
aus spektrum.de, 28. 7. 2021
Die Welt ist alles, was der Zufall ist
Existiert
echter Zufall? Und wenn ja – wie kann man ihn erzeugen? Mit diesen und
anderen grundlegenden Fragen rund um den Zufall beschäftigt sich der
Physiker Walter Hehl in seinem neuen Buch.
Rezension von Stefan Höltgen
Aristoteles' Annahme, der Bereich des Zufälligen sei der menschlichen Erkenntnis und damit auch der Wissenschaft per se nicht zugänglich, hat über Jahrhunderte hinweg die Erforschung desselben sinnlos erscheinen lassen. Versuche im Mittelalter, prognostische Gesetze für den Würfelwurf zu finden, mussten mit harmloseren »Cover Stories« (etwa als Überlegung zu Kombinationsschlössern) kaschiert werden, um nicht mit dem staatlichen und kirchlichen Glücksspielverbot zu kollidieren. Und doch war es gerade das Glücksspiel, dass die Zufallsforschung ab der Renaissance initiiert und vorangetrieben hat.
Diese hat seither vielfältige Facetten bekommen: Gibt es Zufall überhaupt, oder ist alles vorherbestimmt? Wie lassen sich spezifische Zufälle in unterschiedlichen Systemen (Mathematik, Physik, Kosmologie, Gesellschaft, Spieltheorie) beschreiben und klassifizieren? Lässt sich Zufall erzeugen – oder zumindest ein Pseudozufall, dessen Erzeugungsregeln nicht rückvollziehbar sind? Und wie lassen sich zufällige Ereignisse mathematisch klassifizieren, rechnerisch zähmen und so Prognosen anstellen?
Einigen dieser Themen widmet sich Walter
Hehls Buch »Der Zufall in Physik, Informatik und Philosophie«. Hehl ist
promovierter Physiker und war bis zu seiner Pensionierung unter anderem
bei IBM in der Forschung zur Softwaretechnologie beschäftigt. Vorab sei
verraten: Gerade diese Profession hat sich deutlich in das Buch
eingeschrieben. Die neun Kapitel widmen sich der Geschichte der
Zufallsforschung, verschiedenen Definitionsversuchen von Zufall, wie er
in physikalischen, sozialen und technischen Systemen in Erscheinung
tritt, welche Auswirkungen zufällige Prozesse haben und schließlich, ob
sich aus einer Theorie des Zufalls eine Erklärung der Welt ableiten
lässt. Hehls Ansatz ist dabei perspektivisch wie methodisch vielseitig,
ohne dabei allzu detailliert zu sein: Mathematische Darstellungen finden
sich nur selten. Häufiger sind die Erklärungen mit dem umfangreichen
Physikwissen des Autors angereichert.
Im
Zentrum seiner Überlegungen stehen zwei grundsätzliche Aspekte: Zum
einen greift Hehl durchgängig auf eine Analogie von Mensch und Computer
zurück. Diese sieht er sowohl in Hinblick auf
Hardware/Gehirn/Körper/Nervensystem als auch auf
Software/Denkinhalte/Signale in den Nervenbahnen und Neuronen. Die
unzähligen Vergleiche auf etlichen Ebenen beider Systeme führen
allerdings selten zu tatsächlichen Erkenntnissen (ganz zu schweigen
davon, dass sie aus Sicht von Neurologie, Psychologie und
Erkenntnistheorie hochumstritten sind), sondern münden in Tautologien
und Kategorienfehler, wie »Die Evolution ist die Entwicklung der
Software der Natur bis zu uns. Wir Menschen sind Software, die selbst
Software konstruieren kann.«
Hehls zweites theoretisches
Grundkonzept versucht die vor allem von Karl Popper vertretene Theorie
der »Drei Welten« (materielle Außenwelt, Welt des Bewusstsein und Welt
der Gedankeninhalte) auf ein eigenes Kategoriensystem zu übertragen: die
Erscheinungen der unbelebten Welt, die sich aus sich selbst entwickelt
(Welt 1), alles, was aus einem Bauplan heraus entsteht (Welt 2), und
alles, was als Meinung und Gedankeninhalt entsteht (Welt 3). Der Zufall
wirkt sich laut Hehl vor allem auf die Welten 1 und 2 aus; Welt 3 sieht
er durch diese determiniert – und tritt damit dem alten und immer wieder
neu geführten Streit um die Willensfreiheit bei.
