Montag, 23. Mai 2022

Ist das Leben ein Verlustgeschäft?

Steine auf der Waage
aus spektrum.de, 21. 5. 2022 

Zwischen Freud und Leid                                                zu Philosophierungen
Das Leben ist voll von schönen Dingen. Doch können sie die schlimmen Erfahrungen aufwiegen? Schon Arthur Schopenhauer war seinerzeit der Ansicht, das Leben sei ein »Minusgeschäft«. Eine Kolumne.
 
 
Kann Leid aufgewogen werden? Das scheint eine einfache Frage zu sein. Stellen wir uns etwa einen Radrennfahrer vor, dessen erhebliche körperliche Qualen völlig durch das Glück überwogen werden, das sich an der Ziellinie einstellt.
Doch lässt sich jedes Leid so aufwiegen, insbesondere, wenn es existenziell und ungewollt ist? Hierzu gibt es vielerlei Anekdoten von einzelnen Menschen, die sich »durch nichts unterkriegen lassen«; man kennt aber auch genügend Beispiele von Personen, die über eine fürchterliche Leidenserfahrung nie hinweggekommen sind. Vielen bereitet es heute Unbehagen, dieses Problem zu betrachten. Das lässt sich zum Beispiel an der Tendenz ablesen, Menschen, die unter schweren Krankheiten leiden, mitunter ein gewisses Mitverschulden in die Schuhe zu schieben. So glaubt man gerne, bestimmte unheilbare Leiden träfen vor allem die, die kein hinreichend »gesundes Leben« mit Achtsamkeit, frischem Gemüse und Antioxidantien führen. Krebskranke müssen sich bis heute oft den traditionsreichen Vorwurf anhören, ihre Krankheit sei ihrem falschen, repressiven Umgang mit psychischen Belastungen geschuldet.

Nota. - Der spingende Punkt ist: Das Leben ist überhaupt kein Geschäft. Erstens, weil man es nicht freiwillig riskiert; es wird einem übergeholfen.

Darum kam ein Klugmensch darauf, die Frage auf die Zeugung neuen Lebens zu verschie-ben. Doch zweitens ist das Leben kein Geschäft, weil die Vorstellung von Gewinn und Ver-lust den Austausch von Äquivalenten als Standard voraussetzt. Der wiederum setzt einen apriorischen Wert voraus: einen, den man messen kann. Der frankfurtische Erzspießer Schopenhauer konnte sich keine andere Welt vorstellen als die kapitalistische, die um den Pfennig fuchst. 

Doch nicht nur haben Freude und Leid kein gemeinsames Maß, das man verrechnen könnte. Außerdem ist dem einen sin Uhl dem andern sin Nachtigall, will sagen: Ein jeder wertet selber. Es ist das Reich des Ästhetischen, und das liegt der Vernunft in gewisser Hinsicht zu Grunde; aber daher fällt sie unter es und nicht es unter sie.
JE

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