentlich haben dazu Befunde aus den Neurowissenschaften beigetragen.
Sie offenbarten, welche Besonderheiten Borderline-Patientinnen und
-Patienten beim Verarbeiten von Reizen aufweisen, und halfen so dabei,
die vielfältigen Symptome der Erkrankung besser zu verstehen.
Ungewöhnliche Stressantwort
Bereits
2001 entdeckte ein Team vom Universitätsklinikum Aachen um die
Psychiaterin Sabine Herpertz, dass die Amygdala von
Borderline-Patientinnen stärker aktiviert war als die von gesunden
Probandinnen, wenn sie negative Bilder wie ein weinendes Kind oder eine
Gewaltszene betrachteten. Die Amygdala ist Teil des limbischen Systems
im Gehirn. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der Reaktion auf und der
Verarbeitung von negativen emotionalen Reizen und ist an Stress- und
Angstreaktionen beteiligt.
Der
Befund verdeutlichte auf biologischer Ebene, was viele Menschen mit der
Persönlichkeitsstörung und deren Angehörige tagtäglich erleben: Die
Betroffenen reagieren mit auffallend intensiven und lang anhaltenden
Emotionen auf Stress. Dass ihre Amygdala ungewöhnlich stark auf negative
Bilder anspricht, konnten in den folgenden Jahren zahlreiche weitere
Studien bestätigen. Auch andere Hirnregionen wie die Insula, der
Hippocampus oder der posteriore zinguläre Kortex reagieren besonders
sensibel auf emotionale Reize.
Sensibel und schwer zu bändigen | Bildgebende
Studien offenbaren Besonderheiten in der Reizverarbeitung von Menschen
mit Borderline-Persönlichkeitsstörung. Limbische Gefühlsregionen wie die
Amygdala reagieren ungewöhnlich stark auf emotionale Reize, während
präfrontale Bereiche, die für die Regulation von Emotionen und
Handlungen wichtig sind, weniger aktiv sind. Das könnte für das von den
Betroffenen berichtete emotionale Chaos verantwortlich sein.
Weitere Hirnareale des Neokortex wie der orbitofrontale, der ventrolaterale und der dorsolaterale präfrontale Kortex sowie der dorsale anteriore zinguläre Kortex sind beim Betrachten von emotionalen Reizen bei Borderline-Patienten dagegen weniger aktiv als bei Gesunden. Sie sind involviert, wenn man kognitive Kontrolle ausübt, wenn man also seine Gefühle und sein Verhalten reguliert – zum Beispiel, indem man etwas hinterfragt und neu bewertet. Auch spielen sie eine Rolle, wenn Menschen bei Entscheidungen abwägen oder sich auf ihre Ziele fokussieren.
Bei Personen mit einer
Borderline-Persönlichkeitsstörung reagiert das Gehirn nicht nur
sensibler und stärker auf emotionale Reize. Diese Menschen haben
außerdem Schwierigkeiten, solche Hirnareale zu nutzen, die Gefühle und
Verhalten regulieren und steuern. Die Kombination von überaktivierten
limbischen Gefühlsregionen und unteraktivierten präfrontalen
Regulationsregionen könnte für das Gefühlschaos, von dem die Betroffenen
berichten, verantwortlich sein. Das könnte Sie auch interessieren: Spektrum Psychologie: Mein Emotionsprofil
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen heute davon
aus, dass die Schwierigkeit, Gefühle zu regulieren, ein Hauptmechanismus
der Erkrankung ist. Daneben reagieren Betroffene sehr sensibel und
stark auf Ablehnung und Zurückweisung, wie etwa ein Team um die
Psychologin Melanie Domsalla vom Zentralinstitut für Seelische
Gesundheit (ZI) in Mannheim 2014 zeigte. Studienteilnehmerinnen spielten
ein virtuelles Ballspiel, bei dem sie von den Mitspielerinnen entweder
regelmäßig den Ball zugespielt bekamen oder ausgeschlossen wurden. In
einer Kontrollbedingung wussten die Teilnehmerinnen, dass die
Reihenfolge des Zuspiels festgelegt und nicht beeinflussbar war.
