
aus spektrum.de, 3. 7. 2021
Können wir frei von Widersprüchen leben?
Wer
sich in Widersprüche verstrickt, wird oft kritisiert. Doch können wir
über-haupt widerspruchsfrei leben und handeln? Manche Philosophen
bezweifeln das. Eine Kolumne.
von Matthias Warkus
Wenn
es eine Hitliste von Begriffen gäbe, mit denen in der Philosophie
besonders gerne operiert wird, dann würde wahrscheinlich das Wort
»Begriff« selbst ganz oben stehen. Dar-in schlägt sich nieder, dass die
Philosophie als die Wissenschaft verstanden werden kann, die sich mit
den Grundlagen aller Wissenschaften einschließlich ihrer eigenen und mit
der Mög-lichkeit von Begriffsbildung überhaupt auseinandersetzt. Man
muss also notwendigerweise eine Menge über Begriffe reden.
Ebenfalls weit vorne in den Charts
dürfte aber etwas weniger Selbstverständliches stehen: nämlich der
Widerspruch. Philosophie zu treiben bedeutet, dauernd darüber zu reden,
ob sich etwas widerspricht und warum. Denn in der Regel wird davon
ausgegangen, dass er-stens Menschen vernünftig denken sollten und
vernünftiges Denken voraussetzt, dass man keine widersprüchlichen
Überzeugungen hegt. So ist es etwa nicht vernünftig, gleichzeitig zu
meinen, man sollte immer früh aufstehen, aber auch, man sollte immer
lang ausschlafen. Zweitens wird häufig angenommen, dass unabhängig vom
Menschen nichts Widersprüchli-ches zugleich wahr sein kann: Meine Katze
kann nicht gleichzeitig weiß und schwarz sein, ganz egal, welche
Überzeugungen ich von ihrer Farbe habe.
Geht man nun davon aus,
dass es keine Widersprüche geben kann beziehungsweise sie alle nur
scheinbar sind und in Wirklichkeit auf Missverständnisse, Irrtümer oder
unsauberes Denken zurückzuführen sind, dann ist notwendigerweise alles
falsch, was zu Widersprü-chen führt. Ausgehend von der Annahme, dass
alles entweder wahr oder falsch ist, kann man auf diese Weise indirekte
Beweise führen: Wenn die Annahme des Gegenteils eines Satzes
zwangsläufig zu einem Widerspruch führt, dann muss der Satz wahr sein.
Man spricht hier vom so genannten Widerspruchsbeweis oder »Reductio ad
absurdum«.
Dabei
ist dies natürlich keine alleinige Domäne der Philosophie. Auch in der
mathemati-schen Logik ist die Reductio ad absurdum beispielsweise ein
gängiges Beweisverfahren. Das klassische Beispiel, nämlich der Beweis
der Irrationalität der Quadratwurzel aus 2, hat mit Philosophie auf den
ersten Blick nichts zu tun.
Widersprüche gibt es auch jenseits von formalisierten Symbolsystemen, und da wird es dann offenkundiger philosophisch. So lassen sich nicht bloß Behauptungen, sondern ge-nauso Maximen für menschliches Handeln als widersprüchlich ausweisen. Ein Beispiel des deutsch-amerikanischen Philosophen Nicholas Rescher ist die Anweisung: »Lasst die alte Lagerhalle stehen, bis die neue fertig ist. Und baut die neue Lagerhalle aus dem Abbruch-material von der alten.«
Jenseits der bloßen Inhalte von Sprache können zudem Widersprüche zwischen sprachli-chen Äußerungen und nicht sprachlichem Handeln festgestellt werden (so genannte perfor-mative Widersprüche). Ein einfacher und bekannter performativer Widerspruch ist es, den Satz »ICH SCHREIE DOCH ÜBERHAUPT NICHT!« zu schreien. Auf einer etwas kom-plexeren Ebene ist der Vorwurf ähnlicher performativer Widersprüchlichkeit eine übliche Form von Kritik an politischen Akteuren (»Sie wollen den Autoverkehr reduzieren und bauen gleichzeitig eine neue Autobahn«).
Spektrum Kompakt: Was ist real? – Am Übergang von Wissenschaft und Philosophie
Einflussreiche logische und philosophische Überlegungen haben sich jedoch auch aus Zweifel an der Widerspruchsfreiheit als Norm entwickelt. Dass das menschliche Denken und/oder die menschlichen Gesellschaftsformen gerade durch Widersprüche und in Wi-dersprüchen Fortschritte machen, ist (vereinfacht gesagt) einer der Grundgedanken der enorm einflussreichen, auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurückgehenden philosophi-schen Strömungen seit dem 19. Jahrhundert. Auch gibt es den Einwand, dass es eventuell grundsätzlich gar nicht möglich ist, eine vollständig widerspruchsfreie Weltsicht oder ein vollständig widerspruchsfreies System von Regeln für das eigene Handeln zu haben; dass vielleicht die menschliche Existenz notwendigerweise an irgendeinem Punkt absurd ist und man das akzeptieren muss.
