Mittwoch, 23. März 2022

Wenn Vergessen besser ist als Behalten.

 
aus scinexx                                                                                             zuJochen Ebmeiers Realien

Die Macht des Vergessens
Wenn wir etwas vergessen, gilt das meist als Fehler und wir werden als schusselig bezeichnet. Doch das Vergessen ist viel mehr als eine Lücke im Gedächtnis: Es lässt uns effektiver Entscheidungen treffen, schützt uns vor negativen Erlebnissen und kann sogar unser Erinnerungsvermögen verbessern.

Um zu überleben, müssen wir vergessen: Unser Gehirn kann nur so gut funktionieren, indem es Irrelevantes aussortiert und Alltägliches ausmistet. Dabei ist das Vergessen – genau wie das Erinnern – ein flexibler Prozess, der auf dem Weg zum effizienten Gedächtnis ständiger Wandlung unterworfen ist. Dabei kann jedoch auch vieles schiefgehen, sowohl in die eine als auch in die andere Richtung: Während einige Menschen all ihre Erinnerungen verlieren, sind manche nicht in der Lage sie loszuwerden.

 
Vergessen und Erinnern sind eng verknüpft
Die Neurobiologie des Vergessens

Wenn wir etwas vergessen, sind wir entweder nicht in der Lage, Ereignisse im Gehirn abzuspeichern oder wir verlieren den Zugang zu bereits abgelegten Erinnerungen. Beides ist ganz normal und passiert im Laufe der Zeit ständig, unter anderem durch Stärken oder Vernachlässigen bestimmter Neuronen-Bahnen. Aber wie genau funktioniert das?

Vor dem Vergessen kommt das Erinnern

Um die neuronalen Mechanismen des Vergessens verstehen zu können, muss man sich zunächst vor Augen führen, wie das Erinnern von Erlebnissen funktioniert. Dafür gibt es keinen zentralen Speicherplatz, sondern die Speicherung hängt von der Art der Erinnerung ab. Beispielsweise emotionale Erinnerungen hängen mit der Amygdala zusammen, einer Hirnregion, die zusammen mit dem Hippocampus emotionale Äußerungen reguliert. Wollen wir uns hingegen an erlernte Fähigkeiten erinnern, wird dies mit dem Striatum assoziiert, welches beispielweise an der Koordination des motorischen Systems beteiligt ist.

Neuron
Feine Verästelungen wachsen von einer zur nächsten Nervenzelle – so können sie kommunizieren. 

An der Speicherung von Erinnerungen sind meist Gruppen von Neuronen beteiligt, also Verbände von Nervenzellen im Gehirn, die Sinneseindrücke weiterleiten können. Gibt es für einen äußeren Reiz noch keinen Verarbeitungsweg, wachsen von einer Gehirnzelle feine Fortsätze zu einer anderen Gehirnzelle und bilden eine Kontaktstelle. Über diese Synapse tauschen die Neuronen Neurotransmitter wie Acetylcholin oder Noradrenalin miteinander aus und können so kommunizieren.

Die Anatomie des Vergessens

Dieser Neuronen-Verbund reagiert kollektiv auf Reize aus der Außenwelt, wie zum Beispiel das Gesicht eines Verwandten oder den Geruch von frisch gebrühtem Kaffee. Ihre Verbindung zueinander wird dabei umso stärker, je häufiger dieser Verbund zusammen stimuliert werden. Die gemeinsame Aktivität der Neuronen erleben wir dann als Erinnerung. Die Fähigkeit Informationen aufzunehmen, abzuspeichern und nach Bedarf wieder abzurufen, ist das, was wir als Gedächtnis kennen.

Genauso wie das Erinnern ein stetiger Aufbau ist, verschwinden die Erinnerungen auch nicht abrupt, sondern verblassen eher. Wenn wir eine Information ständig brauchen, wie etwa den PIN unserer Bankkarte, wird der Weg dorthin über die Neuronen häufiger „gedacht“ und die Verbindung stärkt sich. Die Information über die Lösung von quadratischen Gleichungen mit der pq-Formel, brauchen die meisten Menschen hingegen seltener, sodass die Verbindungen zwischen Nervenzellen, die mit dieser Erinnerung assoziiert sind, sich irgendwann wieder lösen: Wir haben die Formel vergessen.