Bei
der Auswertung der Daten entdeckten die Forscher eine höhere
Aktivierung im dorsalen anterioren zingulären Kortex der
Borderline-Patientinnen. Die Hirnregion fungiert als eine Art
Alarmsystem, sowohl bei körperlichem als auch bei sozialem Schmerz. Auf
neuronaler Ebene könnte die stärkere Aktivierung widerspiegeln, dass die
Betroffenen Ablehnung außergewöhnlich intensiv und schmerzhaft erleben.
Interessanterweise
fand sich diese gesteigerte Aktivität bei den Patientinnen unabhängig
davon, ob sie von den Mitspielerinnen tatsächlich am Spiel beteiligt
oder ausgeschlossen wurden oder ob sie davon ausgingen, dass die anderen
einfach nur den vorgegebenen Regeln folgten (Kontrollgruppe). Offenbar
reagieren Menschen mit Borderline nicht nur stärker auf Zurückweisung –
ihr neuronales Alarmsystem springt auch dann an, wenn sie gar nicht
ungerecht behandelt werden. Das könnte Sie auch interessieren: Spektrum Kompakt: Narzissmus – Schwierige Persönlichkeiten
Auch auf hormoneller Ebene zeigen sich Besonderheiten. Ein Team um den Psychiater Martin Driessen entdeckte 2012 beispielsweise bei Borderline-Patienten Störungen in der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHN-Achse), der Stressachse des Körpers. Die Betroffenen wiesen unter anderem erhöhte Spiegel von Stresshormonen wie Kortisol auf. Menschen mit Depressionen zeigten diese Auffälligkeiten ebenfalls. Die Forscher gehen davon aus, dass Traumata in der Kindheit die Stressachse beeinflussen und das Risiko für die Entwicklung einer psychischen Erkrankung erhöhen.
Außerdem fand man bei Personen mit
Borderline-Persönlichkeitsstörung niedrigere Spiegel des Hormons
Oxytozin. Es spielt eine wichtige Rolle für unser Sozialverhalten und
wird mitunter als Bindungshormon bezeichnet, weil es zum Beispiel beim
Stillen ausgeschüttet wird. Als Gegenspieler von Kortisol hilft es
dabei, Stressreaktionen im Körper abzufedern. Betroffene weisen also
offenbar nicht nur höhere Spiegel von Stresshormonen auf, sondern
gleichzeitig auch niedrigere Spiegel von Hormonen, die Stressreaktionen
abmildern. Das könnte die starken Emotionen erklären, die diese Menschen
in ihrem Alltag erleben.©
Spektrum der Wissenschaft, nach Gunderson, J.G. et al.: Borderline
personality disorder. Nature Reviews Disease Primers 4, 2018
(Ausschnitt)
Kennzeichen der Borderline-Persönlichkeitsstörung
| Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung fallen vor
allem durch Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Mitmenschen und Probleme
in der Regulation von Emotionen und Handlungsimpulsen auf. Nicht nur
ihre Gefühle und Beziehungen sind wechselhaft und instabil, sondern auch
ihre Wahrnehmung von sich selbst und mitunter von der Außenwelt. Ein
bis drei Prozent der Allgemeinbevölkerung sind betroffen, nach
Einschätzung von Experten ebenso viele Männer wie Frauen. In
psychiatrischen Kliniken liegt der Anteil bei 15 bis 28 Prozent aller
Patientinnen und Patienten. Männer begeben sich allerdings weit seltener
in Behandlung, weswegen an vielen Studien überwiegend
Borderline-Patientinnen teilnehmen.
Was eine Psychotherapie im Gehirn bewirkt
Verschiedene
Befunde der letzten Jahre sprechen dafür, dass sich die biologischen
Charakteristika bei der Verarbeitung von Reizen im Gehirn durch eine
Psychotherapie verändern lassen. 2014 untersuchte ein Team um die
Psychiaterin Marianne Goodman an der Icahn Scool of Medicine am Mount
Sinai Hospital in New York City weibliche und männliche Patienten, die
ein bestimmtes zwölfmonatiges Therapieprogramm durchlaufen hatten, die
Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT). Die US-amerikanische Psychologin
Marsha Linehan hat das Verfahren in den 1990er Jahren speziell für
Menschen mit Borderline entwickelt. In der Behandlung lernen die
Klienten verschiedene Techniken, um ihre Gefühle zu regulieren, besser
mit Stress umzugehen und in verschiedenen sozialen Situationen
angemessen zu reagieren. Außerdem sind Achtsamkeitsübungen ein wichtiger
Bestandteil der Therapie, deren Wirksamkeit sehr gut belegt ist. Nach
einem Jahr DBT reagierte die Amygdala der Teilnehmenden auf wiederholt
präsentierte negative Reize schwächer als zuvor. Zudem konnten die
Personen ihre Gefühle nun besser regulieren.
