Samstag, 25. Dezember 2021

Die Erklärung von Erscheinungen aus Begriffen.

rauchzeichen                                                                                                         zu  Philosophierungen

Zur Erklärung gegebener Erscheinungen können keine andere Dinge und Erklärungsgrün-de, als die, so nach schon bekannten Gesetzen der Erscheinungen mit den gegebenen in Verknüpfung gesetzt worden, angeführt werden. Eine transzendentale Hypothese, bei der eine bloße Idee der Vernunft zur Erklärung der Naturdinge gebraucht würde, würde daher gar keine Erklärung sein, indem das, was man aus bekannten empirischen Prinzipien nicht hinreichend versteht, durch etwas erklärt werden würde, davon man gar nichts versteht.  ... 

Ordnung und Zweckmäßigkeit in der Natur muß wiederum aus Naturgründen und nach Naturgesetzen erklärt werden, und hier sind selbst die wildesten Hypothesen, wenn sie nur physisch sind, erträglicher, als eine hyperphysische, d.i. die Berufung auf einen göttlichen Urheber, den man zu diesem Behuf voraussetzt. Denn das wäre ein Prinzip der faulen Ver-nunft (ignava / ratio), alle Ursachen, deren objektive Realität, wenigstens der Möglichkeit nach, man noch durch fortgesetzte Erfahrung kann kennen lernen, auf einmal vorbeizuge-hen, um in einer bloßen Idee, die der Vernunft sehr bequem ist, zu ruhen. Was aber die ab-solute Totalität des Erklärungsgrundes in der Reihe derselben betrifft, so kann das keine Hindernis in Ansehung der Weltobjekte machen, weil, da diese nichts als Erscheinungen sind, an ihnen niemals etwas Vollendetes in der Synthesis der Reihen von Bedingungen gehoffet werden kann.
___________________________________________________________________ Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 654

 

Nota. - Wo immer Kant etwas dogmatisch nennt, meint er dies und nichts anderes: die Er-klärung einer wirklichen Erscheinung aus bloßen Begriffen. Der kanonische Satz lautet: Anschauung ohne Begriff ist blind, aber Begriff ohne Anschauung ist leer - oder umge-kehrt 

Die realen Wissenschaften gehen in ihren Laborversuchen oft genug in diesem Sinn 'dog-matisch' vor, indem sie Begriffe ohne eigene Prüfung übernehmen, die aber im Entwick-lungsgang ihrer jeweiligen Wissenschaft doch von Vorgängern und Zeitgenossen geprüft und bestätigt wurden. Das unterscheidet Wissenschaft von Alchemie und anderm Hokus-pokus: Es forscht nicht ein jeder privat für sich und sucht sein Geheimnis zu bewahren, sondern Wissenschaft geschieht in einem öffentlichen Betrieb, weil anders ihr Fortschreiten und Aufbauen auf Ergebnissen gar nicht möglich wäre.

Es wird immer wieder geschehen, dass neue Forschungsergebnisse die Überprüfung und Korrektur und gar Ausmusterung bewährter Begriffe und Theorien erfordern. Doch auch das wird zum öffentlichen Sachverhalt, denn der Prüfstein der Wissenschaften ist ihre Be-währung in der großen Industrie.

Nicht so in der Philosophie. Philosophische Schulen können sich auch dann halten, wenn keiner was mit ihnen anfangen kann - und erst recht, wenn viele mit ihnen etwas anfangen können; eine literarische oder akademische Karriere zum Beispiel. In der Philosophie ist Dogmatismus möglich

Freilich nicht unter eignem Namen. 


Gute Gelegenheit für eine Reflexion.

Begriffsfetischisten - Dogmatiker - finden wir heute unter den Anhängern jener sprachana-lytischen Schule, die sich eigenartigerweise Systematiker nennen. Sie scheinen zu glauben, wenn sie die Begriffe nur unmissverständlich genug definiert hätten, wäre irgendwas gewon-nen. Doch ist ihnen von ihrem Stammvater Wittgenstein her an der Erklärung dessen, was wirklich ist und "erscheint"- nur davon redete Kant - gar nichts gelegen, sondern nur an der Festellung dessen, was der Fall ist. 'Der Fall' ist unter seinen Prämissen dasjenige, was die Logik feststellen kann. Das Erscheinende ist ihm gehupft wie gesprungen. 

*

Die sind von Kant also gar nicht gemeint, die hätten ihn bloß befremdet. Die eigentlichen Dogmatiker sind heutzutage gerade die, die gegen alle Dogmen ihre Messer wetzen: Any-thing goes, dogmatisch ist, wer zwischen wahr und unwahr unterscheiden will: Wahrheit gibt es nicht, allenfalls Wahrheiten, Wirklichkeit ist ein Patchwork von so oder anders

Das sind nicht pervertierte Dogmatiker, sondern verlogene. 

Dogmatismus ist nicht die Ursache seiner selbst. Seine Ursache ist, wie Kant trefflich for-muliert, die ratio ignava, die faule Vernunft. Kritisch sind sie, aber hallo, doch bloß bis zu dem Punkt, wo es anstrengend wird; ich meine, wo es Konsequenz erfordert. Haben sie irgendwo eine Teilwahrheit aufgestöbert, sind sie's zufrieden und wenden sich der nächst-besten zu. Sie sind einfach zu faul, an irgendeiner Stelle bis zum Schluss zu gehen. Sie sind ein Hohn der kritischen Philosophie.

Akademische Posten kann man auch so ergattern, oder doch wenigstens literarischen Ruhm.

JE

 

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