
aus spektrum.de, 18. 4. 2022
Rezension zu Jochen Ebmeiers Realien
»Mathe ohne Zahlen«
Über das Rechnen hinaus
Schulmathematik beschränkt sich meist auf Rechnen. Milo Beckman zeigt, dass es auch anders geht: mit einem verständlichen Werk, das verschiedenste Facetten des Fachs beleuchtet. Eine Rezension.
von Heinz Klaus Strick
Als
vor einem Jahr die englischsprachige Originalfassung des Taschenbuchs
erschien, genügte dem amerikanischen Dutton-Verlag noch der schlichte
Titel »Math without numbers« – ohne jeglichen Zusatz. Ob der deutsche
Verlag befürchtete, dass der Titel »Mathe ohne Zahlen« nicht genügend
Käufer findet?
Der
Untertitel »Was Lehrer für sich behalten« passt genauso wenig wie der
ebenfalls auf der Titelseite aufgedruckte Hinweis »Nie mehr Angst vor
Algebra, Geometrie & Co«. Denn zum einen kann ich mir nicht
vorstellen, dass Lehrerinnen und Lehrer, die sich mit den Themen aus
Beckmans Buch beschäftigt haben, die Ideen für sich behalten (was für
ein Bild von Schule hat der verantwortliche Verlagsredakteur?), zum
anderen weiß ich nicht, wie Algebra- und Geometriekenntnisse durch das
vorliegende Buch verbessert werden, denn die angesprochenen Themen haben
absolut nichts mit Schulgeometrie und -algebra zu tun.
Autor
des Werks ist der 1995 geborene Milo Beckman, der sich schon früh für
mathematische Themen interessierte. Im Alter von acht Jahren nahm er am
Mathematikunterricht einer Highschool teil, mit 13 Jahren leitete er das
New Yorker Matheteam, das regelmäßig an Mathewettbewerben teilnimmt.
Mit 15 ging er nach Harvard und absolvierte das Grundstudium. Danach war
er als Mathematiklehrer in verschiedenen Ländern tätig, schrieb
zahlreiche populäre Artikel für verschiedene Zeitungen und
Zeitschriften, verfasste unter anderem Kreuzworträtsel für die »New York
Times« und absolvierte an der Columbia University erfolgreich ein
Studium über philosophische Grundlagen der Physik.
Wenn man (aus einem Interview mit ihm) erfährt, dass Edwin A. Abbotts 1884 erschienener Roman »Flatland« und Hans Magnus Enzensbergers »Zahlenteufel« (1997) seine Lieblingslektüren in Kinderjahren waren, versteht man Beckmans außergewöhnlichen Zugang zur Mathematik: Schulalgebra und -geometrie langweilten ihn, Schulanalysis war vermutlich eher uninteressant, da sie zu kalküllastig ist.
Und so möchte er die Leser und Leserinnen seines Buchs teilhaben lassen an (wie er überzeugt ist) spannenderen Themen. Gegenüber vom Inhaltsverzeichnis findet man die Zeichnung eines Baums, dessen Hauptäste die Aufschriften Topologie, Analysis und Algebra tragen, darüber schwebt das Wort Modellierung. In der unteren Hälfte des Stamms ist ein Schild mit der Beschriftung Schulmathematik angebracht – was auch immer das an dieser Stelle zu bedeuten hat.
Beckman beginnt das Topologie-Kapitel mit »Formen«, erläutert anhand etlicher Grafiken – das Buch lebt von den zahlreichen genialen, manchmal cartoonartigen Kritzelbildern des New Yorker Künstlers M. Erazo –, dass Kreise, Dreiecke und Vierecke topologisch gleich sind. Zudem beweist er (ja, formal so richtig mit QED zum Abschluss), dass es unendlich viele Formen gibt, da man sie durch Zusatzlinien beliebig ergänzen kann.
Im nächsten Abschnitt beschäftigt sich der Autor mit Mannigfaltigkeiten, die er mit folgenden Worten charakterisiert: »Eine Form wird Mannigfaltigkeit genannt, wenn sie keine besonderen Punkte hat: keine Endpunkte, keine Schnittpunkte, keine Kantenpunkte, keine Verzweigungspunkte. Sie muss überall gleich sein.« Aus dieser umgangssprachlichen Beschreibung wird schnell klar, dass nur der Kreis und die unendliche Linie als eindimensionale Mannigfaltigkeit in Frage kommen.
