Montag, 21. März 2022

Eine neue Leibniz-Biographie.


aus FAZ.NET, 20. 3. 2022                                         Gottfried Wilhelm Leibniz, um 1695 dargestellt von Bernhard Christoph Francke
Biographie über Leibniz 
Er konnte sich virtuos verzetteln
Durch alle Domänen der Gelehrsamkeit: Michael Kempe legt eine kenntnisreiche Biographie über den Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz vor. 
 
Von Helmut Mayer

Als Fontenelle im Jahr 1717 in der Pariser Akademie der Wissenschaften seine Eloge auf den ein Jahr zuvor verstorbenen Gottfried Wilhelm Leibniz hielt, nahm er schon die Schwierigkeiten vorweg, die penible Biographen mit dem umtriebigen, auf vielen Feldern mit erstaunlichen Leistungen beeindruckenden Philosophen noch haben würden. Eine chronologische Darstellung, so der Akademie-Sekretär, komme hier eigentlich nicht infrage, denn in ein und demselben Zeitraum hätte Leibniz immer über viele verschiedene Dinge geschrieben, und diese fortgesetzte Mischung diverser Materien, die abrupten Übergänge von einer zur anderen, hätten zwar ihn selbst nicht aus dem Konzept gebracht, würden aber jede am Leitfaden der Jahre voranschreitende Würdigung in Konfusion und Verlegenheit bringen. Oder kürzer gefasst: Wer strikt chronologisch vorgeht, läuft Gefahr, das zu üben, was Leibniz zweifellos virtuos (und mit seiner Arbeitsweise auch im ganz wörtlichen Sinn) beherrschte – sich zu verzetteln.

Das ändert natürlich nichts daran, dass die biographische Aufgabe nun einmal darin besteht, einer Lebens- und Denkgeschichte zu folgen. Aber man kann diesen Anspruch mildern, kann thematische und chronologische Ordnung miteinander verknüpfen, um auf eher knappem Raum zu einem Porträt von Leibniz zu kommen. So lässt sich das Konzept beschreiben, das Michael Kempe, Leiter der Leibniz-Forschungsstelle der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, für sein populär gehaltenes Buch über „Leibniz in seiner Zeit“ gewählt hat.

Einsichten von tragfähiger Modernität

Die sieben Kapitel des Buchs setzen jeweils bei Notaten, Briefen oder Beschäftigungen eines bestimmten Tages ein. Eine lange Jugendgeschichte spart sich Kempe dabei und beginnt bei dem fast dreißigjährigen Leibniz, der während seines Aufenthalts in Paris zum ersten Mal die später geläufig gewordene Integral-Notation verwendet. Zehn Jahre später ist es dann der Leibniz, der im Harz seinen Projekten zur Verbesserung des Bergbaus nachgeht, von dem sein braunschweigischer Landesherr und Dienstgeber nicht zuletzt lebt. Noch einmal zehn Jahre später markieren die Gespräche mit Kurfürstin Sophie Charlotte und Helmont – und als auswärtiges korrespondierendes Mitglied die Nichte der Kurfürstin, Liselotte von der Pfalz – über letzte Dinge den Ausgangspunkt. Und so geht es in etwas kleiner werdenden Jahresschritten fort bis 1714 in Wien, wo Leibniz gerade eine Abschrift seiner „Principes de la nature et de la grâce fondés en raison“ anfertigt, und schließlich zurück nach Hannover, wo er im Todesjahr 1716 an einem immer noch unheimlichen Pensum von Korrespondenz mit der gelehrten, aber auch der höfisch-politischen Welt sitzt.

Michael Kempe: „Die beste aller möglichen Welten“. Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Zeit.
Michael Kempe: „Die beste aller möglichen Welten“. Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Zeit.

Mit Geschick, und vorzüglicher Kenntnis ohnehin, zeichnet Kempe ausgehend von diesen Momentaufnahmen sein Porträt von Leibniz. Die Arbeitsweisen eines durch alle Domänen der Gelehrsamkeit seinen Weg nehmenden Autors und – nicht immer glücklichen – Praktikers werden fassbar, seine Stellung am Hannoveraner Hof, seine zwar in letzter Instanz vergeblichen, aber doch nicht ganz erfolglosen Versuche, sich aus der Braunschweiger Enge Richtung Paris, London, Berlin und Wien zu absentieren oder jedenfalls auf Reisen zu sein, die wissenschaftliche wie politische Projektemacherei und nicht zuletzt natürlich konkrete Entwürfe und Leistungen, von der angestrebten metaphysischen Grundlegung wissenschaftlicher Welterschließung hin zu den Arbeiten in einzelnen Feldern, die für Leibniz noch unmittelbar miteinander und mit ihrer philosophischen Einbettung zusammenhingen.

