aus spektrum.de, 17.12.2021 zuJochen Ebmeiers Realien
von Scott Barry Kaufman
Angeblich bringen spirituelle Praktiken wie Yoga, Meditation und Energieheilung das Ego zur Ruhe.
Sie sollen helfen, mit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt in Kontakt zu
kommen, auch mit den weniger erwünschten Seiten der eigenen Person. Und
sie haben das Potenzial, unser Mitgefühl und unsere bedingungslose
Wertschätzung für andere zu fördern.
Doch
das ist leichter gesagt als getan. Denn der Mensch hat ein unstillbares
Bedürfnis, sich in einem positiven Licht zu sehen und aufzuwerten. Der
indische Philosoph Sri Aurobindo notierte: »In jedem Augenblick muss
[der Suchende] ein wachsames Auge auf die Maskerade des Egos und die
Hinterhalte dunkler Mächte haben, die sich selbst als einzige Quelle von
Licht und Wahrheit inszenieren und deren göttlichen Schein nutzen, um
sich der Seele des Suchenden zu bemächtigen.« Dieser Artikel ist enthalten in Spektrum Psychologie, Signale aus dem Körperinneren
Ähnliches schrieb der Buddhist Chögyam Trungpa in seinem Buch
»Cutting Through Spiritual Materialism« über den spirituellen Pfad: »Es
gibt zahlreiche Abwege, die in eine verdrehte egozentrierte Form der
Spiritualität führen. Wir können uns selbst so täuschen, dass wir
meinen, uns spirituell zu entwickeln, während wir stattdessen unseren
Egozentrismus mit spirituellen Praktiken stärken.«
Auch
Psychologen haben darauf aufmerksam gemacht, dass Spiritualität der
Selbstaufwertung dienen kann. Einer der Väter der Psychologie, William
James, sagte: »Jede Fähigkeit, die ihre Bedeutung für das Selbst erhöht,
bringt wahrscheinlich die Neigung zur Selbstaufwertung hervor. Es gibt
anscheinend unter den menschlichen Fähigkeiten keine einzige Ausnahme
davon. Dieses ›self-centrality principle‹ scheint ein untrennbarer Teil der menschlichen Natur zu sein.«
Das
gilt auch für den Bereich der Spiritualität. Die Selbstaufwertung mit
Hilfe spiritueller Praktiken kann uns glauben machen, wir würden als
Menschen wachsen, während eigentlich nur unser Ego wächst. Einige
Psychologen haben gezeigt, dass spirituelle Selbstaufwertung zu einem
Syndrom führt, dass sie »Ich-bin-erleuchtet-und-du-nicht« nennen. Es
handle sich um einen »spirituellen Bypass«: Spirituelle Überzeugungen, Praktiken und Erfahrungen würden genutzt, um sich den eigenen Problemen nicht stellen zu müssen. In meinem Buch »Transcend« bezeichne ich das als »Pseudo-Transzendenz« – eine Transzendenz, die auf einem sehr wackligen Fundament steht.
Was bedeutet Transzendenz?
Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »Überschreitung, Durchdringung«. Bei der Selbsttranszendenz geht es darum, die eigene Begrenztheit zu überwinden und mit dem eigenen Sein über sich hinauszuweisen.
Aber ist das wirklich so ein großes Problem?
Was sagt die Wissenschaft zu einer der Paradoxien unserer Zeit: Wenn
Yoga das Ego zum Schweigen bringen und die Aufmerksamkeit nach innen
richten soll, warum fotografieren sich dann so viele in Yoga-Posen für
Instagram?
In
den vergangenen Jahren hat die Forschung das Phänomen des spirituellen
Narzissmus und der spirituellen Selbstaufwertung entdeckt. In einer großen Studienreihe
untersuchte der Psychologe Jochen Gebauer von der Universität Mannheim
gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen die Wirkung von Yoga und
Meditationspraktiken. In ihrem ersten Experiment befragten sie
93 Yoga-Übende wiederholt über 15 Wochen hinweg direkt nach den Training
und nach einer mindestens 24-stündigen Yoga-Pause.
