Spitzweg, Aschermittwoch aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
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Nach dieser Einteilung bleibt daher eine Wissenschaft übrig, welche
jedem bekannt ist, die man auch immer zur Philosophie gerechnet hat und
mit Recht. (Ich meine nicht die Lo-gik, welche für jede Wissenschaft gilt
und für jedes Handwerk, und Instrument des Vernunft-verfahrens ist). Die
Ästhetik, wo liegt diese? Die soeben beschriebene und eingeteilte in
ih-rer Grundlage aufgestellte Philosophie steht auf dem transzendentalen
Standpunkte und sieht von diesem auf den gemeinen Gesichtspunkt herab.
Das ist das Wesen der transzen-dentalen Philosophie, dass sie nicht will
Denkart im Leben werden, sondern zusieht einem Ich, welches im Leben
sein Denksystem zu Stande bringt, sie schafft selbst nichts. Dieses
untersuchte Ich steht auf dem gemeinen Standpunkt.
In
der Theorie hat die Philosophie alle Menschen als besondere zum Objekt,
und sie ist ge-schlossen, so wie der Mensch in concreto dasteht, ihre
Ansicht gilt für jedes Individuum. In der Ethik und Rechtslehre wird der
Mensch im realen Gesichtspunkte gedacht. Dabei ent-steht der deutliche
Widerspruch: Der ideale Philosoph betrachtet den realen Menschen? Er ist
doch aber auch ein Mensch. Der Mensch kann sich auf den
transzendentalen Gesichts-punkt erheben nicht als Mensch, sondern als
transzendentaler spekulativer Wisschenschaft-ler. Es entseht in der
Philosophie ein Anstoß, in ihr ihre eigene Möglichkeit zu erklären.
Was
gibts für einen Übergang zwischen beiden Gesichtspunkten. - Frage über
die Möglich-keit der Philosophie. Beide Gesichtspunkte sind sich ja
gerade entgegengesetzt. Gibts nicht ein Mittleres, so ist nach unseren
eigenen Grundsätzen kein Mittel, zu ihm über-/zugehen.
Es
ist faktisch erwiesen, dass es so ein Mittleres gibt zwischen der
transzendentalen und ge-meinen Ansicht; dieser Mittelpunkt ist die
Ästhetik. Auf dem gemeinen Gesichtspunkte er-scheint die Welt als
gegeben, auf dem transzendentalen als gemacht ('Alles in mir'); auf dem
ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten
und wie wir selbst es machen würden (vide Sittenlehre von den Pflichten des ästhetischen Künstlers).
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 243f.
Nota I. - Das ästhetische Wahrnehmen - der ästhetische Sinn oder auch Trieb, wie F. an-dernorts wiederholt
sagt - gehört zum wirklichen sinnlichen Leben, es kommt ungeniert - aber nicht ganz ungebrochen - vom 'gemeinen Gesichtspunkt' her. Soll es den Übergang von dort zum transzendentalen Gesichtspunkt realiter möglich machen, dann ist es dessen reale Bedingung; ihr Grund.
Das
ergab schon die Wissenschaftslehre selbst: Sie beruht auf einem Grund,
der außerhalb ihrer liegt und von ihr nicht analytisch aufgefunden,
sondern spekulativ erschlossen wurde: Wollen,
das einzige An-sich, von dem die Wissenschaftslehre allenfalls reden
könnte, und das als 'Trieb' und 'Streben' im System wieder vorkommt als
reales Substrat des transzen-dentalen Ich; 'Einbildungskraft' als der
unendliche Fortschritt vom Bestimmbaren zum Be-stimmt(er)en.
"Ganz
anders verhält es sich mit dem Triebe, den wir eben den ästhetischen
nannten. Er zielt auf Vorstellungen, und auf bestimmte Vorstellungen
lediglich um ihrer Bestimmung und um ihrer Bestimmung als bloßer
Vorstellung willen. Auf dem Gebiete dieses Triebes ist die Vorstellung
ihr eigner Zweck."*
Da hat Fichte dem Ästhetischen eine gewaltige Bürde aufgepackt, und geahnt hat er es. Lei-der hat ihn der Atheismusstreit davon abgebracht, seine Bahn weiter zu verfolgen.
