
Das Object der Wissenschaftslehre ist nach allem das System des menschlichen Wissens. Dieses ist unabhängig von der Wissenschaft desselben vorhanden, wird aber durch sie in systematischer Form aufgestellt. Was ist nun diese neue Form; wie ist sie von der Form, die vor der Wissenschaft vorher vorhanden seyn muss, unterschieden; und wie ist die Wissen-schaft überhaupt von ihrem Objecte unterschieden?
Es ist aber gar nicht nothwendig, dass diese Handlungen wirklich der Zeitfolge nach in je-ner systematischen Form, in welcher sie als von einander dependirend werden abgeleitet werden, eine nach der anderen, in unserem Geiste vorkommen; dass etwa die, welche alle unter sich fasst, und das höchste, allgemeinste Gesetz giebt, zuerst, sodann die, welche we-niger unter sich fasst u.s.f. vorkommen; ferner ist auch das gar nicht die Folge, dass sie alle rein und unvermischt vorkommen, so dass nicht mehrere, die durch einen etwanigen Beob-achter gar wohl zu unterscheiden wären, als eine einzige erscheinen sollten.
Z.B. die höchste Handlung der Intelligenz sey die, sich selbst zu setzen, so ist gar nicht nothwendig, dass diese Handlung der Zeit nach die erste sey, die zum deutlichen Bewuss-seyn komme; und eben so wenig ist nothwendig, dass sie jemals rein zum Bewusstseyn komme, dass die Intelligenz je fähig sey, schlechthin zu denken: Ich bin, ohne zugleich et-was anderes zu denken, das nicht sie selbst sey.
Hierin liegt nun der ganze Stoff einer möglichen Wissenschaftslehre, aber nicht diese Wis-senschaft selbst. Um diese zu Stande zu bringen, dazu gehört noch eine, unter jenen Hand-lungen allen nicht enthaltene Handlung des menschlichen Geistes, nemlich die, seine Hand-lungsart überhaupt zum Bewusstseyn zu erheben. Da sie unter jenen Handlungen, welche alle nothwendig, und die nothwendigen alle sind, nicht enthalten seyn soll, so muss es eine Handlung der Freiheit seyn. –
Die Wissenschaftslehre entsteht also, insofern sie eine systematische Wissenschaft seyn soll, gerade so, wie alle möglichen Wissenschaften, insofern sie systematisch seyn sollen, durch eine / Bestimmung der Freiheit; welche letztere hier insbesondere bestimmt ist, die Hand-lungsart der Intelligenz überhaupt zum Bewusstseyn zu erheben; und die Wissenschaftsleh-re ist von anderen Wissenschaften nur dadurch unterschieden dass das Object der letzteren selbst eine freie Handlung, das Object der ersteren aber nothwendige Handlungen sind.
Durch diese freie Handlung wird nun etwas, das schon an sich Form ist, die nothwendige Handlung der Intelligenz, als Gehalt in eine neue Form, die Form des Wissens, oder des Bewusstseyns aufgenommen, und demnach ist jene Handlung eine Handlung der Refle-xion. Jene nothwendigen Handlungen wer den aus der Reihe, in der sie etwa an sich vor-kommen mögen, getrennt und von aller Vermischung rein aufgestellt; mithin ist jene Handlung auch eine Handlung der Abstraction. Es ist unmöglich zu reflectiren, ohne abstrahirt zu haben.
*) ['Gesetz' ist dasjenige, was die Handlung bestimmt; es wird sich finden, dass es sich um das Wollen und den Zweckbegriff handelt. JE]
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J. G. Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, SW I, S. 70ff.