Es ist nicht
immer einfach, die theoretische Herleitung und letztlich auch die daraus
folgenden Ansichten (etwa eines ziemlich strikten Determinismus die
Willensfreiheit betreffend) des Autors richtig zu verstehen. Grund dafür
sind sowohl der Stil des Buchs als auch sein Aufbau und seine
Aufmachung. Hehl schreibt überaus assoziativ – oft ist man sich beim
Lesen nicht sicher, woher ein Gedanke, ein Zitat oder sogar ein Bild,
das er gerade aufführt, stammt und in welchem Zusammenhang zum Text es
steht. Er unternimmt permanent Exkurse, um auf interessante
Randphänomene oder Grundlagen hinzuweisen, was eine konsequente
Argumentation unmöglich macht. Statt einer solchen liefert Hehl oft bloß
Punktelisten mit Begriffen und Zitaten. Das erweckt in einigen Fällen
den Eindruck, dass hier alles Mögliche, was mit dem Thema zusammenhängt,
additiv aneinandergereiht wird.
Hinzu
kommen aus den Originalzusammenhängen gelöste Zitate von Philosophen,
Naturwissenschaftlern, Journalisten, Wirtschaftsvertretern, genauen
Quellen nicht mehr zuschreibbare Aussagen, Wikipedia- und
Webseiten-Texten und nicht zuletzt Aussagen vom Autor selbst. Diese
tauchen in Fettschrift zwischen den Absätzen oder mitten im Text als
Bildunterschriften mit Quellenangaben auf – und das in unterschiedlichen
Schriftarten und -größen. Schon gestalterisch wirkt das Buch damit
leider mehr wie eine mit Wikipedia-Bildern dekorierte Stoffsammlung als
wie ein zusammenhängender Text.
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Es bleibt der Eindruck, Hehl habe mit dem Buch zu vieles
unter ein Konzept (das der Zufallsforschung) bringen wollen und dabei
den Grundgedanken aus den Augen verloren. Im vorletzten Kapitel, wenn er
über Kreativität als Zufallsprozess schreibt und in die
Willensfreiheitsdebatte einsteigt, hat man längst den Überblick
verloren, was mit Zufall eigentlich (alles) gemeint war. Man hätte sich
eine historische und systematische Herleitung des Begriffs gewünscht,
die den Pfad für eigene Überlegungen und vielleicht sogar für einen
Beitrag zur Willensfreiheitsdebatte abgesteckt hätte. Stattdessen
tauchen Namen wie Bernoulli, Laplace, Pascal, Leibniz und andere
bedeutende Protagonisten der Geschichte der Stochastik gar nicht, nur am
Rande oder mit thematisch ganz anderen Beiträgen auf. Erklärungen zu
den zentralen Domänen der aktuellen Zufallsforschung, der Quantenphysik,
der Informatik und der philosophischen und soziologischen Kontingenz-
und Emergenztheorien hätten den Diskurs des Buches ebenfalls befruchten
können.
Nota. - Nach der Lektüre ist man also kaum klüger als vorher. Wieviel man von all den Daten und Fakten behält, ist individuell verschieden, doch verstanden hat wenigstens der Rezensent nicht viel - und für mich gibt es nichts zu kommentieren.
Es ist wohl ohnehin keine Sache des Wissens oder Verstehens, sondern eine Sache des - wie soll ich anders sagen? - weltanschaulichen Vor-Urteils. Neigt man wie die meisten westlich gebildeten Zeitgenossen der Ansicht zu, es werde wohl jedes seinen zureichenden Grund haben, dann wird man das Gesetz für wirklich wahr und den Zufall für rein zufällig halten. Sagt man sich aber: Ich weiß eigentlich nur, was ich sehe, höre und fühle, und alles andere ist Einbildung - dann schließt man: wahr ist nur der Einzelfall, Regeln oder Gesetze sind bloß Namen, unter denen Ähnlichkeiten zusammengefasst werden.
Das ist nicht durch Faktenstudium zu entscheiden, weil es dem Studium vorausging. Es kann allenfalls nachgewiesen werden, unter welcher Annahme sich mehr erklären lässt. Und selbst das lässt sich eigentlich nicht entscheiden, weil der eine von beiden unter einer Erklä-rung immer die... Rückführung auf ein Gesetz verstehen wird.
Zur Illustration hier ein Paradox: "Man sucht nur den Grund von zufälligen Dingen", schreibt mein Kronzeuge.* Der normale Menschverstand reibt sich die Augen: Unter Zufall versteht er gerade das, was keinen Grund hat, und wenn ich nach noch so langem Suchen doch einen finde, dann war es eben kein Zufall.
Die Lösung: Mein Kronzeuge lokalisiert den Unterschied gar nicht im Objekt - nämlich wie es beschaffen ist -, sondern im Subjekt: wie es auffasst. Dem Zufall stehen nicht objektives Regelmaß und Gesetz entgegen, sondern das, was "sich von selbst versteht"; denn das brau-che ich nicht auch noch zu verstehen - das muss ich erst bei den Dingen, die nicht so sind, wie sich's gehört.
*) J, G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 13
JE
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