
aus nzz.ch, 6. 7. 2021
Damit sind nicht nur gelegentliche Hilfestellungen Platons zum besseren Verständnis der Dialoge gemeint, sondern die als ungeschrieben überlieferten Ansichten des Philosophen. Sie gehen inhaltlich über die Schriften hinaus und betreffen insbesondere die Prinzipien der platonischen Philosophie. Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit Platon legt Szlezák, heute emeritierter Professor in Tübingen, nun eine «Summa» seiner Forschungen vor, die auch für ein breiteres Publikum gedacht ist.
Das Buch «Platon. Meisterdenker der Antike» führt auf umfassende Weise in Platons Leben, Werk und Denken ein. Zu den Grundfragen der Platon-Forschung bezieht Szlezák klar Stellung. Die Figur des Sokrates, wie wir sie aus den frühen und mittleren Dialogen kennen, ist für ihn eine «Schöpfung Platons». Die «Apologie» hält er für nicht unmittelbar nach dem Prozess und dem Tod des Sokrates 399 v. Chr., sondern für «Jahre später» verfasst, wie das schon Nietzsche festgestellt hatte. Die Akademie ist für Szlezák eine Mischung von Privat-universität und Lebensgemeinschaft mit dem Ziel einer zweckfreien Forschung. Ausführlich werden Platons drei Reisen nach Sizilien geschildert und das Verhältnis zu Dion von Syra-kus, der «grossen Liebe in Platons Leben».
Szlezák hebt hervor, «alles, was Platon veröffentlicht hat», sei der «Nachwelt erhalten ge-blieben». Ebenso klar ist für ihn allerdings, dass Platons Denken nicht nur aus seinen schriftlichen Veröffentlichungen zu verstehen ist, sondern auch aus den ihm «zugeschrie-benen ungeschriebenen Ansichten». In einer Interpretation des «Siebten Briefes» sieht Szlezák in Platons Aussage, die Sache, um die es ihm zentral gehe, sei nicht sagbar, zwei wesentliche Aspekte: Einerseits sei das «Überspringen des Funkens» der Erkenntnis nicht mitteilbar, andererseits sollten «die zum Aufleuchten der Erkenntnis hinführenden dialek-tischen Gedankengänge» nicht schriftlich mitgeteilt werden – weil sie damit auch Lesern zugänglich würden, die weder über die nötigen charakterlichen noch intellektuellen Fähig-keiten verfügten, sie zu verstehen.
Szlezák gibt eine eindrückliche Gesamtschau des platonischen Denkens, von der Anthro-pologie und Seelenlehre über die Ethik, Staatslehre und Kosmologie bis zur Ideenlehre, zur Theorie der Prinzipien und schliesslich zu den Mythen und Platons Auffassung der Götter. Dabei macht er stets auf die «Aussparungsstellen» aufmerksam, auf die man beim Lesen der Dialoge stösst. Stellen, die auf «ungeschriebene», nur im mündlichen Gespräch in der Aka-demie behandelte Ansichten verweisen. Auch dunkle Seiten von Platons Staatslehre werden nicht übergangen, etwa die in der «Politeia» vertretene Auffassung, behinderte Nachkom-men der für den Idealstaat projektierten Herrscherschicht sollten nicht aufgezogen werden.
Szlezák ist ein aussergewöhnliches Buch gelungen. Doch ergeben sich auch Fragen: Einmal wird die immense Sekundärliteratur nur sehr selektiv beigezogen. Nicht erwähnt wird bei-spielsweise die konkurrierende Interpretation des «Siebten Briefes» durch den italienischen Platon-Forscher Luigi Stefanini, laut dem Platon im Sinn einer «konstruktiven Skepsis» die These vertritt, Philosophen könnten nicht zur Wahrheit vorstossen, sondern nur zu einer «Wahrheitsähnlichkeit».
Ferner: Wie ist das «Aufleuchten» des Unsagbaren zu verstehen, das Platon im «Siebten Brief» beschreibt? Da der platonische «Nous», der erkennende Geist, «immer mit wahrem Logos» verbunden ist, so wäre das «Licht» in der Seele sozusagen ein nicht mehr propositi-onal erkennender «Super-Nous». Doch ist auch die Seele des Philosophen in einem Körper inkarniert und gelangt wenigstens gemäss dem «Phaidon» erst nach dem Tod zur endgülti-gen Erkenntnis. Wie könnte sie dieses «Licht» im Leben erreichen? Wird nicht Annäherung das Höchste sein, was sie erreichen kann?