Synapse
Schüttet eine Synapse vermehrt Neurotransmitter aus, wird die Verbindung zwischen Nervenzellen gestärkt – und damit auch die Erinnerung. 
Vergessen um zu erinnern

Die Mechanismen des Vergessens helfen unserem Gehirn paradoxerweise auch dabei, sich besser an Sachen zu erinnern oder Gelerntes zu vertiefen. Dabei gilt: Erinnerungen sind keine starren Gebilde, sondern im Gegenteil sehr flexibel. Denn bei der Speicherung von Informationen gilt es effizient zu sein. Daher werden bei einer Vermehrung eines bestimmten Reizes verstärkt Botenstoffe über bestimmte Synapsen ausgeschüttet und diese Verbindung gestärkt. Dieser Mechanismus ist bekannt als Langzeitpotenzierung.

Wege über Nervenzellen, die hingegen weniger häufig gebraucht werden, schütten im Zuge der sogenannten Langzeitdepression weniger Neurotransmitter aus und der Übertragungsmechanismus wird geschwächt. Dadurch werden die Neuronen-Verbindungen insgesamt reduziert und dafür einzelne verstärkt: Das Gehirn verschaltet sich effizienter.

Die Reduzierung der Anzahl von Synapsen ist ungemein wichtig, um neue Erlebnisse und Erfahrungen aufnehmen zu können. Besonders entscheidend dafür ist der Schlaf: Nachts werden circa 20 Prozent der Andockstellen für Botenstoffe an Synapsen abgebaut und somit Platz geschaffen für Neues. Das Gehirn rekalibriert sich sozusagen, während wir schlafen.

„Kein Zugang zu diesem Neuron“

Darüber, ob Erinnertes und Gelerntes komplett aus unserem Gedächtnis gelöscht oder ob der Zugang zu den Informationen nur erschwert wird, ist man sich in der Neurowissenschaft noch nicht einig. Doch bisher weist vieles auf eine Bestätigung der zweiten Theorie hin, die besagt, dass alte Erinnerungen von neuen Eindrücken überlagert werden und wir daher schlechter auf länger zurückliegende Erlebnisse zurückgreifen können.

In Experimenten mit Mäusen konnte beispielsweisegezeigt werden, dass nach dem Vergessen die spezifischen Nervenfortsätze bestehen bleiben, was vermuten lässt, dass die Synapsen lediglich inaktiviert sind und damit die Informationsübertragung unterbrochen ist. Die Neuronen-Verbindungen scheinen also intakt zu bleiben, um nach Bedarf wieder aktiviert werden zu können.

Diesen erschwerten Zugang zu Informationen kann sich man besten mit dem Gefühl des „Auf-der-Zunge-Liegens“ verdeutlichen. Durchschnittlich einmal in der Woche haben Menschen den Eindruck, dass eine Information, die man unbedingt haben will, irgendwo im Hinterkopf gespeichert ist. Doch frustrierenderweise kann man kann sie einfach nicht abrufen.

 
Warum vergessen wir überhaupt?
Mehr als eine Lücke im Gedächtnis

Vergessen ist negativ konnotiert und gilt als Fehlleistung des Gehirns. Dabei ist der Prozess bei dem wir bestimmte Erinnerungen verlieren, eher ein Segen. Die Filterung von Erlebnissen, denen ein Platz im Kurz- oder Langzeitgedächtnis eingeräumt wird, hilft uns, im Alltag zurecht zu kommen und schützt uns vor den Nachwirkungen schmerzhafter Erlebnisse.

Neuronen-Verband
Gemeinsame Aktivitäten von Neuronen-Verbänden nehmen wir als Erinnerung wahr. 
Vergessen ist effizient

Jede Sekunde unseres Lebens strömen Unmengen an Informationen durch unser Gehirn, doch glücklicherweise vergessen wir das meiste davon sofort wieder. „Die Speicherkapazitäten unseres Gehirns per se sind riesig. Aber wenn uns in jedem Moment unseres Lebens zu einem Ereignis alles einfallen würde, was wir je damit in Verbindung bringen würden, dann wären wir nicht handlungsfähig“, erklärt Hirnforscher Martin Korte von der Universität Braunschweig.

Das Gedächtnis ist also nicht darauf ausgerichtet, so viele Informationen wie möglich zu speichern, sondern nur gerade so viele wie es braucht, um eine Entscheidung in angemessener Zeit treffen zu können. Wenn wir zum Beispiel auf die Straße laufen und ein Auto auf uns zu rast, sollten wir nicht über die rote Lackfarbe und daran, dass uns das an Erdbeermarmelade erinnert, denken, sondern wir sollten uns primär darum kümmern, heil auf die andere Straßenseite zu kommen.

