Freitag, 6. Mai 2022

Das Verlangen nach Gewissheit.

Paul Feyerabend                                                                     aus Philosophierungen

2 Das intellectuale Gewissen. — Ich mache immer wieder die gleiche Erfahrung und sträube mich ebenso immer von Neuem gegen sie, ich will es nicht glauben, ob ich es gleich mit Hän-den greife: den Allermeisten fehlt das intellectuale Gewissen; ... Ich will sagen: die Allermei-sten finden es nicht verächtlich, dieses oder jenes zu glauben und darnach zu leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewusst worden zu sein und ohne sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben, — die begabtesten Männer und die edelsten Frauen gehören noch zu diesen "Allermeisten." 

Was ist mir aber Gutherzigkeit, Feinheit und Genie, wenn der Mensch dieser Tugenden schlaffe Gefühle im Glauben und Urtheilen bei sich duldet, wenn das Verlangen nach Ge-wissheit ihm nicht als die innerste Begierde und tiefste Noth gilt, — als Das, was die höhe-ren Menschen von den niederen scheidet! Ich fand bei gewissen Frommen einen Hass ge-gen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür: so verrieth sich doch wenigstens noch das böse intellectuale Gewissen! 



Aber inmitten dieser rerum concordia discors und der ganzen wundervollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen — das ist es, was ich als verächtlich empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann suche: — irgend eine Narrheit überredet mich immer wieder, jeder Mensch habe diese Empfindung, als Mensch. Es ist meine Art von Ungerechtigkeit.
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Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Buch 4. 1882


Nota I. - Das ist kein philosophisches Argument, sondern ein metaphilosophisches Motiv, und lässt sich nicht begründen, sondern muss gerechtfertigt werden.


Nota II. - Hätten Sie von Nietzsche erwartet, dass er aus der Dynamik seiner heroisch-nihi-listischen Lebensphilosophie heraus die Notwendigkeit der Kritischen alias Transzendental-philosophie behauptet? - Ebendas hat er hier getan; und sei es nur der Schönheit halber.
JE
28. 7. 14

 

 

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