Donnerstag, 29. Juli 2021

Am Ende doch auch nur ein Reduktionist.

landidylle

aus spektrum.de, 28. 7. 2021                                                                             zuJochen Ebmeiers Realien; zu Philosophierungen

Einer der bedeutendsten Physik-Nobelpreisträger auf dem Gebiet der theoretischen Teilchenphysik ist gestorben  
Ein Nachruf auf Steven Weinberg

Kaum von der Presse beachtet starb am 23. Juli 2021 im Alter von 88 Jahren einer der bedeutendsten theoretischen Physiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Neue Zürcher Zeitung, die grösste Zeitschrift in der Schweiz, und das Wochenmagazin Spiegel mit der bedeutendsten News-Website in Deutschland schienen den Tod des Physik-Nobelpreisträger von 1979 Steven Weinberg allerdings vollständig zu ignorieren. Sind Hochwasser und die Olympischen Spiele in Tokio so viel wichtiger als einer der grössten Physiker des 20. Jahrhunderts, der eine ganz neue Grundlage für sein Fach aufgelegt hat?

In den späten 1960er-Jahren gelang es Steven Weinberg, Sheldon Glashow und Abdus Salam (in voneinander getrennten Arbeiten), die Quantenfeldtheorie der schwachen Kernkraft und die relativistische Quantenelektrodynamik als zwei verschiedene Seiten einer einzigen Theorie darzustellen. Die Physiker sprechen heute von der „Theorie der elektroschwachen Kraft“. Dies war der erste – und bis heute letzte – Schritt, die verschiedenen Kräfte im Universum innerhalb einer globalen Theorie als verschiedene Facetten einer einzigen universellen Kraft darzustellen. Für die dritte Kraft, die starke Kernkraft, existieren bereits seit einigen Jahren überzeugende Theorien, die sie mit den beiden anderen zusammenbringt. Die Physiker sprechen in diesem Zusammenhang von einer „großen vereinheitlichten Theorie“ (Grand Unification Theory, GUT). Allerdings sind die Energien, bei denen sich eine solche Einheit offenbart, noch viele Größenordnungen höher als was die Physiker heute in experimentellen Teilchenbeschleunigern erreichen, so dass die GUT-Theorien alle unüberprüfbar bleiben. So besteht die Standardtheorie der Elementarteilchenphysik immer noch aus zwei verschiedenen Grundmodellen: die sogenannte SU(3)-Gruppe der Quantenchromodynamik für die starke Kernkraft (SU(3) ist eine Symmetriegruppe, die die Invarianz der zugrundeliegenden Gleichungen beschreibt). Die andere ist die kombinierte SU(2)-U(1)-Gruppe der von Weinberg und seinen Kollegen entdeckten elektroschwachen Theorie. Die wohl bedeutendste GUT ist die auf der SU(5)-Eichinvarianz beruhende Theorie, jedoch bracht es dafür noch zahlreiche neue, bisher unentdeckte Teilchen, die diese 24-dimensionale Invarianztransformations-Matrix impliziert. Und wie dann zuletzt die Gravitationskraft integriert werden soll, ist noch völlig unbekannt (auch wenn es hierfür ebenfalls bereits Theorien gibt, die aber einen noch einige weiteren Grössenordnungen an Energie zu allem, was wir zur Zeit erreichen, entfernt ist, so dass wir diese erst Recht nicht validieren – oder falsifizieren – können). Die ultimative Theorie verlangt eine Vereinheitlichung der Quantentheorie und der allgemeinen Relativitätstheorie verlangt, von der die theoretischen Physik heute noch sehr weit entfernt ist.

So ist die von Weinberg und seinen Kollegen schon vor über 40 Jahren entdeckte elektroschwache Kraft, die auf niedrigeren Energieskalen in die elektromagnetische und die schwache Kernkraft aufgespalten wird, tatsächlich der bisher einzige – noch sehr kleine – Schritt auf dem Traum-Weg der theoretischen Physiker zu einer einheitlichen Theorie für alle Kräfte im Universum zu gelangen, zu der, wie sie es nennen „Theory of Everything“ (TOE). Seit kurzem spekulieren die Physiker, ob sie vielleicht sogar eine fünfte Kraft erkannt haben, doch die darauf hinweisenden Werte weichen doch nur sehr gering von denen des Standardmodells ab, so dass es sich hier immer noch mit einer nicht unbedeutenden Wahrscheinlichkeit um einfache Messfehler handeln könnte (auch wenn die Messungen nun an einigen verschiedenen Orten gemacht wurden und recht konsistent erscheinen).

Auch in anderen Bereichen der Physik leistete Weinberg wichtige Arbeit und schrieb auch mehrere massgebliche Lehrbücher zu Themen wie allgemeine Relativitätstheorie, Kosmologie und Quantenfeldtheorie. Er war ein früher Verfechter der Superstringtheorie, die in den 1980er Jahren einen vielversprechenden Weg zur Theory of Everything darstellte, in dem sie die Quantenfeldtheorie mit der allgemeinen Relativitätstheorie vereinigt (was sie heute aufgrund ihrer sehr vielen frei wählbaren Parameter nicht mehr ist).