Im nächsten Abschnitt beschäftigt sich der Autor mit Mannigfaltigkeiten, die er mit folgenden Worten charakterisiert: »Eine Form wird Mannigfaltigkeit genannt, wenn sie keine besonderen Punkte hat: keine Endpunkte, keine Schnittpunkte, keine Kantenpunkte, keine Verzweigungspunkte. Sie muss überall gleich sein.« Aus dieser umgangssprachlichen Beschreibung wird schnell klar, dass nur der Kreis und die unendliche Linie als eindimensionale Mannigfaltigkeit in Frage kommen.

Als zweidimensionale Mannigfaltigkeiten findet man analog dazu die Sphäre und die unendliche Ebene. Als weitere Mannigfaltigkeit stellt Beckman dann den Torus vor, eine Art Donut, dessen charakteristisches Merkmal das Loch in der Mitte ist. Diese Form lässt sich dann weiter zu einer unendlichen Familie von Tori, mit weiteren Löchern, erweitern. Während sich das noch gut darstellen lässt, fehlt die Anschauung bei so genannten reellen projektiven Ebenen. Gleichwohl beschreibt Beckman, wie man eine solche Form »herstellen« könnte, nämlich durch Zusammennähen einer Scheibe mit einem Möbiusband.
Leider vermeidet es der Autor in diesem Zusammenhang, den Namen von Möbius (oder Listing) zu erwähnen – ebenso wie im Folgenden Poincaré und Perelman; vielmehr beschränkt er sich auf die eher saloppe Aussage: »Die dritte Dimension (…) ist mittlerweile ziemlich gut erforscht, auch wenn es einhundert Jahre und ein Preisgeld von einer Million Dollar brauchte, um dorthin zu gelangen.« Auch die kleinsche Flasche spricht er an, ohne zu versuchen, deren Hauptmerkmal zu skizzieren. Schade, diese Rück- und Ausblicke auf die historische Entwicklung der Theorie hätten gut in das Kapitel gepasst.
Anschließend beschäftigt sich der Autor mit einem
verallgemeinerten Begriff der Dimension, angewandt auf
Alltagssituationen (Geschmacksrichtungen sind fünfdimensional, Farben
dreidimensional und so weiter), und beendet seine Ausführungen mit der
vierdimensionalen Raumzeit, deren topologische Form bislang
ungeklärt ist.
Im zweiten Kapitel erzählt Beckman im durchgängig beibehaltenen
Plauderton Geschichten zu Unendlichkeiten und dem Kontinuum: Im Prinzip
beruft er sich auf Cantors Arbeiten zu Abzählbarkeit und
Überabzählbarkeit, wobei Cantor ebenso wenig namentlich erwähnt wird wie
Hilbert, dessen berühmtes Hotel ebenfalls in dieser Geschichte
vorkommt.
Offensichtlich wollte Beckman keinen Mathematiker
namentlich erwähnen, denn auch in den restlichen Kapiteln werden sie
verschwiegen. Da werden die Peano-Axiome ohne Peano zitiert, mit der
»Principia Mathematica« ist im Buch nur von den Adligen die Rede, und
dann gibt es noch »den holländischen Topologen«, der aus dem Vorstand
der Mathematischen Annalen gedrängt wurde und der beweisen konnte, warum
man eine Kugel mit Haaren nicht kämmen kann. Spektrum Kompakt27/2020 Unendlich
»Mathe ohne Zahlen« fasst eine Fülle an mathematischen Themen: Im
Rahmen der Analysis folgt noch ein Abschnitt zu Abbildungen, der bis zu
Vektorfeldern und Kartenprojektionen hinführt. Im dritten Kapitel über
Algebra wird anschaulich erklärt, was isomorphe Strukturen sind, Mengen
und Graphen kommen vor, und mit Hilfe eines Baumdiagramms analysiert
Beckman das Spiel Tic-Tac-Toe – und stellt dann noch Symmetriegruppen
und Tapetengruppen vor. Am Ende steht ein Abschnitt mit dem Titel
Schlussfolgerung; es geht um logische Schlussweisen und die Frage, ob
alle mathematischen Sätze beweisbar sind. Auf dieses spannende Thema
geht der Autor in einem 34-seitigen Dialog (Frage-Antwort-Spiel) ein.
Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit »Modellen, Automaten,
Naturwissenschaft«, umfasst ebenfalls vieles: Kettenkurve und
Normalverteilung, Gravitationsgesetz und »Game of life« (ohne Conway zu
nennen), und endet mit dem Standardmodell zur Entstehung des Universums.
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