*) Über Geist und Buchstab in der Philosophie. in: SW VII, S. 279
23. 5. 16
Nota II. - Nein,
das ist ein Fehler, den man als solchen benennen muss: Dass das
ästheti-sche Erleben aus dem wirklichen sinnlichen Leben stamme, ist zur Hälfte falsch. Die physi-ologischen Reize, die als ästhetisch - gefallend oder nicht gefallend - erlebt werden, kommen gewiss nirgend anders her als etwa das Gefühl von Hunger und Durst; wie könnten sie auch? Wie jene gehen sie ein in ein System der Sinnlichkeit,
das sie ipso facto 'verändern'. Es ist die jeweilige 'Veränderung',
die im System so oder anders 'bestimmt' wird. Dass das eine als
grob-sinnlich, das andere als fein-ästhetisch beurteilt wird, liegt am
je erreichten Zu-stand des Gesamtsystems.
Dieser Zustand ist tatsächlich ein historisch gewordener.
Das kann F. nicht in den Sinn kommen, denn dasjenige, auf das Bewusstsein immer hinaus-laufen soll, Vernunft, ist für ihn nicht historisch geworden, sondern 'schon immer da' gewe-sen. (Ausdrücklich ausgesprochen hat er es erst nach dem Atheismusstreit, aber gestreift hat er diese Vorstellung schon vorher immer wieder.)
In dieser Optik müsste ein Übergehen vom 'gemeinen' durch den
ästhetischen bis zum 'transzendentalen' Standpunkt immer mög-lich gewesen
sein; wäre das Ästhetische Kriterium für das 'Wesen des Menschen'. (So
fassen es Paläologen auf, die aus dem Fund als ästhetisch gewerteter
Artefakte auf die Zugehörig-keit der Verfertiger zu Homo sapiens
schließen.)
Nun ist dasjenige, was
an einem Artefakt als seine ästhetische Qualität erscheint, nur
demje-nigen erkenntlich, der bereits nach dem Ästhetischen 'Ausschau
hält': der es in seinem eige-nen Leben bereits von den anderen Merkmalen
der Dinge - welche sämtlich* durch ihre Nütz-lichkeit bestimmt sind - unterschieden hat.
Ob die Hersteller das auch schon getan haben, steht in den Sternen,
es ist sogar unwahrscheinlich. Für sie mögen Nützliches und seine
Verzierungen sich ununterschieden miteinander vermengt haben, nämlich so lang sie noch nicht unter die Botmäßigkeiten der Arbeitsgesellschaft gezwungen waren und noch die nöti-ge Muße fanden, das Nützliche auch gefällig zu machen.
Danach fing die Geschichte der Vernunft faktisch aber erst an: "Selbst die Erkenntnis wird zunächst
nicht um ihrer selbst willen, sondern für einen Zweck außer ihr gesucht. Auf
der ersten Stufe der Bildung, des Individuums sowohl, als der Gattung, überschreit
der prakti-sche Trieb, und zwar in seiner niederen, auf die Erhaltung und das
äußere Wohlsein des ani-malischen Lebens gehenden Äußerung, alle übrigen Triebe;
und so fängt denn auch der Er-kenntnistrieb damit an, bei jenem zu dienen, um in
diesem Dienst sich zu einer selbständi-gen Subsistenz auszubilden.
Das Menschengeschlecht muss erst zu einem gewissen äußeren Wohlstande und zur
Ruhe gekommen, die Stimme des Bedürfnisses von innen, und er Krieg von außen muss
erst be-schwichtigt und beigelegt sein, ehe dasselbe auch nur mit Kaltblütigkeit,
ohne Absicht auf das gegenwärtige Bedürfnis und selbst mit der Gefahr sich zu
irren, beobachten, bei seinen Betrachtungen verweilen, und unter dieser mäßigen und
liberalen Betrach- tung den ästhetischen Eindrücken sich hingeben kann." (Fichte, Über Geist und Buchstab...)
Das geschieht faktisch aber nicht als gleitender Übergang, sondern als Sprung:
Tatsächlich ist es eine bestimmte kleine Gruppe von Menschen, die sich
als Priester und Kriegsfürsten aus der - inzwischen werktätigen - Menge
absondern, von produktiver Arbeit freihalten und sich an den nützlich Dingen dem bloßen Schein widmen können - und magische und Ho-heitszeichen in die Welt setzen.
Erst auf diesem Umweg ist das Wahrnehmen des schönen Scheins als einem solchen mög-lich geworden, und nur als Privileg der herrschenden Klassen konnte Vernunft geschichts-mächtig - und folglich wirklich werden.
JE, 23. 5. 17
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