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Ein Team um Falk Mancke vom Universitätsklinikum Heidelberg entdeckte 2018 nach einer dreimonatigen Behandlung mit der Dialektisch-Behavioralen Therapie strukturelle Veränderungen im Gehirn von Borderline-Patientinnen, unter anderem in solchen Regionen, die mit der Regulation von Gefühlen zusammenhängen. Die Forscher verglichen die Ergebnisse mit einer weiteren Gruppe von Borderline-Patientinnen, die im selben Zeitraum entweder gar keine Behandlung erhalten hatten oder lediglich eine Standardbehandlung, zu der zum Beispiel eine Krisenintervention gehörte.
Wer eine Dialektisch-Behaviorale Therapie durchlaufen hatte, zeigte beispielsweise eine Zunahme der grauen Substanz im anterioren zingulären Kortex und im Gyrus frontalis inferior sowie in Regionen, die mit dem Mentalisieren zusammenhängen, wie dem Gyrus temporalis superior.
Unter Mentalisieren versteht
man die Fähigkeit, sowohl dem eigenen als auch dem Verhalten anderer
Menschen einen Sinn zuzuschreiben, indem man die möglichen Beweggründe
dahinter zu verstehen versucht. Personen mit
Borderline-Persönlichkeitsstörung haben damit häufig Schwierigkeiten und
können sich nicht so gut in andere hineinversetzen. Oft fällt es ihnen
schwer, die eigenen Gefühle und Intentionen und die ihres Gegenübers
voneinander abzugrenzen. Das kann zu emotionalem Chaos und Problemen im
Umgang mit anderen führen. Neben der Vermittlung von Techniken zur
Emotionsregulation ist es daher ein wichtiges Ziel der Psychotherapie,
die Fähigkeit zum Mentalisieren zu verbessern.Spektrum Psychologie: Narzisstische Eltern
Neurowissenschaftliche Erkenntnisse offenbarten nicht nur,
dass eine gezielte und auf die Patienten und ihre Symptome abgestimmte
Psychotherapie durchaus helfen kann und zudem auf neuronaler Ebene
Veränderungen anstößt. Sie haben auch dazu beigetragen, ein weiteres
Vorurteil anzufechten: Lange gingen Experten und Expertinnen davon aus,
dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung stabil und kaum behandelbar
ist. Wer die Diagnose einmal bekam, wurde sie meist sein Leben lang
nicht mehr los. Die Sichtweise hält sich bis heute hartnäckig.
Dabei
verdeutlichten mehrere Längsschnittuntersuchungen in den vergangenen
Jahren, dass sich die Symptome wie emotionale Instabilität, das Gefühl
von Leere oder Impulsivität bei einem Großteil der Patienten
zurückbilden. Zehn Jahre nach der Diagnose erfüllten über 80 Prozent von
ihnen nicht mehr die Kriterien für eine
Borderline-Persönlichkeitsstörung.
© Yousun Koh, nach Gunderson, J.G. et al.: Ten-year
course of borderline personality disorder: psychopathology and function
from the Collaborative Longitudinal Personality Disorders study. Archives of General Psychiatry 68, 2011, fig. 1A (Ausschnitt)<
Symptom, lass nach! | Zehn Jahre nach der
Diagnose erfüllten mehr als 80 Prozent der Patienten mit
Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht mehr die Kriterien für die
Erkrankung. Das spricht gegen die nach wie vor verbreitete Annahme, dass
es sich um eine chronische und kaum behandelbare Krankheit handelt. Die
Remission verläuft allerdings langsam. Im Vergleich: Ein Jahr nach der
Diagnose galten 80 Prozent der Personen mit einer Depression als
remittiert, aber nur rund 15 Prozent derjenigen mit
Borderline-Persönlichkeit. Zudem berichteten Letztere auch nach Jahren
noch von Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen und von
Problemen im Beruf und Alltag.