Da unser Gehirn die gesamte Flut an Eindrücken niemals vollständig verarbeiten und einordnen könnte, wird stattdessen vieles davon gefiltert und nicht tiefer verarbeitet. Das, was nach diesem Filterprozess übrigbleibt, erleben wir dann als Erinnerung. Dies verkürzt Informationswege und lässt uns wichtige Daten schneller aus dem Gedächtnis abrufen. Außerdem garantiert diese Selektion, dass nur wichtige und hochwertige Erinnerungen abgespeichert werden. Für das Gehirn kommt also Qualität vor Quantität.

Achtung: Gehirn überfordert

Der Effekt eines solchen Filterprozesses begegnet uns auch häufig bei Kennenlern-Situationen. Wir schütteln Hände mit dem Unbekannten, stellen uns vor und lächeln uns an. Aber Moment – wie hieß unser Gegenüber noch gleich? In dieser Situation ist unser Gehirn so damit beschäftigt unsere Bewegungen und das, was wir sagen wollen, zu koordinieren, dass wir den gehörten Namen direkt wieder vergessen. Ist man zusätzlich etwas aufgeregt, kann dies den Effekt sogar noch verstärken.

Gehirn
Ist unser Gehirn überfordert, haben wir manchmal Aussetzer. 

Aber was ordnet unser Gehirn als relevant ein und was nicht? Wir behalten offenbar vor allem Informationen, die Bezugspunkte zu unserer Persönlichkeit, aber auch zu bereits vorhandenem Wissen haben. Wenn uns etwa jemand erzählt, er sei Bäcker, können wir uns das um Längen besser merken, weil wir uns die Tätigkeit vorstellen können, als wenn die Person von Beruf „Data Warehouse Analyst“ wäre – ein Begriff, mit dem die meisten eben nichts verbinden.

Vergessen ist Selbstschutz

Doch das Vergessen ist nicht nur wichtig zur Informationsverarbeitung, sondern schützt uns auch davor, traumatische Erlebnisse immer und immer wieder durchleben zu müssen. Ob negative Erfahrung oder schwerwiegende Traumata – um uns von ihnen zu lösen, müssen wir sie vergessen können. Das Verblassen der negativen Erinnerungen hilft uns dabei, unsere eigene Identität neu zu formen und führt zu mehr Selbstakzeptanz.

 
Wenn das Vergessen zur Krankheit wird
Manche Menschen vergessen alles…

Unser Gedächtnis ist eine vergängliche und empfindliche Speicherform. Schon kleinste Störungen der Nervenweiterleitung können dafür sorgen, dass wir den Zugang zu alten Erinnerungen verlieren oder nicht mehr in der Lage sind, neue zu bilden. Damit kann das Vergessen Züge annehmen, die nicht mehr gesund oder in irgendeiner Weise förderlich für uns sind.

Vergessen im Alter

Für ältere Menschen ist es oft schwierig, sich Einzelheiten von Ereignissen oder neu gelernte Informationen zu merken. Diese Abnahme der Gedächtnisleitung ist dabei ein Teil des natürlichen Alterungsprozesses, denn das Gehirn altert genau wie unsere Organe auch. Je älter wir werden, desto schlechter können sich Zellen, und damit auch bestimmte Gewebe, regenerieren.

Auch das Gehirn ist davon betroffen und kann im Alter erheblich weniger Zellen nachproduzieren, sodass einige Gehirnareale im Laufe der Zeit immer mehr Nervenzellen einbüßen müssen. Dies führt dazu, dass einige Teile des Gehirns nicht mehr so leistungsfähig sind und die Kommunikation zwischen den Nervenzellen schlechter funktioniert. So kommt es zu geistigen Beeinträchtigungen bei vielen älteren Menschen.

Demenz
Demenz-Erkrankte können oft die Puzzleteile ihres eigenen Lebens nicht mehr zusammensetzten.
Demenz: Wenn das Gehirn schrumpft

Diese Altersvergesslichkeit ist jedoch keineswegs zu verwechseln mit der Demenz-Erkrankung. Anders als bei der normalen Vergesslichkeit im Alter, schreitet der Verfall des Gehirns bei Demenz-Patienten sehr schnell fort und führt zu deutlich schwerwiegenderen Symptomen. Betroffene leiden oft an Sprachstörungen, haben einst erlernte motorische Fähigkeiten verloren, können Gegenstände oder Personen nicht mehr erkennen und sind orientierungslos.