In unserem Alltagsdenken und -handeln spielt der Anspruch auf Widerspruchsfreiheit, aber auch das Scheitern an diesem Anspruch, jedenfalls oft eine große Rolle. Es handelt sich hier um ein Gebiet, auf dem die Philosophie uns möglicherweise tatsächlich dabei helfen kann, mit unserem Leben besser zurechtzukommen, und sei es nur dadurch, dass man sich einmal klarmacht, was sich überhaupt alles widersprechen kann.
Nota. - Ach, was für eine vertane Chance!
Fangen wir in der Mitte an - wo er von der Hegel'schen Richtung redet. Damit meint er "die Dialektik", der man insbesondere Marx zugerechnet hat. Damir kommen wir gleich zur Sa-che selbst: Marx hat zwar seine Studien mit Hegel begonnen und dabei die Spur für sein ganzes Werk gelegt. Das ganze Werk be-ruht freilich darauf, dass er die Hegel'sche Methode ihrer metaphysischen Mystifikation entkleidet und darunter das kritische 'analytisch-synthe-tische Verfahren' von Fichtes Wissenschaftslehre wieder freigelegt hat. Der Knotenpunkt bei dieser Mystifikation war eben die mutwillige Vermengung von realem Gegensatz und logischem Widerspruch gewesen - auf den die böswillige Vermengung von Sein und Gelten zurückgeht.
Zwar unterscheidet Warkus zwischen dem 'rein' logischen und dem 'performativ' logischen Widerspruch - der eine liegt im Satz selbst, der andere liegt im Subjekt, das nacheinander zwei Sätze ausspricht, vom dem der eine das Gegenteil vom andern behauptet. Das ist aber schon ein Derivat. Der ursprüngliche Unterschied ist jedoch, dass das Subjekt hier als ein reales aufgefasst wird, der Satz aber als ein bloß gedachter.
In der Realität steht die Aussage des Subjekts im Gegensatz zu der anderen Aussage - die zweit verschiedenen Subjekten gleichzeitig oder auch demselben Subjekt nach einander 'per-formt' werden können. Sie können einander dann wohl immer noch ausschließen; aber sie können auch als einerseits/andererseits mit einander bestehen; was nach gesundem Men-schenverstand ein logischer Widerspruch nicht kann, ohne sinnlos zu werden.
Der springende Punkt: Das analytisch-synthetische Verfahren Fichtes ist das Fortschreiten des perfomierenden Subjekts von der Unbestimmtheit zur Bestimmung: als der Gang der Vernunft selber - im und durch das Subjekt! Nichts geschieht, was nicht durch ein 'Ich' ge-setzt wird. Und das Bestimmen eines Unbestimmten ('Bestimmbaren') als dieses ist Setzen-als und geschieht durch Entgegen setzen - links/rechts, vorne/hinten, oben/unten. Der Ge-gensatz eröffnet ein - neues - Bedeutungsfeld. Ist das Feld - 'Gesichtspunkt' - einmal fest-gestellt, sind logische Widersprüche natürlich nicht statthaft. Neue Gegensätze würden da-gegen "auf höherem Gesichtspunkt" eine neue Bedeutungsebene eröffnen: So schreitet Ver-nunft fort; richtiger: wird vorangetrieben vom 'setzenden' Subjekt. Und von nichts anderem als dem Fortschreiten von Intelligenzen in der Vernunft handelt nach Fichte die Philoso-phie; alles andere ist Sache reeller Wissenschaften.
Ein Subjekt gibt es bei Hegel, allem Wortschwall zum Trotz, nicht. Bei ihm ist es die - "dia-lektische" - Logik selber, die forschreitet. Wie das? Im Begriff ist auf okkulte Weise der Wi-derspruch schon enthalten, nicht nebeneinander, sondern drin, und dies führt zu seinem "Umschlagen" in sein Gegenteil, und auf ebenso okkulte Weise "vereinigen" sie sich wieder "auf höherer Ebene", ohne dass man erkennen könnte, wer oder was sie dort hin"aufhebt".
Das geschieht alles von selbst, historisch-empirische Intelligenzen spielen nur als Vehikel ihre zufällige Rolle. Bei Fichte dagegen muss ein Ich ohne Unterlass tätig sein, wenn irgend-was geschehen soll - nämlich im Forstschritt der Vernunft.
JE
Nota. Das
obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht
wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.JE
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