Trotz aller Symptomverbesserung bleiben jedoch zahlreiche Schwierigkeiten bestehen. Viele Betroffene sind wenig zufrieden mit ihrer beruflichen Situation, ihrer Partnerschaft und ihren Freundschaften – selbst wenn andere Probleme wie instabile Stimmung oder selbstverletzendes Verhalten bereits seit einiger Zeit in den Hintergrund getreten sind.
Die Symptomremission allein sei ein unzureichender Indikator für die Genesung, so das Fazit von Marie-Luise Zeitler und ihren Kollegen vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Sie hatten für ihre 2020 veröffentlichte Studie 58 Patienten untersucht, die vor 12 bis 18 Jahren die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erhalten hatten. Während 81 Prozent nicht mehr die Kriterien dafür erfüllten, blieben die Lebenszufriedenheit und das allgemeine Funktionsniveau deutlich hinter den Werten der Normalbevölkerung zurück. Letzteres umfasst, inwiefern die Personen am gesellschaftlichen Leben teilhaben, einen Beruf ausüben und sich selbst versorgen. Nur etwa die Hälfte berichtete von einer mit Gesunden vergleichbaren Lebenszufriedenheit. Gerade das soziale Miteinander ist trotz Symptomverbesserungen oft von Konflikten und Frustration geprägt.
Die
2017 veröffentlichten Ergebnisse von Edda Bilek und ihren Kollegen,
ebenfalls am ZI, sind daher besonders ermutigend. Sie liefern auf
biologischer Ebene einen Hinweis darauf, dass sogar die sozialen
Schwierigkeiten abnehmen können, die Betroffene täglich im Umgang mit
anderen Menschen erleben. Die Forscher verglichen die Hirnaktivität bei
Interaktionen einer gesunden Teilnehmerin entweder mit einer akut
erkrankten Borderline-Patientin oder mit einer ehemaligen Patientin, bei
der sich die Symptomatik zurückgebildet hatte.
Der
Fokus lag dabei auf der so genannten neuronalen Kopplung: Interagieren
zwei Menschen miteinander, zeigen bestimmte Hirnregionen bei beiden ein
ähnliches Aktivierungsmuster. Das gilt zum Beispiel für den
temporo-parietalen Übergang zwischen dem Schläfen- und dem
Scheitellappen, der wichtig für die Verarbeitung sozialer Informationen
und für das Mentalisieren ist. Litt eine der beiden Teilnehmerinnen an
einer akuten Borderline-Persönlichkeitsstörung, war die neuronale
Kopplung geringer; die Gehirne arbeiteten also weniger synchron. Diese
neuronale Auffälligkeit passt zu den erheblichen sozialen Problemen, von
denen Betroffene und Angehörige berichten. Interessanterweise zeigte
sich kein Kopplungsdefizit bei ehemaligen Borderline-Patientinnen, sie
unterschieden sich nicht von gesunden Probanden.
Ein Team um den
Biometriker Nikolaus Kleindienst beobachtete 2020 eine weitere
interessante Veränderung bei remittierten Patientinnen. Die Forscher
legten Teilnehmerinnen Zeichnungen des weiblichen Körpers vor und baten
sie, farblich zu markieren, welche Regionen sie an ihrem eigenen Körper
mögen und welche nicht. Während akut erkrankte Personen ein negatives
Körperbild zeigten, nahmen jene, bei denen sich die Symptomatik
zurückgebildet hatte, den eigenen Körper insgesamt positiver wahr.