Wie wichtig ihnen Yoga für ihr Selbst war (die »Selbst-Zentralität« von Yoga), wurde an Aussagen gemessen wie »Ein achtsamer Fokus auf die Übungen während des Yoga-Kurses ist für mich wichtig«. Um die Selbstaufwertung zu erfassen, gab es Fragen zum Selbstwertgefühl, zur Selbstbeurteilung im Vergleich mit anderen sowie zu dem weniger bekannten gemeinschaftsbezogenen (»kommunalen«) Narzissmus. Wer dazu neigt, bestätigt Aussagen wie »Ich werde einmal für meine guten Taten berühmt sein«, hält sich für überaus hilfsbereit und glaubt, im Alleingang die Welt retten zu können. Die Forschung zeigt, dass diese Art von Narzissmus mit typisch narzisstischen Eigenschaften wie Anspruchsdenken, Arroganz und übersteigertem Selbstvertrauen zusammenhängt.
Die Gruppe um Jochen Gebauer beobachtete kurz nach den Yoga-Übungen einen höheren Grad an Selbst-Zentralität und Selbstaufwertung. Außerdem fand sie Hinweise darauf, dass die verstärkte Selbstaufwertung für das gesteigerte Selbstwertgefühl und Wohlbefinden nach dem Yoga eine Schlüsselrolle spielt. Die Vorteile spiritueller Praktiken könnten also tatsächlich auf Ego-Boosting zurückgehen – nicht auf eine Mäßigung des Egos.
In einer zweiten Studie untersuchte das Forschungsteam 162 Meditierende über vier Wochen. Wiederholt sollten sie nach ihren Übungen beurteilen, wie wichtig die Meditation für sie war und wie es um ihr Selbstwertgefühl bestellt war. Diesmal wurde auch das Wohlbefinden miterhoben, darunter Glück und Lebenszufriedenheit, gute Beziehungen, das Gefühl von Autonomie und persönlichem Wachstum, Sinnerleben und Selbstakzeptanz. Zur Bedeutung der Meditation für das Selbst gab es Fragen wie »Wie wichtig ist es für dich, keinen Neid zu empfinden?«, und Selbstaufwertung wurde gemessen mit Aussagen wie »Im Vergleich zum Durchschnitt der anderen Teilnehmenden bin ich nicht neidisch«. Nach der Meditation stieg deren Bedeutung für das Selbst, und das verbesserte Wohlbefinden ließ sich mit einer verstärkten Selbstaufwertung erklären.
Die
Versuchspersonen kamen in beiden Studien aus dem westlichen
Kulturkreis; ihre Yoga- und Meditationspraktiken (unter anderem
Hatha Yoga und die Meditation der Liebe und Güte) lassen sich also nicht
unbedingt auf alle Arten von Yoga und Meditation übertragen. Doch die
verstärkte Selbstaufwertung nach Yoga und Meditation wurde selbst unter
Fortgeschrittenen beobachtet. Das legt nahe, dass – anders als
erwartet – die Praktiken das Ego boosten und dass es dieser Ego-Boost
ist, der zum gesteigerten Wohlbefinden beiträgt.Das könnte Sie auch interessieren: Spektrum Psychologie: Selbstwert
Noch stärker als mit dem Selbstwertgefühl war die spirituelle Überlegenheit allerdings mit gemeinschaftsbezogenem Narzissmus verbunden – ein Hinweis auf »spirituellen Narzissmus«. Ein gesundes Selbstwertgefühl entsteht auf natürliche Weise aus authentischem Können und guten Beziehungen. Wenn spirituelle Praktiken das Selbstwertgefühl steigern, muss das noch kein Zeichen für spirituellen Narzissmus sein. Problematisch ist das Bemühen um einen hohen Selbstwert, nicht dieser selbst.
