Mittwoch, 28. Juli 2021

Das Sittengesetz gebietet individuell und ad hoc.

                                    aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Um uns selbst zu finden, müssen wir die Aufgabe denken, uns auf eine gewisse Weise zu beschränken. Diese Aufgabe ist für jedes Individuum eine andre, und dadurch eben wird bestimmt, wer dieses Individuum eigentlich ist. Diese Aufgabe erscheint nicht auf einmal, sondern im Fortgange der Erfahrung jedesmal, in wiefern ein Sittengesetz an uns ergeht. Aber in dieser Aufforderung liegt zugleich, da wir praktische Wesen sind, zu einem be-stimmten Handeln Aufforderung.

Dies ist für jedes Individuum auf besondere Weise gültig. Jeder trägt sein Gewissen in sich und hat sein ganz besonderes. Aber die Weise, wie das Vernunftgesetz allen gebiete, lässt sich nicht in abstracto aufstellen. So eine Untersuchung wird von einem hohen Gesichts-punkte* aus angestellt, auf welchem die Individualität verschwindet und bloß auf das Allge-meine gesehen wird. Ich muss handeln, mein Gewissen ist mein Gewissen. In sofern ist die Sittenlehre individuell.

*) hoher Gesichtspunkt = hohe Abstraktionsebene
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 241.

 

Nota. - Obige Stelle stammt aus dem Vortrag Einteilung der Wissenschaftslehre, mit dem Fichte Anfang 1799 die Wisssenschaftslehre nova methodo abgeschlossen hat, und ist also jünger als das System der Sittenlehre, das bereits zu Ostern 1798 im Druck erschienen war. Man wird sie daher als eine Richtigstellung lesen müssen.

JE

 

 

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