Auch der ideale Staat ist ja nur annäherungsweise zu verwirklichen, wie Platon in der «Poli-teia» Sokrates sagen lässt. Ob Platon, der noch in seinem Spätdialog «Philebos» auf das sokratische «Ahnen» der Idee des Guten aufmerksam macht, seinen Lehrer so weit hinter sich gelassen hat, dass er weiss und seinen Philosophenkönig beziehungsweise seine Philo-sophenkönigin wissen lässt, was sein Lehrer nicht wusste, bleibt wohl eine offene Frage, da niemand in Platons Bewusstsein hineinschauen kann.
Schliesslich stellt sich die Frage, was denn heute von dieser platonischen Prinzipienlehre vom Einen und der unbestimmten Zweiheit noch zukunftsweisend ist. Wie immer diese Fragen beantwortet werden mögen: Thomas Szlezáks Gesamtschau ist eine herausragende Leistung, die in vielem neue Aspekte bringt. Liebhaber Platons und Spezialisten werden dem Autor für dieses Opus magnum zu grossem Dank verpflichtet sein.
Thomas Alexander Szlezák: Platon. Meisterdenker der Antike. Verlag C. H. Beck, München 2021. 779 S., Fr. 53.90.
Nota. - Weder bin ich von Plato ein Liebhaber, noch Spezialist. Dass die Geschichte der abendländischen Philosophie nur eine Reihe von Fußnoten zu Plato sein soll, habe ich nie verstanden. 'Was Plato wirklich meinte' ist schonmal etwas anderes, als was 'in die Geschich-te der abendländischen Philosophie' eingegangen ist - schon wenn man nur die überliefer-ten Texte betrachtet.
Plato ist wie Aristoteles in das abendländische Denken zuerst nur durch in der Spätantike angefertigten lateinischen Übersetzungen eingegangen - Aristoteles sogar nur durch die la-teinische Übersetzung der arabischen Kommentare des Averroes. Aber beide als Antipoden. Die frühe christliche Philosophie stand unangefochten - nein, nicht im Zeichen Platos, son-dern der 'Neuplatoniker' Plotin und Proklos. In der scholastischen 'Frühaufklärung' tritt dann unvermittelt Aristoteles als 'der Philosoph' und Averroes als 'der Kommentator' an die Stelle der platonische Autorität, in unverhohlener Konkurrenz; nämlich als Konkurrenz der Franziskaner und der Dominikaner. Was das abendländische Denken nachhaltig prägte, war der Universalienstreit, der sich dadurch 'von selbst erledigte', dass die realistisch-platonische Partei sich aus den Universitäten ins kirchliche Dogma des hl. Thomas zurückzog und die weltliche Philosophie den Nominalisten überließ.
Nach der türkischen Eroberung Konstantinopels kamen dann die griechischen Original-texte in den Westen, doch an der scholastischen Schärfe der Begriffe hatte die Renaissance schon kein Interesse mehr, von Plato wurde hauptsächlich das erotisch-ästhetische Gast-mahl verbreitet und interpretiert.
Leibniz hat, im Gegensatz zum analytisch-rationalistischen Descartes, die mataphysische Spekulation wiederbelebt - und in seinen Monaden die Entelechien des Aristoteles. Die 'Neuscholastik' der Wolff-Baumgarten konnte nahtlos daran anknüpfen. An ihnen hat die Kant'sch Kritik Maß genommen. Platos Ideen spielten in dem Ding-an-sich, dem er den Garaus gemacht hat, gar keine Rolle mehr.
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So weit zu dem, was historisch wirksam geworden ist. An den überlieferten Texten heraus-zufinden, was Plato oder Aristoteles 'wirklich gemeint' haben könnten, ist eine Wissenschaft für sich, und heißt Philologie. Der Vergleich mit der Überlieferungsgeschichte ist seinerseits historisch interessant. Und die Intepretation bestimmter Denkfiguren, selbst wenn sie zuvor von keinem entdeckt worden sein sollten, könnten heute zu neuen Gedanken Anlass geben, und möchten insofern philosophisch werden.
Was aber die notwendig rein spekulativen Annahmen über eine "Geheimlehre" - dem Ari-stoteles wurde wohl schon zu Lebzeiten eine solche nachgesagt - sei es in philogisch-histo-rischem, sei es gar in philosophisch-produktivem Sinn beitragen kann, ist mir in meiner prosaischen Denkungsart schlicht unvorstellbar. Doch kann auch dies Thomas Szlezák zu eigenen Gedanken angeregt haben. Das hätte aber sicher nur ein viel schmaleres Bändchen ergeben.
JE
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