aus Die Wendeltreppe, oder Philosophische Propädeutik.
Nichts trügt weniger als der Schein.
Max Liebermann
Ursprung und Angelpunkt des abendländischen Denkens war die Frage nach dem Wahren. In der Sinnenwelt ist alles Trug. Sie scheint mal so, mal so, je nach Standort. Alles, was wird, wird vergehen. Wahr ist, was währt, das ewige Sein; doch es liegt unterm Werden verhüllt. Nur dem Denken ist es kenntlich, "denn dasselbe ist Denken und Sein", sagt Parmenides. Die Frage nach dem wahren Sein ist die Frage, wonach sich mein Leben in der Mannigfal-tigkeit trügerischer Erscheinungen richten soll.
Man
erkennt es beim Vergleich mit Heraklit, gegen den Parmenides angetreten
war: Nicht zweimal könne man in einen Fluss steigen; der Fluss sei ein
anderer geworden und der Mensch auch. Hinter dem Werden ist Nichts, wahr
ist der Schein: Das möchte man einen heroischen Nihilismus nennen; ein
aristokratisches Leben auf eigne Faust, das sich nicht jeder leisten
kann. Die Vermutung, daß der Sinn der Welt zwar verborgen, aber
jedenfalls in ihr liegt, macht dagegen auch kleinen Leuten Mut. Nicht
anders konnte die Arbeitsgesell-schaft siegen, nicht anders konnte Europa
die Welt erobern.
Der ebenbürtige Zeitgenosse von Heraklit
und Parmenides war Aischylos – der als erster die Schuld der Menschen
zum Thema gemacht hat; nämlich dass sie ihre Wege selber wäh-len. Es
wurde zum Thema der westlichen Kultur. Man mag auch meinen, es sei die
Con-ditio humana selbst. Nur wurde sie nicht überall ihrer bewusst.
Das
Wahre, das Ansich-Seiende, das Absolute; Wert, Bedeutung, Geltung, Sinn
– das alles sind verschiedene Worte für ein Problem. Nämlich dies, dass
der Mensch sich nicht mit dem Leben begnügen kann, sondern immer sein
Leben führen muss. Führen wo hin, wo lang? Er muss sich
orientieren. Das, woran er sich orientiert hat, um dessentwillen er
ge-lebt hat, nennt er, rückblickend, 'das Wahre’, 'das Absolute', den 'Sinn'. Das Erkennen ist zirkulär.
Warum?
Es kommt a posteriori. Denn gesetzt wird der Sinn immer 'in actu', hier
und jetzt, an jedem Wegkreuz neu. Dem (nachträglichen) Erkennen
erscheint es darum als a priori. 'Das Wahre', 'das Absolute', der 'Sinn'
ist – reell wie ideell – eben keine Sache, son-dern ein Problem. Es ist
aber keins, worauf die Menschen ebenso gut verzichten könnten. Sie waren
tätig, bevor sie erkennend wurden. Aber sie müssen erkennend sein, um
selbst-tätig zu werden.
Nur weil der
Mensch ein Leben führt, dessen Sinn weit über seine bloße Erhaltung
hin-aus reicht (wenn er es will), hat er das Problem der Freiheit. Ob
er es will, ist damit noch nicht entschieden. Wenn einer sagt: Die
Befriedigung meiner Bedürfnisse ist mir genug – wie kann ich ihm
widersprechen? Es gibt noch viele, die sich mehr gar nicht leisten
kön-nen.
Aber eine Kultur, wo verknappter Luxus
schon wie Not erscheint, lebt im Überfluss. Die-ses ist eine
Sinnbehauptung: Es sollte eine Welt des Reichtums entstehen, damit
Men-schen in die Lage kommen, ihre Freiheit bestimmen zu können. Nur
darum gibt es die Frage nach der Wahrheit. Aber die ist ein Paradox.
Was ich tun soll, ist eine Frage von
Bedeutungen. Ist Sache eines Urteils. Und dafür brau-che ich Gründe, die
gelten. Deren Geltung muss ihrerseits begründet sein, und so fort.
Machen wir’s kurz: Wenn überhaupt etwas gelten soll, muss es irgendwo
einen Grund ge-ben, der schlechterdings gilt und in letzter Instanz, ohne
alle Bedingung – die Bedingun-gen von Ort und Zeit zumal. In der Welt,
die 'der Fall ist’', wird man ihn nicht antreffen. Er ist "nicht von
dieser Welt", ich muss ihn mir hinzu denken .
Dass
der menschliche Geist "notwendig etwas Absolutes außer sich setzen muss
und dennoch von der andern Seite anerkennen muss, dass dasselbe für ihn da sei,
ist derjenige Zirkel, den er ins Unendliche erwei-tern, aus welchem er
aber nicht heraustreten kann. Es ist nur da, inwie-fern man es nicht hat,
und entflieht, sobald man es auffassen will", schrieb Johann Gottlieb
Fichte. Es "kann nur eine Idee sein; ein bloßer Gedanke in uns, von
welchem gar nicht vorgegeben wird, dass ihm in der wirklichen Welt außer
uns etwas entspreche. Ideen können unmittelbar nicht gedacht werden.
Sie sind Aufgaben eines Denkens, und nur, inwie-fern wenigstens die
Aufgabe begriffen werden kann, kommen sie in un-serm Bewusstsein vor."
Eine Aufgabe nannten die Griechen ein Problem. Aber dieses Pro-blem ist
so gestellt, dass es schlechterdings nicht lösbar ist: Die Freiheit soll
sich ihren Be-stimmungsgrund außer sich suchen! Es ist ein Paradox.
Das ist nicht bloß eine Idee. Das ist
eine ästhetische Idee. Es ist, recht besehen, die ästheti-sche Idee
schlechthin, die in alle tatsächlich vorkommenden Bestimmungen nach Ort
und Zeit vorgängig hineingreift, die all die Qualitäten vereint, die ich
an den Dingen "wertneh-me", bevor ich sie wahrnehme, und von der ich
erst durch eine besondere Anstrengung des reflektierenden Verstandes
wieder abstrahieren kann.
Es "ist" nicht so. Aber so muss ich es
mir vorstellen, wenn ich mir überhaupt Etwas vorstel-len will. Das Wissen
kann seinen eignen Grund nicht erkennen. Es muss ihn sich einbilden.
Der höchste Akt der Vernunft sei ein ästhetischer, hieß es im 'Ältesten
Systemprogramm des deutschen Idealismus'. Ob er wirklich stattgefunden
hat, ist nicht entscheidend. Es scheint uns so, als ob er stattgefunden
hätte. Er ist so wahr wie ein Mythos sein kann. Will sagen, er muss sich
bewähren.
Bewähren in Sonderheit in meinem täglichen Tun und Lassen – als Sittlichkeit. "Die
Ethik ist transzendental", schrieb Ludwig Wittgenstein, um gleich hinzu
zu fügen: "Ethik und Ästhetik sind eins." Und es sei klar, dass sie
sich als solche "nicht aussprechen" lassen.
In den Wörtern unserer Welt lassen sie sich nicht aussprechen. Denn sie gehören zu meiner
Welt. Den andern kann ich sie allenfalls zeigen – in den Bildern der
Kunst. In Wörtern lässt sich das Problem immer nur so formulieren: Der
Sinn des Lebens ist, dass du nach ihm fragst. Eben ein heroischer
Nihilismus oder, wenn man will, “Artisten-Metaphysik”. Auf jeden Fall
ist es eine romantische Anschauung der Welt, und eine fröhliche.
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