Sonntag, 6. März 2022

Der Leib als Sinn und als Werkzeug

Luigi Galvanis Experiment;     aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Oder - es wird in dem höheren Organ durch den bloßen Willen der Person eine Modifika-tion hervorgebracht, begleitet von dem Willen, dass das niedere Organ dadurch zweckmä-ßig bewegt werden solle: so erfolgt, wenn dasselbe nicht gehemmt ist, die beabsichigte Be-wegung desselben, und aus ihr die beabsichtigte Modifikation der subtileren oder gröberen Materie, je nachdem der Zweck ist, den sie sich vorgesetzt hat. So wird z. B. im Auge als tätigem Organ die Gestalt oder der Buchstabe gebildet und auf die Fläche hingeworfen, ehe die langsame, durch das Auge geleitete und unter seinem Gebot stehende Hand des Malers oder Schreibers sie darauf befestigt. - In diesem Falle dient der Leib als Werkzeug. 

Es erfolgt [sic] die beabsichtigte Bewegung des niederen Organes nicht - die des höheren erfolgt immer, solange der Mensch lebendig ist - : so ist dasselbe gehemmt, es wird ein / Widerstand gefühlt, und der Leib dient dann als Sinn, aber als niederer Sinn.

Wenn ein vernünftiges Wesen auf ein anderes einwirkt als auf bloße Materie, so wird der niedere Sinn desselben zwar auch, und zwar notwendig und völlig unabhängig von der Freiheit desselben, affiziert, wie es mit diesem Sinne stets bewandt ist; aber es ist nicht an-zunehmen, dass diese Affektion die Absicht des Wirkenden war. Er wollte nur schlechthin einen Zweck in der Materie erreichen, seinen Begriff in ihr ausdrücken; ob sie ein Gefühl davon haben werde oder nicht, darauf ist in seinem Zweckbegriff gar nicht Rücksicht ge-nommen. Die Wechselwirkung vernünftiger Wesen als solcher geschieht sonach stets ver-mittelst des höheren Sinnes; denn nur in dieser ist ein solcher, auf welchen man nicht wir-ken kann, ohne ihn vorauszusetzen: und so bleibt das obige Kriterium dieser Wechselwir-kung richtig: es ist eine solche, in welcher der Sinn des Objekts der Wirkung vorausgesetzt wird.
_______________________________________________________________________J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 71f.  
 
 
Nota. - Was er das höhere Organ nennt, würden wir heute als das Gehirn auffassen, sofern dort die Meldungen der Sinneszellen zusammenlaufen und deren qualitative Prädikate be-stimmt, und schließlich Zweckbegriffe entworfen werden. Das niedere Organ wäre der ganze übrige Leib und namentlich der motorische Apparat
 
Der niedere Sinn dagegen bezeichnet wohl alles Geschehen, das uns die Bildgebenden Ver-fahren der Hirnforscher sichtbar machen. Unter dem höheren Sinn versteht er offenbar als das, was als Phänomen landläufig dem Willen zugeschrieben, aber auch von der Hirnfor-schung nicht dargestellt werden kann. Dass Fichte uns darüber vor gut zweihundert Jahren nicht weiter aufklären konnte, ist ihm nicht vorzuwerfen. Man darf sich aber fragen, wieso er sich auf dies spekulative Terrain überhaupt begeben hat. Johann Wilhelm Ritter war ge-rade in Jena aufgetreten, und man erwartete vielleicht, dass F. sich dazu äußerte.
 
Man könnte aber auch vermuten, dass er uns  mit einem 'höheren' Sinn die gleichzeitige Einführung eines intellektuellen Gefühls und die Vorstellung vom Denkzwang plausibel machen wollte.
JE



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