Die am häufigsten auftretende Form ist die Alzheimer-Demenz, die durch Proteinablagerungen an den Nervenzellen entsteht. Wenn sich bestimmte Proteine fehlfalten, können sie miteinander verkleben und sich in der Zelle ablagern. Diese Ablagerungen aus verklumptem Protein werden auch Plaques genannt und gelten gängiger Theorie nach, als Hauptgrund für neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer, die mit einem großen Verlust an Nervenzellen im Gehirn einhergehen.

Bei der Alzheimer-Demenz beispielsweise lagern sich zwischen den Gehirnzellen Plaques des Proteins Beta-Amyloid und Fibrillen des Tau Proteins ab. Beide Aggregat-Ablagerungen stören die Kommunikation zwischen den Nervenzellen im Gehirn und führen letztendlich zu einem Absterben der Neuronen. Das Gehirn von Alzheimer-Patienten schrumpft also regelrecht. Von den Schäden ist unter anderem die mit Denken, Planen und Erinnern assoziierte Großhirnrinde betroffen. Besonders ausgeprägt ist die Schrumpfung dabei im Hippocampus, der wichtig für die Bildung neuer Erinnerungen ist.

Amnesie
Manchmal betrifft eine Amnesie auch das Wissen über uns selbst. 
Amnesie: Plötzlicher Gedächtnisverlust

Doch neben solchen schleichenden Gedächtnisverlusten kann es auch passieren, dass Menschen von einen Tag auf den anderen alles vergessen. Solche plötzlichen Verluste des Gedächtnisses bezeichnet man als Amnesie. Sie werden meist unmittelbar durch bestimmte Ereignisse ausgelöst. Häufig werden dabei durch Gehirnerschütterungen oder Schädel-Hirn-Traumata, zum Beispiel nach einem Autounfall, bestimmte Gehirnareale verletzt und die Gedächtnisfunktion gestört. Das kann auch nach einer Gehirnentzündung durch seltene Virusinfektionen passieren. Doch auch psychische Traumata können im Zuge einer Art Schutzmechanismus Gedächtnisstörungen verursachen.

Je nach Art und Schweregrad der Amnesie können Betroffene keine neuen Informationen mehr abspeichern oder neue Inhalte lernen. Aber auch der Abruf von Erinnerungen oder Erlebnissen aus der Vergangenheit ist manchen Erkrankten unmöglich. Einige verlieren sogar ihr autobiographisches Gedächtnis und damit das Wissen darüber, wer sie sind. Bei manchen Patienten kehren Erinnerungen nach einiger Zeit zurück, bei anderen ist die Schädigung des Gehirns irreversibel.

Alles von vorne

Was all diese Amnesie-Formen gemeinsam haben, ist dass den Betroffenen ihr prozedurales Gedächtnis, welches hauptsächlich im Kleinhirn und den Basalganglien gebildet wird, erhalten bleibt. Das bedeutet, dass bestimmte Fertigkeiten wie Laufen, Radfahren oder Schwimmen nicht verloren gehen, da sie unterbewusst ausgeführt werden. Doch in seltenen, schweren Fällen kommt es auch zu einem „Vergessen“ dieser Fertigkeiten, die oft bereits im Kindesalter erlernt werden. Die Patienten müssen dann grundlegende Fähigkeiten wie das Gehen neu erlernen.

 
Niemals vergessen: Fluch oder Segen?
…und manche Menschen vergessen nie etwas

Einige Menschen sind nicht in der Lage, bestimmte Sachen zu vergessen, seien es banale Fakten oder eigene Erlebnisse. Und sogar der Körper kann manchmal bestimmte Eindrücke nicht vergessen. Doch was funktioniert hier anders? Und was hat das für Folgen?

Außergewöhnliche Gedächtnisleistung

Was allgemein als photographisches Gedächtnis bekannt ist, wird in der Wissenschaft als eidetisches Gedächtnis bezeichnet und beschreibt die sehr seltene Fähigkeit, Gesehenes über lange Zeit wie ein Foto im Kopf zu speichern. Solch ein außergewöhnliches Gedächtnis besaß auch der US-Amerikaner Kim Peek. Er war in der Lage den Inhalt eines Buches nach dem Lesen zu 99 Prozent korrekt wiederzugeben und kannte den Inhalt von 12.000 Büchern nach eigenen Angaben auswendig.

Eidetisches Syndrom
Inselbegabung: Manche Menschen können sich die Inhalte von über 10.000 Büchern merken.

