Montag, 5. Juli 2021

Depressive Pseudodemenz.

Wenn das Erinnerungsvermögen nachlässt, fürchten viele ältere Menschen, sie würden dement werden.  

aus spektrum.de, 5. 7. 2021                                                                                                    zuJochen Ebmeiers Realien     

Depression - Die vermeintliche Demenz
Wenn das Erinnerungsvermögen nachlässt, fürchten viele ältere Menschen, sie würden dement werden. Doch hinter den Gedächtnisproblemen steckt manch-mal keine neurologische, sondern eine psychische Erkrankung.


von Caroline Ring

Als »chronisch ängstlichen Bergmann« beschrieb der australische Neurologe Leslie Kiloh einen Patienten, den er nach seinen Initialen G. L. nannte. Gelegentlich verschlimmerten sich die Beschwerden des Mannes, so der Arzt, und teils nahmen sie phobische Züge an. Den Dienst bei der Armee hatte G. L. nach einem Autounfall aus psychischen Gründen aufgegeben.

Der Patient war 59 Jahre alt, als sein Schwager einen tödlichen Herzinfarkt erlitt. Im Folgemonat starb sein Vater, bei dem drei Jahre zuvor eine Demenz diagnostiziert worden war. Nur wenig später, während G. L. im Garten arbeitete, brach er erschöpft zusammen. Am nächsten Tag war er unfähig, zur Arbeit zu gehen. Ein Arzt verschrieb ihm Medikamente gegen Bluthochdruck, doch sein Zustand verschlechterte sich. Er wirkte niedergeschlagen, leicht reizbar und antriebslos. Sein Interesse für alltägliche Dinge schwanden, ebenso geschwächt war sein Konzentrationsvermögen. Nach eigener Aussage wurde er zudem immer vergesslicher – und das, klagte er, war schon seit über einem Jahr so.


8/2021 Dieser Artikel ist enthalten in Gehirn&Geist 8/2021

Leslie Kiloh zog für die Diagnose einen weiteren Experten hinzu. Dieser machte mit G. L. verschiedene Tests, prüft dessen Aufmerksamkeit und Erinnerungsvermögen. Zudem ließ er ein Elektroenzephalogramm und Röntgenaufnahmen des Schädels anfertigen. Die Resultate schienen eindeutig: Mit nicht einmal 60 Jahren litt G. L. offenbar an präseniler Demenz. Doch Kiloh untersuchte G. L. weiter. Der Gedächtnisschwund, auf dem die Diagnose fußte, schwankte von Tag zu Tag. »Insgesamt erschien der Patient gut orientiert, obwohl er gelegentliche Fehler machte«, notierte der Arzt. Jedenfalls verschlechterte sich der Zustand von G. L. nicht kontinuierlich, wie es bei einer Demenz zu erwarten gewesen wäre. Dagegen trat eines immer deutlicher zu Tage: Der Mann war offensichtlich depressiv.

Als Kiloh diese Verstimmung behandelte, erholte sich G. L. rapide. Bald konnte er nach Hause zurückkehren und wieder seiner Arbeit nachgehen. Ein halbes Jahr später war die Vergesslichkeit, über die der Patient geklagt hatte, wie weggeblasen. Von der Demenz, die ihm anfangs bescheinigt wurde, keine Spur mehr.

Auf einen Blick
Trügerische Symptome

  • Erinnerungslücken, Denkstörungen und Apathie kommen nicht nur bei Demenzkranken vor – die Symptome können auch auf eine Depression hinweisen.
  • Gerade bei älteren Menschen wird die psychische Krankheit oft übersehen. Mit bestimmten Tests können erfahrene Ärztinnen und Ärzte sie aber erkennen.
  • Die Diagnose ist wichtig, denn Altersdepressionen lassen sich mit Medikamenten und Psychotherapie lindern. Oft verbessert das auch das Gedächtnis.

Diesen Fall schilderte Kiloh mit neun weiteren in einem Fachartikel von 1961. Darin beschrieb er Menschen, die plötzlich oder schleichend ihr Gedächtnis einbüßten. Ihnen allen attestierten Mediziner eine neurodegenerative Erkrankung. Doch Kiloh erkannte bei den Patienten etwas anderes. Sie waren nicht dement, sondern litten vielmehr an einer psychischen Störung, die fälschlich als Demenz interpretiert wurde.

