Freitag, 13. Mai 2022

Der Mensch ist nicht vom Himmel gefallen.

Leonardo
aus spektrum.de, 13. 5. 2022                                                                                  zu Jochen Ebmeiers Realien

Rezension
Ein Tier mit Kultur

Der Mediziner Martin Bleif begibt sich in seinem Buch auf die Suche nach den Wurzeln des Menschen.

von Martin Schneider

Was und wie ist der Mensch? Diese Frage hat in der Kulturgeschichte eine lange Liste von Antworten hervorgebracht. Aristoteles sah in ihm ein »zoon politikon«, ein soziales, politi-sches Lebewesen. Für Immanuel Kant war er ein »krummes Holz«. Zu den Charakterisie-rungen gehören ferner der »Homo sapiens« (vernünftiger Mensch), der »Homo creator« (gestaltender Mensch), der »Homo loquens« (sprechender Mensch) und der »Homo reli-giosus« (religiöser Mensch). Natürlich hängen solche Zuschreibungen immer von den Kriterien ab, die für eine Antwort herangezogen werden. Wie sieht es nun aus, wenn die moderne Biologie die Kriterien liefert?

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Dazu führt der Mediziner Martin Bleif in vier Kapiteln durch die Grundlagen der Evo-lution, befasst sich mit der Wirkung, Veränderung und Vererbung von Genen, beschreibt die Funktion von Zellen sowie ihr komplexes Wechselspiel mit Genen und Umwelt. Das letzte Kapitel widmet er dem Gehirn.

Bleif präsentiert den Menschen als Produkt der Evolution. Er argumentiert, dass die Selek-tion – basierend auf dem Überleben der an ihre Umwelt angepassten Organismen – aus dem Menschen nicht zwangsläufig einen Einzelkämpfer gemacht hat. Denn auch Koope-ration und Altruismus nahmen mit höherem Organisationsgrad dieses hoch entwickelten Tieres zu. Auf seinem Verhalten und seinen kognitiven Fähigkeiten beruhen Kultur und Religion.

Es gibt weder gute noch schlechte Gene

Anschließend widmet sich Bleif den komplexen Zusammenhängen zwischen Genen und den von ihnen hervorgerufenen Merkmalen. Er argumentiert gegen Optimierungs- und rassistische Reinheitsutopien, dass es weder per se gute noch schlechte Gene gibt, da diese Beurteilung immer kontextbezogen ist. Zudem hat die Natur mit der sexuellen Fortpflan-zung auf Genvermischung gesetzt: Für das Genom zählt Vielfalt und nicht Reinheit. Auch determinieren Gene nicht das menschliche Verhalten. Ein Beispiel: Zwar gehört es laut Bleif zum angeborenen Erbe, die eigene Gruppe zu bevorzugen. Doch menschliches Ver-halten sei auch immer ein Produkt der Erziehung.


Das Tier in uns
 

Martin Bleif

Das Tier in uns
Die biologischen Wurzeln der Menschlichkeit
Verlag: Klett-Cotta, 2021
ISBN: 9783608964868 | Preis: 32,00


Die Wechselwirkung zwischen Gen und Zelle beschreibt der Autor als eng miteinander verflochtenes System. Es wirkt auf seine Umwelt, kann aber durch Umwelteinflüsse ver-ändert werden. Das Gehirn prägt als riesiger Zellzusammenschluss die kognitiven Fähig-keiten des Menschen. Doch wo liegen die Grenzen des Organs? Als Beispiele dienen Bleif etwa mathematische und logische Paradoxien.

Mischung aus Egoismus, Kalkül und Mitgefühl

Bereits der Titel verrät die wenig überraschende Konsequenz, den Menschen vor evolutio-närem Hintergrund als Tier zu verstehen. Doch er entwickelte Kultur, durch die er sich von anderen Tieren abgrenzt. Für Bleif ist der Mensch alles in allem eine »oft widersprüchliche Mischung aus Egoismus, Kalkül, Kooperativität und Mitgefühl«. Zwar ist die Charakterisie-rung des Menschen als Natur- und Kulturwesen spätestens seit den Auseinandersetzungen um Charles Darwins Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert nicht neu. Doch Bleif fundiert sie anschaulich auf der Basis der modernen biologischen Forschung.

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Der Autor behandelt die Schnittstelle zwischen Biologie, Philosophie und Kulturwissen-schaft. Dabei ist er sich der Schwierigkeiten einer biologischen Betrachtung bewusst: Denn auch die Wissenschaft der Biologie, die in dieser Untersuchung den Rahmen vorgibt, gehört zu den kulturellen Errungenschaften, die letztlich auf der menschlichen Entwicklung auf-baut. Die Gefahr einer rein biologistischen Interpretation umgeht er, indem er für einen behutsamen Umgang mit der Biologie plädiert: Diese dürfe man zwar nicht außer Acht lassen, aber eben auch nicht überbewerten. Auf Grund der vielen Wechselbeziehungen, etwa zwischen Genen, Zellen, Umwelt und Erziehung, sind oft keine kausalen Zusammen-hänge zwischen Verhalten und genetischem Erbe auszumachen.

Das Werk enthält ein ausführliches Inhaltsverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister. Das Literaturverzeichnis wurde leider ausgelagert und steht auf der Homepage des Verlags zum Download bereit. Das Buch eignet sich für naturwissenschaftlich und philosophisch interessierte Leser, die dem Wesen des Menschen auf die Spur kommen möchten. Vorkenntnisse sind allerdings hilfreich. 

 

 

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