
Was ist postmodernes Denken? Und wohin hat es uns geführt? Der Philosoph Daniel Pascal-Zorn erinnert an eine Denkrevolution, die durch Auswüchse der Identitätspolitik in Verruf geraten ist. Bei einem Punkt haben die Postmoderne-Kritiker jedoch recht.
Von Wolf Lepenies
Obwohl sie sich an Pariser Elite-Gymnasien wie dem Lycée Louis-le-Grand und dem Lycée Henri IV vorbereitet haben, fallen Jackie, Paul-Michel, Jean-François und Gilles beim ersten Anlauf in der Aufnahmeprüfung für die École Normale Supérieure durch oder werden zur Prüfung gar nicht erst zugelassen. Die Rede ist von den Philosophie-Studenten Jacques Derrida, Michel Foucault, Jean-François Lyotard und Gilles Deleuze. Alle vier haben Schwierigkeiten, den starren Anforderungen des französischen Bildungssystems gerecht zu werden. Über einen von ihnen urteilt der Prüfer: „Soll wiederkommen, wenn er bereit ist, die Regeln zu akzeptieren und nicht zu erfinden, wo man sich informieren muss. Ein Durchfallen wird diesem Kandidaten von Nutzen sein.“
Derrida & Co. fallen durch – aber der Nutzen, den sie davon haben, zeigt sich nicht in nachholender Anpassung, sondern in intellektueller Revolte. Nun erst recht, lautet die Devise. Bald gelingt es ihnen, „die Regeln der Akademie“ mit der „kreativen Regellosigkeit des intellektuellen Diskurses“ zu verbinden. Aus dieser Melange formt sich das Milieu der postmodernen Philosophie. Seit den 1960er Jahren prägt sie die intellektuelle Debatte nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa und in den USA.
Statt Wahrheit nur noch Meinungen
„Die Postmoderne ist an allem schuld“ – mit diesem Satz beginnt Daniel-Pascal Zorns Buch „Die Krise des Absoluten. Was die Postmoderne hätte sein können“. Ein opus magnum – sowohl was den Umfang als auch den Anspruch des Autors angeht. Schuld ist die Postmoderne angeblich daran, spottet Zorn, dass wir die Welt nicht mehr als eine uns allen gemeinsame Realität, sondern lediglich als Konstruktion verschiedener Wirklichkeiten wahrnehmen. Statt Wahrheit gibt es nur noch Meinungen: „Auch Verschwörungstheorien und Fake News, ‚political correctness’ und ‚cancel culture’, also die weitverbreitete Tendenz, unliebsame Meinungen zu unterdrücken, haben wir der Postmoderne zu verdanken.“ Zorn nutzt diesen Lasterkatalog als Folie, um davon seine emphatische Schilderung der Postmoderne abzuheben, die in vielen Passagen einer Heroengeschichte ähnelt.
- Die Dunkelmänner der Postmoderne.
- Postmoderne Erste Philosophie.
- Die Selbstverständlichkeit der Vernunft ist ihr wunder Punkt.
- Donald Trump und Paul Feyerabend.
- Nix gilt.
- Eine neue Denkepoche.
- Gibt es das Absolute wirklich oder nur als unumgängliche Fiktion?
Dabei ist „Postmoderne“ nicht das Etikett einer durch Anfang und Ende bestimmten historischen Epoche oder Episode. Sie ist vielmehr ein „kompletter Zeit- und Erfahrungsraum“, der wie die Moderne durch eine „Krise des Absoluten“ geprägt wird, wie Zorn es nennt. Es geht um die Reaktion auf den Verlust fragloser Gewissheiten in Kultur, Gesellschaft und Ökonomie. Diese Verlustgeschichte, die stets von Versuchen zur Wiedergewinnung von Gewissheiten begleitet wird, vergleicht Zorn in seinem Metaphern-starken, manches Mal auch Metaphern-verliebten Buch mit „einer Bergwanderung, einem Rundweg durchs philosophische Gebirge.“ In seinem Zentrum „thronen natürlich die großen Vier der französischen Philosophie: der Historiker und Psychologe Michel Foucault, die beiden Philosophen Jacques Derrida und Gilbert Deleuze, und der Theoretiker Jean-François Lyotard.“
Nach ein paar Wegstunden stößt der Wanderer auf den Höhenzug der deutschen Philosophie, „die als ältere Formation durch starke Verwitterung ausgezeichnet ist“. Von oben herab schaut der Münsteraner Philosoph Joachim Ritter auf die bürgerliche Gesellschaft, Theodor W. Adorno dagegen – natürlich redet ihn Zorn mit „Teddie“ an – setzt sich mitten in diese Gesellschaft, „um ihre Widersprüche und Paradoxien aus nächster Nähe zu beschreiben“. Die deutsche Philosophie bildet den Hintergrund für das Panorama der postmodernen Autoren. Dazu gehören auch Richard Rorty, ihr „US-amerikanischer Zwilling“ und Heinz von Foerster, der österreichische Physiker, Philosoph und Pionier der Kybernetik.
Diese acht Philosophen markieren die wichtigsten Stationen der postmodernen Wanderung. Daniel-Pascal Zorn, der Bergführer, findet eine treffende Metapher, um seine eigene Methode zu kennzeichnen: Er hat dem Leser keine Postkarte präsentiert, auf der das Bergmassiv der Postmoderne aus einer einzigen Perspektive erscheint. Er hat ihm vielmehr eine Wanderkarte an die Hand gegeben, mit der sich die Perspektivwechsel der Postmoderne und die Veränderungen ihres Hintergrunds Schritt für Schritt nachvollziehen lassen.
