Mittwoch, 7. Juli 2021

Nachruf auf Richard Lewontin

Torbögen von San Marco
zu Jochen Ebmeiers Realien
 
Brillant, wegbereitend und unangepasst
Der US-Forscher Richard Lewontin war Evolutionsbiologe, Marxist und Atheist. Er stritt leidenschaftlich mit den Größen seiner Zunft.
 
von Axel Meyer

... Sein Labor leitete Lewontin wie eine kommunistische Kommune, erinnert sich Jerry Coyne. Er gehörte einst zu Lewontins Studenten und ist heute emeritierter Professor der Evolutionsbiologie an der University of Chicago.

Leitung und Anweisung waren für Lewontin weniger bedeutend als vielmehr die Ermutigung, für sich selbst zu denken und wichtige Probleme selbst zu erkennen. Sein Labor war eine Anlaufstelle für den Austausch mit führenden Evolutionsbiologen aus der ganzen Welt.

In den 1980er-Jahren hatte ich das Glück, einen Teil meines Studiums in diesem Umfeld in Harvard zu verbringen. Es waren aufregende Zeiten, denn damals trafen im selben naturwissenschaftlichen Fachbereich zwei politische Ideologien aufeinander.

Auf der einen Seite standen die Biologen Stephen Jay Gould und Richard Lewontin mit ihren marxistischen Ideen. Ihnen gegenüber lehrten die eher konservativen Kollegen Ernst Mayr und Edward O. Wilson.

Sie alle sind oder waren bedeutende Evolutionsbiologen, und sie alle verfügten über ein starkes Ego. Die Fakultätssitzungen waren keine Liebesfeste, hörten wir Studenten.

Dom-Architektur als Beispiel für Evolutionsvorgänge

Eine Debatte zwischen beiden Lagern drehte sich um die Frage, ob Anpassungen in Organismen immer durch natürliche Auslese entstehen und adaptiv sein müssen, also die Fitness und damit die Überlebensfähigkeit eines Organismus fördern. So sagte es Ernst Mayr in seinem „adaptationist program“ vorher.

Gould und Lewontin widersprachen dieser These. 1979 publizierten beide ein Manuskript, das bis heute in über 10.000 anderen wissenschaftlichen Abhandlungen zitiert wurde: „The spandrels of San Marco and the Panglossion paradigm: a critique of the adaptationist programme“.

Darin führen sie ihre Argumente in Analogie zur Architektur der Torbögen im Markusdoms in Venedig. Die dreieckigen Flächen über diesen Torbögen sind mit schön verzierten und ausgemalten Zwickeln gefüllt.

Gould und Lewontin argumentieren, dass diese Zwickel nicht etwa hinzugefügt wurden, um den Markusdom prunkvoller zu gestalten, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Sondern, dass diese Elemente architektonisch und statisch einfach notwendig sind.

Diese Publikation hatte einen großen Einfluss auf das Denken der letzten 40 Jahre in der Evolutionsbiologie. Sie machte klar, dass manche Merkmale nur vermeintlich durch eine gerichtete Anpassung entstehen.

Es muss sich stattdessen zeigen, dass eine vermeintliche Anpassung wirklich durch natürliche Selektion für den Zweck ihrer jetzigen Funktion entstanden ist. Sie muss zudem einen Fitnessvorteil für den Organismus mit sich bringen.

Entwicklungsbiologische oder genetische Einschränkungen dürfen sie nicht bedingen. Die zu widerlegende Null-Hypothese ist also „Nichtadaptation“, auch wenn ein Merkmal wie eine Anpassung aussehen mag.

Auf der Suche nach den Hebeln der Evolution

Lewontins Hauptthema war es auch, die Grundzüge der genetischen Variation zu verstehen – ihren Ursprung und ihre Funktion. Noch immer sind viele Aspekte ungelöst, wie Variation entsteht, welche Prozesse sie in Populationen erhalten und ob Varianten einen Vorteil bringen oder evolutionär „neutral“ sind.

So beschrieb er 1974 in seinem Buch "The Genetic Basis of Evolutionary Change" das Lewontin Paradoxon: Demnach sollten theoretisch größere Populationen auch mehr verschiedene genetische Varianten erhalten – je mehr Individuen, desto mehr Vielfalt.

