Sonntag, 18. Juli 2021

Über Werte.

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aus spektrum.de, 17. 7. 2021                                                                                 zu Jochen Ebmeiers Realien; zu Philosophierungen

Vom Wert der Werte
Im Wahlkampf werden politische Parteien nicht müde, Werte einzufordern. Doch was damit gemeint ist, ist oft nicht klar, findet unser Kolumnist Matthias Warkus. Manchmal sind sie bloß Worthülsen.

von Matthias Warkus

Politik besteht zu einem großen Teil aus anstrengendem Klein-Klein um häufig sehr kon-krete Dinge – Gewerbesteuer-Hebesätze, Fördergelder, Beschaffungen und Investitionspro-jekte. Ab und zu wird es dann aber doch allgemein, und es geht darum, »wie wir miteinan-der leben wollen« oder wie auch immer die gängigen Floskeln lauten. Es ist nicht alles nur Handwerk, Stellschrauben und Bürokratie, auch das Große und Ganze muss seinen Auftritt haben, und wenn das passiert, dann ist eigentlich immer von einem die Rede: von Werten.

So ist es auch kein Wunder, dass zum Beispiel in den Wahlprogrammen der beiden derzeit stärksten Parteien viel von Werten und Verwandtem wie »Wertegemeinschaften« die Rede ist (interessanterweise sowohl bei der Union als auch bei den Grünen etwa gleich oft). Von Werten zu reden ist gut und schön, aber was soll man sich darunter überhaupt vorstellen?

Das Wort »Werte« wirft zwei relativ offensichtliche Schwierigkeiten auf: Erst einmal ent-zieht es sich schlicht dadurch, dass es dieses Wort ist und kein anderes, einer neutralen The-matisierung, denn »Wert« impliziert gerade, dass das, worüber man da redet, etwas wert sein soll. Sätze wie »Werte sind mir egal« oder »Werte bringen nichts« klingen schräg. Man könn-te also, wenn man böse sein möchte, vermuten, dass jemand, der von Werten redet, einem damit etwas unterjubeln wollen könnte.

Wozu brauchen wir Werte?

Dazu passt die zweite Schwierigkeit. Wenn man von wolkigen Sonntagsreden zu konkreten Beispielen kommt, geht es bei diesen häufig um allgemein verbindliche handlungsleitende Regeln. Auch wenn es einem heute vorkommt wie die Forderung, Herren sollten doch bitte, wenn sie aus dem Haus gehen, ihren Degen nicht vergessen: Gar nicht so lange vor der Pandemie wurde noch von höchster Stelle eingefordert, dass »wir« in Deutschland »uns zur Begrüßung die Hand geben«, und zwar alle. Aber was ist da genau der Wert? Und dort, wo es klarer wird, wo bei Forderungen nach Regeln der ethische Gehalt vergraben ist, reicht es doch eigentlich, von Tugenden zu sprechen – Nächstenliebe, Wahrhaftigkeit, Tapferkeit und wie sie alle heißen, es gibt bekanntlich jede Menge davon. Bei anderen Werten scheint es, wenn es konkret wird, vor allem um Konservierung von bestimmten Gegenständen (zum Beispiel Kulturschätzen) oder von bestimmtem Knowhow (etwa der Fähigkeit, einen hand-schriftlichen, fehlerfreien Brief zu schreiben) zu gehen, also von Gütern. Das ist ein klassi-scher Punkt in der Diskussion von Werten: Wozu brauchen wir Werte, wenn wir Tugenden und Güter haben? Was kann man mit Werten begründen, was man nicht auch ohne Werte begründen kann?

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In der Tat sind Werte denn auch etwas Neumodisches. Der Trend zum Wert beginnt erst nach 1900, und er ist verbunden mit Philosophen wie Max Scheler und Nicolai Hartmann, die mit ihren Wertetheorien der Ethik vor allem ein realistisches Fundament geben wollten. Realistisch im philosophischen Wortsinn, das heißt: unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung, unveränderlich, wie es etwa auch mathematische Gebilde sind. Das Grund-gesetz der Bundesrepublik Deutschland wie überhaupt die ganze rechtsphilosophische Landschaft der Nachkriegszeit sind mehr oder minder stark von werterealistischen Vorstel-lungen geprägt, die gut in die Zeit passen, in der man nach Verbindlichkeit suchte, an Be-währtes aus der Vergangenheit (insbesondere an die griechische Antike und an Jesus) an-knüpfen wollte und ein regelrechter Humanismus- und Werteboom tobte. In einem zu mehr als 70 Prozent der Zeit konservativ regierten Land ist es auch kein Wunder, dass das Anknüpfenwollen an die Vergangenheit nicht aufhört und die Konjunktur der Werte über Jahrzehnte kaum zu bremsen scheint – obwohl die ausgearbeiteten philosophischen Werte-theorien heutzutage antiquiert sind und man sich kaum noch an sie erinnert.