Weinberg war von 1973 bis 1983 Professor für Physik an der Harvard Universität und ging danach an die University of Texas in Austin, wo er eine Gruppe für theoretische Physik gründete, die heute acht ordentliche Professoren hat und eine der führenden Forschungsgruppen auf diesem Gebiet in den US ist. Neben dem Nobelpreis, der höchsten Auszeichnung in der Physik überhaupt, wurde seine Forschung über Elementarteilchen sowie auch Kosmologie mit zahlreichen weiteren Preisen und Auszeichnungen gewürdigt, u.a. 1991 mit der National Medal of Science und 2004 mit der Benjamin-Franklin-Medaille der American Philosophical Society. Für letztere hiess es in der Begründung, dass er „von vielen als der bedeutendste heute lebende theoretische Physiker der Welt angesehen wird“. Seine Publikationen wurden immer sehr hoch angesehen, was sich auch durch den jeweiligen so genannten „h-Index“ für physikalische Papers zeigt. Das Publikationsinstitut Science News nannte ihn zusammen mit den beiden theoretischen Physikern Murray Gell-Mann (gest. 2019) und Richard Feynman (gest. 1988) als den führenden Physiker seiner Zeit (zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts). Neben der US National Academy of Sciences wurde er in die britische Royal Society, sowie in die American Philosophical Society und die American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Weinberg schrieb auch Bücher und Artikel für eine breitere Öffentlichkeit zu verschiedenen Themen. So beschreibt sein erstes und bis heute wohl bekanntestes populärwissenschaftli-ches Buch Die ersten drei Minuten: Der Ursprung des Universums aus dem Jahr 1977 (engl. Original: The First Three Minutes: A Modern View Of The Origin Of The Universe) den Beginn des Universums mit dem Urknall und legt ein Argument für seine Expansion dar, das heute in der Kosmologie fest etabliert ist. Noch im Jahr 2015, als über 80-Jähriger, schrieb er in seinem Buch To Explain the World: The Discovery of Modern Science über die Geschichte der Wissenschaften von den Griechen bis zur Moderne. Zahlreiche Aufsätze von ihm erschienen in The New York Review of Books und anderen Zeitschriften. Zugleich war er Berater der US-Agentur für Rüstungskontrolle und Abrüstung und der JASON-Gruppe von Verteidigungsberatern, Präsident der Philosophical Society of Texas und des Council of Scholars der Library of Congress. Zudem arbeitete er noch für zahlreiche weitere staatliche Gremien und Ausschüsse.

Weinberg war nicht zuletzt auch bekannt für seine ausgeprägte reduktionistische Sicht auf die Welt. Die Physik sollte zuletzt alles in der Welt von Grund auf klären können, wie er es einmal folgendermassen zusammengefasst hat:

Alle Erklärungspfeile zeigen abwärts, von den Gesellschaften zu Menschen, von dort zu den Organen, zu Zellen, zur Biochemie, zur Chemie und letztlich zur Physik.

 

Nota. - So verschieden sind die Geschmäcker selbst in den exaktesten Wissenschaften: In Obigem liest es sich so, als sei die Große Einheitswissenschaft und Theorie von Allem zum Greifen nah, doch noch gestern klang es an dieser Stelle eher so, als sei der Traum längst ausgeträumt. Mit einem reduktionistischen Ansatz hätte allerdings auch eher ein Albtraum daraus werden können. 

Ein Physiker wird dazu neigen, sein Fach für das grundlegende zu halten, so wie der Mathe-matiker die Mathematik oder der Biologe die pp. Lebenswissenschaften. In jedem Fall blie-be die Frage: Und worauf gründet das grundlegende Fach? Wenn es begründet ist, ist es nicht grundlegend, und wenn es nicht begründet ist, ist es keine Wissenschaft - und so weiter in infinitum. Das ist ein altes Lied. Wer wirklich einen Grund will, dem bleibt am Ende keine Wahl, als irgendein Absolutum zu postulieren, das er allen Andern zu gutem Glauben anempfiehlt. Das öffnet allem Okkultismus Tür und Tor, und man kann sich seiner nur durch kämpferische Inkonsequenz erwehren.

Dabei ist der Fehler leicht zu erkennen und zu umgehen. Dass eine Letzbegründung unver-zichtbar ist, wenn Begründung überhaupt denkbar sein soll, ist wohl wahr. Falsch ist aber, sie in den Gegenständen zu suchen; denn die sind unendlich mannigfaltig. Die Auspreisung eines Elementar gegenstands kann schlechterdings nicht anders als willkürlich, und das heißt in wissenschaftlicher Sprache: als zufällig erfolgen. Man muss den absoluten Anfang aber gar nicht aufseiten der Gegenstände suchen: Auf Seiten des Wissens selbst findet sich ohne-hin nur einer  - der Wissenwollende. Nicht die Dinge begründen das Wissen, sondern das Wissen selbst. JE

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