Die Forschenden entdeckten aber Unterschiede je nach Art der spirituellen Praxis. Das Überlegenheitsgefühl war höher bei denen, die sich mit Energiearbeit befassten; sie hielten sich in Sachen Achtsamkeit sogar für bewanderter als jene, die selbst Achtsamkeit praktizierten. Die Energieheiler zeigten auch eher ein übersteigertes Selbstvertrauen bei übernatürlichen Themen, zum Beispiel »Wenn ich zufällig ein Buch auf einer Seite öffne, die für mich besondere Bedeutung hat, ist das kein Zufall« oder »Ich kann anderen positive Energie aus der Ferne schicken«.
Auch wenn es sich um eine Korrelationsstudie handelt, so ist es doch wahrscheinlich, dass der Einfluss in beide Richtungen geht. Das heißt: Spirituelle Praktiken können das narzisstische Selbst aufbauen, also das Anspruchsdenken und das Gefühl fördern, etwas Besonderes zu sein. Aber ebenso wahrscheinlich ist es, dass sich gerade jene Menschen von spirituellen Praktiken angesprochen fühlen, die sich in diesem Sinne weiterentwickeln wollen. Wie die Forschenden anmerken, ist die Vorstellung, das eigene Innenleben zu ergründen und erleuchtet zu sein, für narzisstische Menschen besonders attraktiv. Ihr Fazit: »Das Motiv der Selbstaufwertung ist so mächtig, dass es Methoden vereinnahmt und für sich nutzen kann, die eigentlich das Ego transzendieren sollen.«
Der
Pfad zur spirituellen Erleuchtung könnte auf altbekannte weltliche
Irrwege führen, wie Selbstaufwertung, die Illusion der Überlegenheit,
Engstirnigkeit und Vergnügungssucht, und das alles unter dem Deckmantel
von vermeintlichen »höheren« Werten.
Gesunde Transzendenz erfordert, sich der Realität zu stellen
Gibt
es einen Weg, den Verlockungen des spirituellen Narzissmus zu
widerstehen? Ich denke ja. Doch der erste Schritt ist, sich bewusst zu
machen, wie unglaublich schwierig das ist. Ein ernstes Hindernis ist die
Art, wie spirituelle Praktiken angepriesen werden. Die
Achtsamkeitsmeditation ist in den USA ein großes Geschäft; ihre
Versprechungen haben eine milliardenschwere Industrie
hervorgebracht. Im westlichen Kulturkreis ist Yoga die beliebteste
Übung für Körper und Geist. Viele Programme werben damit, Stress und
Ängste zu mindern, Essgewohnheiten und den Schlaf zu verbessern,
Selbstvertrauen, Kreativität, Aufmerksamkeit, Leistung, Erfolg und sogar
das Glück zu steigern.
Aber gesunde Transzendenz erfordert, sich der Realität zu stellen, mit Gelassenheit und liebevoller Güte. Es geht nicht darum, Teile von sich abzuspalten und sich über den Rest der Menschheit zu erheben, sondern darum, die Wirklichkeit klar zu sehen. Oder wie die Psychotherapeutin Nancy Colier sagt: Der Sinn von Achtsamkeit ist, »wahrzunehmen, was in uns selbst passiert, ohne es zu bewerten oder verändern zu wollen«. Es sei gefährlich, wenn der achtsame Zeuge zu einer anderen Art von Ego wird, »einer neuen Identität, die wir mit Stolz zur Schau tragen«.
Man möge mich nicht falsch verstehen: Ich freue mich über all die verschiedenen komplizierten Yoga-Posen auf Instagram. Doch der eigentliche Sinn von Yoga ist nicht, dass körperlich attraktive Menschen stolz vorführen, wie sie ihren Körper zu einer Brezel formen.
Vielmehr haben wir am meisten davon, wenn wir die spirituellen Praktiken nicht als Werkzeug nutzen, um irgendwelche Bedürfnisse zu befriedigen, ob nach Sicherheit, Zugehörigkeit oder Selbstaufwertung. Wir können reifer, weiser, mitfühlender werden und Akzeptanz sowie bedingungslose Wertschätzung entwickeln, wenn wir uns darin üben, das eigene Denken und Verhalten zu beobachten, und das clevere Ego dabei erwischen, wie es aus den Praktiken einen Nutzen ziehen will.
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