Empirische Daten zeigten aber, dass größere Populationen nicht notwendigerweise auch immer mehr genetische Diversität enthalten. Warum das so ist, ist bis heute umstritten.

Auch beschäftigte ihn die Frage, wo die natürliche Selektion ansetzt: Am Gen, am Protein, an dem Merkmal selbst oder gar am ganzen Organismus. Zu diesem theoretischen Problem der „Level of Selection“-Debatte leistete Lewontin wichtige Beiträge.

Er stritt sich auch mit dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins über die Frage, welche Rolle Gene gegenüber der Umwelt haben – nicht die letzte Kontroverse zwischen den beiden.

Als Marxist war Lewontin nicht immer ganz neutral, wenn es um die Interpretation von genetischer Variation ging – insbesondere bei ihrer Rolle und Verteilung innerhalb menschlicher Populationen.

Auch mit dem Evolutionsforscher Richard Dawkins stritt sich Richard Lewontin.

Unter seinen 17 Büchern entstand unter anderem „The Dialectical Biologist“ mit Richard Levins, in dem er die reduktionistische Herangehensweise insbesondere molekularbiologischer Forschung kritisch beleuchtet.

In seinem umstrittenen Buch „Not in our genes” von 1984, das er gemeinsam mit Steven Rose und Leon Kamin verfasste, argumentiert er gegen Soziobiologie, genetischen Determinismus und für eine sozialistische Gesellschaft.

Die explizit politische Ausrichtung dieses Buches war allzu offensichtlich und ungewöhnlich für naturwissenschaftliche Bücher. Sie befeuerte die Debatten der Zeit – Stephen Jay Gould lobte es, während Richard Dawkins sehr viel negativer darüber urteilte.

Rücktritt aus Protest

1972 erkannte Lewontin bereits, dass innerhalb menschlicher „Rassen“ weitaus mehr genetische Variation zu finden ist als zwischen ihnen.

Demzufolge gibt es keine genetische Basis für Unterschiede und damit genetische Rechtfertigung für Einteilungen von Individuen in „Rassen“. Dieser Befund wurde in den vergangenen 50 Jahren mit modernen Methoden bestätigt.

Der britische Genetiker und Statistiker A.W.F. Edwards von der Cambridge University argumentierte dagegen, dass Lewontin zwar richtig liegt - wenn aber gleichzeitig alle Genfrequenzen über viele Gene analysiert werden, könne man sehr wohl Individuen mit großer Genauigkeit einzelnen „Rassen“ zuordnen.

Edwards nannte es Lewontins Fallacy. Bis heute ist diese Diskussion nicht abgeschlossen. Sie hat auch eine politische Färbung: Edwards warf Lewontin vor, dass dieser aus ideologischen Gründen nicht sehen wollte, was die Daten sagen.

1970 wurde Lewontin zum Mitglied der Nationalen Akademie der USA gewählt, der prestigekräftigsten Akademie des Landes. Drei Jahre später legte er diese Mitgliedschaft wieder ab, aus Protest gegen die geheime Forschung der Nationalen Akademie im Vietnamkrieg.

 
Eine beiläufige Notiz abseits vom Thema:  
Der Ausdruck gotisch wurde von Giorgio Vasari geprägt, um die italienische Kunst vor der (ebenfalls von ihm so benannten) Renaissance zu charakterisieren - als grobschlächtig, primitiv und unschön. Im 19. Jahrhundert wurde das Wort nördlich der Alpen aufgegriffen, aber hier bezeichnete man so den sophistizierten Stil der Kathedralen von Reims, Straßburg und Köln. 
 
Gotische Bauwerke in diesem spezifischen Sinn haben außer der schauderhaften Karikatur in Mailand die Italiener nicht, und fragt man sie nach ihrer Gotik, weisen sie achselzuckend auf den Dom in Florenz und... auf San Marco! 
 
Und nun zu Lewontin: Sein Hinweis darauf, dass die Dreiecke über den dortigen Torbögen nicht aus optischen, sondern aus statisch-physikalischen Gründen angelegt wurden, verbin-det sie tatsächlich mit unserer gotischen Architektur, die an Stelle des romanischen Rund-bogens durchgängig den orientalischen Spitzbogen gesetzt hat!
JE 

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