An zwei herausragenden Publikationen lässt sich die Fruchtbarkeit der postmodernen Perspektivwechsel exemplarisch zeigen. Es sind Michel Foucaults „Les Mots et les Choses“ („Die Ordnung der Dinge“) von 1966 und Richard Rortys 1979 erschienenes Buch „Philosophy and the Mirror of Nature“ („Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie“).
Foucault ersetzt das Nacheinander der herkömmlichen Disziplingeschichte durch eine Archäologie des Gleichzeitigen. Er zeigt, dass vor der Herausbildung von Philologie, Ökonomie und Biologie die allgemeine Grammatik, die „Analyse der Reichtümer“ und die Naturgeschichte im 17. Jahrhundert die gleichen Strukturmerkmale aufweisen. In ihnen spiegeln sich die Wissensmöglichkeiten eines Zeitabschnitts. Es sind die Unterschiede, die sich ähneln, nicht die Ähnlichkeiten, so hat Claude Lévi-Strauss diese Sichtweise in eine Formel gefasst.
Theoriebildung hinterfragen
Richard Rortys erklärte Absicht ist es, das Vertrauen des Lesers in die traditionelle Philosophie zu untergraben. Er entwirft eine andere Philosophie. „Große systematische Philosophen“, schreibt Rorty, „sind konstruktiv und liefern Argumente. Große bildende Philosophen reagieren und schreiben Satiren, Parodien und Aphorismen“. Es geht nicht darum, Theorien durch Theorien zu ersetzen, sondern den ganzen Prozess der Theoriebildung ironisch in Frage zu stellen.
Rorty war selbst ein „großer bildender Philosoph“, beeinflusst vom sogenannten „linguistic turn“ der in seiner Zeit immer mehr an Bedeutung gewann. Bei Rorty zeigte sich diese „Wende“ nicht nur in der Aufmerksamkeit für die Sprachphilosophie, sondern auch in der Annäherung an die Literatur und in einer literaturnahen Schreibweise. Es war nur folgerichtig, dass Rorty gegen Ende seiner Karriere von der Philosophie auf einen Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft in Stanford wechselte. Der „große bildende Philosoph“ war dabei ein hellsichtiger Chronist politischer Ereignisse. In seinem 1998 erschienenen Buch „Achieving Our Country“ („Stolz auf unser Land“) würdigte Rorty den amerikanischen Patriotismus – und sah Entwicklungen voraus, die einen Donald Trump ins Weiße Haus führen würden.
In einer Zeit des Übergangs von der Elitenbildung zur Massenuniversität stellten die Philosophen der Postmoderne nicht nur die herkömmlichen Weisen der Wissensproduktion infrage. Sie versuchten auch, auf die Institutionen der Wissensproduktion Einfluss zu nehmen – in einer Zeit, da vor allem in Frankreich die Humanwissenschaften zunehmend an Bedeutung gewannen. Michel Foucault beschäftigte sich so intensiv mit den Planungen für eine Universitätsreform, dass der zuständige Minister überlegte, ihm einen Posten im Erziehungsministerium anzubieten.
Jean-François Lyotard schrieb als Antwort auf die Bitte des Universitätsrates von Québec einen Bericht über „die Lage des Wissens in den höchstentwickelten Gesellschaften“ zu verfassen, seinen Essay „Das postmoderne Wissen“. Dieser Text wurde zu einem Manifest der Postmoderne. Lyotards These, die Zeit der „großen Erzählungen“, der allumfassenden geschichtsphilosophischen Entwürfe sei vorbei, wurde zum Standardargument der Gegenwartsdiagnose. Die Postmoderne ist eben, wie Zorn konstatiert, „keine Lösung für ein Problem, sie ist das Symptom eines Übergangs, der Ausdruck einer Krise“.
Postmoderne-Kritik durch Habermas
Zorns Kritik an der Kritik der Postmoderne ist heftig. Am stärksten wettert er gegen Jürgen Habermas, dessen Vorlesungen von 1983/84 („Der philosophische Diskurs der Moderne“) eine Abrechnung mit der Postmoderne und ihrem „Irrationalismus“ waren. Dagegen verteidigte Habermas „die moderne Rationalität und das pragmatisch-liberale Paradigma der kommunikativen Vernunft“. Dass der so Metaphern-bewusste Zorn Habermas als „Diskurswächter“, „Gerichtsdiener“ und „Kriegsberichterstatter“ tituliert, zeigt, dass die Kritik von Habermas einen Nerv getroffen hat.
Zorn hat ein ebenso faszinierendes wie manches Mal ermüdendes Buch geschrieben. Es endet mit einer Vision, einer Beschreibung, „was die Postmoderne hätte sein können“. In einem kreisrunden, transparenten Glaspalast in der Antarktis haben sich acht Männer um einen Tisch zum Gespräch und Austausch der Argumente versammelt. Der „Diskurswächter“ Habermas hätte von „herrschaftsfreier Kommunikation“ gesprochen. Wer nicht sofort erkennt, um wen es sich bei Jackie, Jean-François, Richard und Gilles, Teddie und Joachim, Heinz und Michel handelt, hat auf der Tour durch das postmoderne Gebirge die Wanderkarte verloren.
Daniel-Pascal Zorn: Die Krise des Absoluten. Was die Postmoderne hätte sein können. Klett-Cotta, 656 Seiten, 38 Euro
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