Etwa sieben Sekunden brauchte er, um sich den Inhalt einer Buchseite zu merken. Dabei erfasste Peek mit jedem Auge jeweils eine Buchseite gleichzeitig. Bei MRT-Untersuchungen seines Gehirns fiel auf, dass seine beiden Gehirnhälften nur geringfügig miteinander verbunden sind. Diese Verbindung dient normalerweise zur gegenseitigen Kontrolle und Steuerung der beiden Gehirnhälften. Daher wird vermutet, dass die fehlende Verbindung für einen ungebremsten Fluss der visuellen Informationen ins Bewusstsein sorgt. Doch ein Zusammenhang konnte bisher nicht nachgewiesen werden.

Das eigene Leben immer im Kopf

Solche außergewöhnlichen Gedächtnisleistungen können sich anstatt auf neutrale Fakten und Informationen auch auf eigene Erlebnisse und Erfahrungen beziehen. Wie sich das anfühlt, weiß die US-Amerikanerin Jill Price, bei der zum ersten Mal das sogenannte Hyperthymestische Syndrom beobachtet wurde. „Es fühlt sich an, als ob ich immer mit einer Videokamera auf der Schulter herumliefe, die jede einzelne Minute meines Lebens aufzeichnet. Und später kann ich mir auf einem Bildschirm in meinem Kopf die Videos von jedem beliebigen Tag ansehen“, sagt Price gegenüber dem „Spiegel“.

Bei ihr funktioniert das episodische Gedächtnis, das persönliche Erlebnisse und zugehörige Gefühle abspeichert, nahezu perfekt. Bis auf die Beobachtung, dass einige ihrer Gehirnareale überdurchschnittlich groß sind, kennt man die Ursachen des Syndroms bisher aber noch nicht. Betroffene wie Price leiden vor allem daran, negative Erlebnisse immer wieder durchleben zu müssen und nicht verarbeiten zu können. Das Sprichwort „Zeit heilt alle Wunden“ hat für sie keine Bedeutung.

Reizüberflutung
Reizüberflutung: Traumatische Erinnerungen können immer wieder an die Oberfläche treten. 
PTBS: Wenn Vergessen nicht gelingen will

Diese Schattenseite des ausgeprägten Erinnerungsvermögens kennen auch Patienten, die unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden (PTBS). Nach Autounfällen, Vergewaltigungen, Flucht und Vertreibung oder anderen Gewalterlebnissen verblassen die Erinnerungen an diese traumatischen Erlebnisse bei den meisten Menschen allmählich, während andere sie ständig wieder durchleben müssen: Sie können einfach nicht vergessen.

Zwar können Betroffene oft Einzelheiten des traumatischen Ereignis nicht wiedergeben, sind aber trotzdem gezwungen sich ständig schmerzhaft wieder zu erinnern. Was läuft da falsch im Gehirn? Während und nach der traumatischen Situation wird das Gehirn mit Informationen und Reizen überflutet und ist schnell mit dem Anlegen von Erinnerungen überfordert. Wäre das Gedächtnis ein Schrank, hätte es also alle Gefühle, Sinneseindrücke und Gedanken ohne Rücksicht auf die Reihenfolge hineingeworfen. Die Erinnerungsfragmente liegen durcheinander im Schrank und die Tür kann nicht geschlossen werden, ohne dass ein einzelnes Bruchstück wieder herausfällt und dabei unangenehme Gefühle und körperliche Symptome auslöst.

Schmerz
Schmerzgedächtnis: Wenn der Körper den Schmerz nicht vergessen kann.
Schmerzgedächtnis: Der Körper vergisst nicht

Neuronen und Nervenbahnen gibt es aber nicht nur in unserem Gehirn, sondern im ganzen Körper. Können also beispielsweise der Rücken oder die Beine auch ein Gedächtnis bilden? Im übertragenen Sinne schon, und zwar für Schmerzen. Der biologische Sinn von akuten Schmerzen besteht normalerweise darin, uns auf potentiell gewebeschädigende Umwelteinflüsse aufmerksam zu machen. Reize von außen werden über das Rückenmark ins Gehirn weitergeleitet und lösen zum Beispiel einen Wegzieh-Reflex aus.

Diese Reizweiterleitung ist aber keine Einbahnstraße und sorgt umgekehrt dafür, dass wir den Bereich um das verletzte Gewebe auch als empfindlicher wahrnehmen und schonen. Wenn nun der Schmerz lange genug anhält, hinterlässt er eine Spur im schmerzverarbeitenden Nervensystem unseres Körpers, die sich regelrecht einbrennt und die Neuronen auch feuern lässt, wenn die ursprüngliche Ursache des Schmerz längst verschwunden ist.