Im konkretesten Fall bedeutet »Werte« also abstrakt und unveränderlich konzipierte Gebil-de, auf die gestützt man sich das menschliche Denken darüber, was wünschenswert ist und was nicht, denkt. Im schlechtesten Falle ist das Wort eine bloße Hülse, mit der man signali-sieren möchte, dass man auch über Gut und Böse nachgedacht hat. Es gibt jedenfalls, wie ich finde, kaum ein Wort, bei dem es nötiger ist, immer nachzufragen, was jeweils genau gemeint ist – auch wenn es nur selten jemand macht.

 

Nota. - Das ist lobenswert, aber halbherzig. Er hätte schreiben sollen: "Wir brauchen keine Werte"; oder doch wenigstens: Wir bräuchten keine Werte - wenn wir uns endlich darauf verständigen könnten, dass im öffentlichen Raum Vernunft walten soll. 

Der realistisch aufgefasste 'Wert' ist nämlich ein begrifflicher Bastard, der nur Löcher ver-kleistern soll: die Löcher, die sich aufgetan haben, seit das Absolute aus dem irdischen Le-ben verschwunden ist. Es hieß nicht so und hatte sich in diverse rivalisierende Glaubens-kongregationen zersetzt, deren Partikularität auch dem Dümmsten ins Auge sprang, als sich im 30jährigen Krieg die Religion nicht als verbindender Leim, sondern als kriegstreibendes Gift entpuppte. 

Es musste etwas gefunden werden, auf das sich Alle verständigen konnten, weil es über den Religionen stand und diese unbeachtet lassen könnte "etsi deus non daretur". Zu beachten: Die Idee eines irdischen Vernunftreichs ist nicht aus scholastischen Spekulationen der Phi-losophen entstanden, sondern aus der politischen Erfordernis des wirklichen Lebens.

Das war dann aber doch nicht der Stein des Weisen, wie man gehofft hatte. Denn dass Ver-nunft herrschen sollte, war "Konsens";  doch was Vernunft "überhaupt ist", wäre so strittig gewesen, wie es die religiösen Dogmen waren, die in die Katastrophe geführt hatten.* Also hat man die Frage vorsichtig ausgeklammert. Statt zu bestimmen, was Vernunft ist, beschränk-te man sich darauf, zu regeln, wie sie verfährt - nämlich 'klar und deutlich wie der Geome-ter'.

In der Sache war man also kaum gebessert. Was absolut ist, kann keinen reellen Streit ent-scheiden, denn es ist nicht positiv. Positiv könnte es sein, wenn es bestimmt wäre - doch dann wäre es nicht absolut. Und so traten im Zusammenleben der Staaten im 19. Jahrhun-dert an die Stelle der Vernunft die Bündnissysteme der imperialistischen Großmächte (was schließlich in den Weltkrieg führte). Im inneren Zusammenleben der Staaten traten rivali-sierende Weltanschauungen in Gestalt von Klassen- und Programmparteien als ordnende Kräfte auf. 

Und die vertraten "Werte". Verhackstückte, verweltlichte, "anschauliche", handhabbare Portionen vom ehemals Absoluten: relativ Absolute. Ein Notbehelf, besser als gar nichts, sollte man sagen. Doch als solchen sollte man ihn besser unterm Mantel halten und nicht an die große Glocke hängen. Denn wer das tut, kann wirklich nur demagogische Absichten verfolgen.

Als unbestimmtes Absolutum kann Vernunft gar nicht herrschen, sondern nur konkret und bestimmt. Das ist umso mühseliger, je weniger Leute es einsehen. Man müsste ein Mittel finden, dass es mehr werden. Die Vernunft braucht ihre Proselyten in der Welt wie die ersten Christen unter Juden und Heiden.

*) Nicht der Wortlaut der Dogmen hat den 30jährigen Krieg verursacht; sondern der Glaube, dass das weltliche Zusammenleben durch Dogmen geregelt werden könnte - sobald nämlich jeder seine eigenen hatte. Real waren politische Konflikte; die Konfessionen folgten ihnen und gossen Öl ins Feuer

JE



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