Nota I. - Dass die wirklichen Wissenschaften, die wir kennen, aus einem Akt der Freiheit entstanden wären, ist mehr als diskutabel. Medizin und Astronomie sind aporetisch, durch Ansammeln empirischer Beobachtungen anhand gegebener praktischer Probleme entstan-den; Mechanik und Ballistik nicht minder. Arithmetik und Geometrie dürften von Beginn einen spekulativen Anteil gehabt haben. Zu sagen, Wissenschaft im eigentlichen Sinn wur-den sie erst, als die disparaten Einzelbefunde unter einem Grund-Begriff in ein System gefasst wurden, wäre richtig; wäre aber Wortspielerei. Wahr ist aber zum Beispiel, dass die Chemie erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur Wissenschaft wurde, als ihr die Unterscheidung in organische und anorganische unterlegt wurde.
*
Das ist aber nicht, worauf es ankommt. Der entscheidende Gedanke ist, dass das tatsäch-liche menschliche Wissen ein System ist. Nicht so, dass das Wissen eines jeden Menschen ein System wäre oder er es sich als ein solches auch nur vorstellte. Dass es ein System ist, erweist sich daran, dass es von den Wissenschaftlern als ein solches darstellbar ist. Das be-deutet nicht, dass es keine Lücken hätte oder ohne Widersprüche sei. Die Widersprüche besagen nur, dass zwischen zwei einander widersprechenden Forschungsergebnissen das vermittelnde Glied noch nicht gefunden ist. Dass es einmal gefunden werden kann, ist je-doch die Prämisse der Wissenschaft - nämlich die, dass Vernunft herrschen kann, weil sie herrschen soll. Denn wenn nicht, gäbe es kein Wissen noch Wissenschaft.
'Dem diskursiven Denken liegt als Prämisse die ungeahnte Fiktion zugrunde, der logische Raum – Ein und Alles – sei eine geschlossene Sphäre, deren Umfang lückenlos von Begrif-fen angefüllt ist, die einander wechselseitig bestimmen.
In unserer wirklichen
Vorstellung ist die Welt hingegen ein – 'zwar endlicher, aber
unbe-grenzter' – Raum, in dem Bedeutungen teils so nah bei einander
liegen, dass sie einander berühren, ineinander verfließen und bei
genauem Hinschauen gar nicht recht zu unterschei-den sind; und teils ganz
beziehungslos neben einander liegen ohne ein Drittes, an dem sie
wenigstens zu vergleichen wären.
Das logische
Ein und Alles
verhält sich zum wirklichen Vorstellen etwa so, wie die Welt des
naturwissenschaftlichen Labors zu den Dingen unseres Mesokosmos.'
*
Und
wenn auch keiner mehr das Wort Vernunft in den Mund nehmen mag - dass
sie sich der diskursiven Methode befleißigen, nehmen alle in Anspruch.
Die Wissenschaftslehre als 'echter durchgeführter Kritizismus' macht sich zur Aufgabe, die Pämisse auf ihre Berechti-gung zu prüfen. Das tut sie aus Freiheit und ohne Notwendigkeit.
13. 7. 18
Nota II. - Der Haken ist allerdings, dass sich eine so aus Begriffen aufgebaute Welt sich als System nicht darstellen ließe. Denn wo sollte man anfangen? Am Grund, gewiss, aber wel-ches ist der Grund der - nämlich aller - Begriffe? Das Begreifen selbst, sagt ein Gewitzter. Doch mit welchem der - nicht unendlich, aber unbegrenzt - vielen Begriffe sollte es ange-fangen haben, um daraus ein System zu bauen? Und umgekehrt: Welchen Begriff könnte es - und aus welchem Grund? - als ersten gefasst haben?
Man sieht: Eine in Begriffen gefasste Welt lässt sich gerade als System nicht darstellen, und das Begreifen selbst lässt sich nicht... begreifen.
Das Problem sollte Fichte noch zu schaffen machen und gab den Anlass zur Wissenschafts-lehre nova methodo: Es müssen die Begriffe aus dem lebendigen Vorstellen selber erst ent-wickelt werden. Dann gewinnt auch der Vorstellende Fleisch und Blut.
JE
Nota - Das
obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE
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