Kempe achtet darauf, dass daraus nicht bloß eine „Mischung“ wird, wie sie Fontenelle befürchtete, indem er zentrale Konzepte und Intuitionen, die Leibniz’ weitgespannte Überlegungen trugen, skizziert. Leibniz selbst kommt dabei eher selten zu Wort, sein Interpret übersetzt die Entwürfe und erreichten Einsichten meist gleich in eine moderne Diktion, hebt auch oft hervor, welche späteren wissenschaftlichen Entwicklungen Leibniz vorwegnahm. Das kommt der Bündigkeit seines Unternehmens zugute, auch wenn eine etwas näher an den Texten operierende Darstellung noch deutlicher das Faszinosum herausarbeiten könnte, dass hier gerade ein vormoderner Polyhistor am barocken Fürstenhof zu einigen Entwürfen und Einsichten von tragfähiger Modernität kam.

Kein Sonnenstrahl, kein Lächeln

Aber im Kern wird das auch bei Kempe klar, wenn er auf einige dieser Einsichten und Theoreme eingeht und sie vor den Hintergrund seiner Erläuterungen von Leibniz’ philosophischer Grundlegungsarbeit stellt. Eine Fundierungsarbeit von intellektueller Raffinesse und – in der „Monadologie“ vorgeführt – fast poetisch anmutender Bildmächtigkeit zugleich, die bald nur noch von historischer Bedeutung sein sollte. Sehr deutlich wird das etwa, bringt man Newton als prominenten Gegenspieler ins Bild, mit dessen Sprachrohr Samuel Clarke sich Leibniz in einem öffentlichen Briefwechsel duellierte.

Merkwürdigerweise wischt Kempe gerade diese Konfrontation beiseite, so als ob die Tatsache, dass die Kontrahenten in ihr keinen gemeinsamen Nenner fanden, gegen ihre Aufschlusskraft spräche. Mit der intellektuellen Landschaft, in die Leibniz sich einschreibt, ist es überhaupt bei ihm nicht besonders weit her. Sie wird kaum sichtbar, und das gilt weitgehend auch für die Strategien des Austauschs und des Publizierens in der Gelehrtenrepublik, deren energischer und gewiefter Mitspieler Leibniz war. Die Mitteilung, in welcher Gasse Leibniz in Paris oder Wien gewohnt hat, welcher Gemütszustand sich seinen Briefen vielleicht entnehmen lässt, bekommt da eben doch den biographischen Vorrang.

Woran auch anschließt, dass Kempe vor allem gegen Ende seines Buchs sich darin versucht, philosophische Entwürfe und Lebensumstände zusammenzuschließen. Da wird dann etwa aus einer gefühlvollen Evokation der fensterlosen Monaden, die bei Leibniz aus ihren singulären Perspektiven die Welt spiegeln – „Kein Sonnenstrahl, kein Lächeln, das in unsere Seelen dringt, sondern außen abprallt und nur zurückgeworfen wird?“ – gleich die Vermutung, sie spiegelten nichts anderes als die Zerrissenheit ihres Urhebers in Wien wider, der zwar zu vielen Menschen Kontakt hatte, aber doch auch verloren gewesen sei, „wie durch ein geschlossenen Fenster von seinen Mitmenschen getrennt“. Wozu auch die Vermutungen passen, ob Leibniz nicht an konkrete Fenster gedacht haben könnte, als er seine Metaphysik der individuellen Substanzzentren entwarf: etwa an die großen Kirchenfenster im Wiener Stephansdom? Oder doch eher an die winzig kleinen in den Türen der dortigen Stadtapotheken?

Das zählt denn doch eher zum Leerlauf in diesem Buch, das aber mit genügend Meriten aufwartet, um sich als Hinführung zu einem der einnehmendsten ­Philosophen der gesamten Tradition zu empfehlen.

Michael Kempe: „Die beste aller möglichen Welten“. Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Zeit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 352 S., Abb., geb., 24,– €.

 

Nota. - Leibniz behauptete, und Wolff bewies. Das ist genug gesagt.
Friedrich Schlegel, Athenaeums-Fragmente N° 82

Doch erst in der Wolff'schen Gestalt haben die Leibniz'schen Gedanken in Deutschland das 18. Jahrhundert beherrscht, und ohne Kants Kritik sicher noch länger. Für den gegenwärtigen Erfolg der "Systematiker" trägt Leibniz aber keine Verantwortung, der geschieht ganz im Geiste Wolffs.
JE


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