Verbesserte Interozeption
Dazu passen auch die Befunde von Laura Müller und ihren Kollegen am Universitätsklinikum Heidelberg. Frühere Untersuchungen hatten einen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit gefunden, Körpersignale wie den Herzschlag zu spüren, und der, Gefühle wahrzunehmen. Die Heidelberger Psychologen zeichneten Spannungsschwankungen des Gehirns mittels Elektroenzephalografie auf. Bei dem Verfahren messen Elektroden an der Kopfhaut die elektrische Hirnaktivität, die als regelmäßiges Kurvenmuster grafisch abgebildet werden kann. Es gibt Aufschluss über Nervenzellaktivitäten im Gehirn. Die Forscher suchten nach einer ganz bestimmten Welle: Sie gilt als Indikator dafür, wie gut jemand den eigenen Herzschlag wahrnehmen kann. Tatsächlich war der Ausschlag bei jenen Teilnehmerinnen größer, die ihre Gefühle besser regulieren konnten. Er unterschied sich deutlich zwischen Borderline-Patientinnen und Gesunden. Bei Patientinnen, deren Symptome zurückgegangen waren, war die Welle stärker als bei akut erkrankten Personen, aber weniger stark als bei gesunden Teilnehmerinnen. Das spricht für die Annahme, dass sich die Körperwahrnehmung von remittierten Patienten verbessert und immer mehr der von Gesunden ähnelt.
Bei solchen Studien, die den Ist-Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt erfassen, könnten die Unterschiede zwischen remittierten und akuten Patienten jedoch auch schon vorher bestanden haben. So wäre es denkbar, dass Personen, deren Symptome zurückgegangen sind, von Anfang an neuronale Besonderheiten aufwiesen. Um solche Effekte auszuschließen, braucht es künftig Längsschnittuntersuchungen über mehrere Monate und Jahre.
Die Geschichte der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist geprägt von viel Leid, das die Betroffenen durch die Erkrankung mit ihren vielfältigen Symptomen, aber auch durch Unverständnis, Falschbehandlungen und Ausgrenzung erfahren haben. Darüber hinaus erzählt sie davon, wie es der Forschung gelingen kann, mehr Licht in das Verständnis psychischer Erkrankungen zu bringen und neue Therapiemöglichkeiten zu etablieren.
Zahlreiche Befunde aus den
Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass
die Persönlichkeitsstörung heute als ein komplexes Zusammenspiel aus
biologischen und Umweltfaktoren verstanden wird. Sie haben offenbart:
Die Erkrankung muss nicht zwingend mit lebenslangen schweren
Beeinträchtigungen verbunden sein, vielmehr können die Symptome
erfolgreich psychotherapeutisch behandelt werden und gehen bei einem
Großteil der Patienten nach einigen Jahren zurück. Künftig werden
Hirnforscherinnen und Hirnforscher womöglich mit weiteren Vorbehalten
gegenüber den Patienten aufräumen – und Hinweise dafür liefern, wie es
den Betroffenen gelingen kann, trotz mancher Schwierigkeiten ein
erfülltes Leben zu führen
Marlene Krauch
Die promovierte Neurowissenschaftlerin und Psychologische
Psychotherapeutin arbeitet in einer psychotherapeutischen Praxis sowie
am Institut für Medizinische Psychologie an der Universität Heidelberg.
Für ihre Doktorarbeit hat Krauch die neurobiologischen Grundlagen der
Borderline-Persönlichkeitsstörung untersucht und dafür auch Patientinnen
verschiedener Altersgruppen verglichen.
Nota. - Bemerkenswert, wie das 'Syndrom' zu seinem Namen kam: Seit sich von hundert Jahren die Psychonanlyse in der Nervenheilkunde breitmachte, unterschied man landläufig zwischen Neurosen und Psychosen: Neurosen konnte sie heilen, Psychosen nicht. Dann kamen auch psychonalytische Psychosetheorien auf und es erschloss sich ein neuer Geschäftszweig.
Je weiter die Industrie um sich griff, umso stärker auch die Nachfrage, und im Laufe der Zeit häuften sich die Krankheitsbilder, die man weder hier noch dort unterbringen konnte. Die siedelte man auf der borderline an, der Grenzlinie, wo man die Symptomatiken nicht eindeutig unterscheiden konnte und von einem Syndrom redete. Narzissmus, Histrionismus usw. fielen auch darunter, bis man die Erscheinnungsbilder so weit ausdifferenzierte, dass nun das Borderline-Syndrom als eine eigene Spezifizität erscheint.
JE
Nota.
Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn
Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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