„Derartige Umbauprozesse können nicht einfach wieder rückgängig gemacht werden. Selbst wenn die Ursachen chronischer Schmerzen nicht mehr bestehen, erinnert sich das Gehirn daran. Unsere Forschungen haben ergeben, dass das Gehirn keine Löschtaste besitzt. Erlebte Schmerzen bleiben gespeichert, ihre Spuren können nicht einfach zum Verschwinden gebracht werden“, erklärt Schmerzforscher Walter Zieglgänsberger die Problematik der chronischen Schmerzen.

 
Trainieren des eigenen Gedankenkarussells
Können wir aktiv vergessen?

Vor allem zur Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen werden in der Psychotherapie inzwischen Ansätze zum aktiven Vergessen erprobt. Aber warum kann das helfen? Und können wir wirklich aus schierer Willenskraft vergessen?

Vergessen
Können wir wirklich Erinnerungen gezielt ausradieren? 
Verstauen anstatt Verschwinden lassen

„Das deutsche Wort ‚vergessen‘ beruht auf dem Stamm ‚gessen‘ und drückte ursprünglich eine Bewegung in Richtung des Sprechers aus; er ‚bekommt‘ also etwas. Durch die Vorsilbe ‚ver‘ wird es ins Gegenteil verwandelt. Damit ist Vergessen vom Wortstamm her ein aktiver Prozess“, sagt Neurobiologe Martin Korte gegenüber „Spektrum der Wissenschaft“. Doch nicht nur wörtlich gesprochen ist das Vergessen eine aktive Handlung, anscheinend können wir den Vergessens-Prozess tatsächlich bewusst steuern.

Dabei ist das Vergessen aber kein Verschwinden der Erinnerungen, sondern eher ein Verstauen in der hintersten Gedanken-Schublade, an die man nur noch schwer herankommt. Was damit auf neurobiologischer Ebene gemeint ist, erklärt der Neurowissenschaftler Henning Beck: „Damit wir etwas organisch vergessen, müssen sich die Nervennetzwerke so verändern, dass ein Aktivitätsmuster, also die Erinnerung, nicht mehr ausgelöst werden kann. Mitunter bauen sich Kontaktstellen so um, dass die Fähigkeit verloren geht, ein Gedankenmuster hervorzurufen“.

Neue Denkmuster entwickeln

Aber wie funktioniert das in der Praxis? Wenn eine Person beispielsweise auf dem Weg zur Arbeit überfallen wurde und dabei körperlich unversehrt bleibt, muss sie trotzdem mit einer verstärkten Angst vor einem erneuten Überfall leben. Sie geht vielleicht einen alternativen Weg zur Arbeit, bleibt irgendwann lieber im Home-Office und traut sich bald im schlimmsten Fall gar nicht mehr raus.

Netzwerke
Wir können unser Gehirn so trainieren, dass sich Neuronen-Netzwerke umgestalten.

Eine Strategie zum gezielten Vergessen würde nun vorsehen, diesen Weg trotzdem zu gehen. Und zwar immer und immer wieder. So lernt das Gehirn immer wieder aufs Neue, dass die Straße gar nicht gefährlich ist und wird sozusagen „umgepolt“. „Eine Hirnregion namens Hippocampus fungiert dabei gewissermaßen als Trainer der Nervennetzwerke des Großhirns. Ist ein neuer Eindruck besonderes überraschend, präsentiert der Hippocampus dieses Aktivitätsmuster immer wieder dem Großhirn, bis sich die dortigen Nervenzellen an das neue Muster angepasst haben“, erklärt Beck das Umgestalten der Gedanken-Netzwerke im Gehirn.

Überlagerung der schlechten Erinnerungen

Die Aktivität der Neuronen, die bei den Betroffenen Ängste auslöst, wird also nicht unterdrückt, sondern eher auf eine andere Frequenz geschaltet. Die ursprüngliche Kommunikation zwischen den Neuronen wird schwächer und schließlich gehemmt und überlagert von den neuen, positiveren Erinnerungen an den Weg zur Arbeit.

Ob jeder zum aktiven Vergessen in der Lage ist und ob diese Strategie auch wirklich bei starken emotionalen Erinnerungen funktioniert, ist bisher allerdings nur unzureichend erforscht. Menschen, die das Gefühl haben, die Folgen von belastenden Erinnerungen nicht allein händeln zu können, sollten daher immer professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

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