Ein gewisses Maß an Vergesslichkeit kennt jeder: Plötzlich erinnert man sich nicht mehr an die PIN der EC-Karte oder man steht in der Küche und weiß nicht, was man eigentlich hier wollte. Namen liegen einem auf der Zunge, wollen einem aber nicht einfallen. Bei jüngeren Menschen lässt sich das oft leicht erklären. Sie stehen unter Stress, sind überlastet – da setzt das Gedächtnis schon mal kurz aus. Ältere Personen kommen in solchen Situationen dagegen schnell ins Grübeln: War es nicht neulich schon einmal so? Werde ich etwa dement?

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Rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland leben mit Demenz. Jährlich erhalten etwa 300 000 Personen hier zu Lande eine entsprechende Diagnose. Schätzungen gehen davon aus, dass es bis 2050 rund drei Millionen Betroffene in der Bundesrepublik geben wird. Die neurokognitive Störung kann verschiedene Formen und Verläufe annehmen, neben Vergesslichkeit können etwa das zielgerichtete Denken und das räumliche Vorstellungsvermögen beeinträchtigt sein. Auch Sprachstörungen und Wesensveränderungen treten bei einem Teil der Betroffenen auf. Zwei Charakteristika treffen aber auf so gut wie alle Patienten zu: Mit der Zeit werden die Symptome gravierender. Und die Demenz ist unheilbar. Es gibt bis heute keine Möglichkeit, den Verlauf zu stoppen oder gar umzukehren.

Reversible Gedächtnislücken

In manchen Fällen, wie bei dem Patienten G. L., lässt sich Vergesslichkeit dennoch rückgängig machen. Leslie Kiloh, damals Professor für Psychiatrie an der University of New South Wales, gab diesem Zustand erstmals den Namen Pseudodemenz. Der Wissenschaftler verband damit keine klar definierte Erkrankung, sondern eine bestimmte Symptomatik. Vor allem bei älteren Menschen würde die Diagnose Demenz mitunter zu rasch gestellt. Dabei übersehen Mediziner oft, dass eine Depression sich ebenfalls in Vergesslichkeit und Orientierungslosigkeit äußern kann. Kiloh plädierte dafür, dass Ärzte auch eine psychische Störung in Betracht ziehen, wenn sie Demenzanzeichen beobachten. Sollte eine solche vorliegen, sind die Behandlungmöglichkeiten nämlich weitaus besser als bei einer neurodegenerativen Erkrankung.

Etwa ein bis fünf Prozent aller über 65-Jährigen entwickelt eine klinische Depression. In Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sind es sogar 10 bis 15 Prozent. Bei ihnen äußert sich die Krankheit mitunter anders als bei jüngeren Menschen. Sie sind im Schnitt weniger traurig und niedergeschlagen, entwickeln dafür häufiger eine Anhedonie – sie verlieren jegliche Freude an Dingen, die sie einst gern gemacht haben. Zudem gehen Depressionen bei Älteren oft mit kognitiven Einbußen einher.
Sabine Bruchmann kennt das Phänomen Pseudodemenz gut. Sie ist klinische Neuropsychologin an der Universitätsklinik in Münster und arbeitet in der dortigen Gedächtnisambulanz. Sie leitet Fortbildungen für medizinisches Fachpersonal, in denen sie über das Syndrom aufklärt. Mit dem Begriff Pseudodemenz kann sie sich allerdings nicht anfreunden. Die Bezeichnung vermittle den Eindruck, es werde eine Störung vorgespielt – so als handle es sich um Probleme, die gar nicht da wären. »Es ist ein veralteter Begriff, ähnlich wie Geistesschwäche«, sagt Bruchmann. Die Betroffenen täuschten keineswegs ein Leiden vor, ihre psychischen Probleme äußern sich nur anders als üblich. Die Psychologin bevorzugt daher die Bezeichnung »Depression mit ausgeprägter kognitiver Störung«. Manche Fachleute sprechen auch von »Altersdepression«.

Bruchmann konsultieren vor allem Menschen, die zu ihr überwiesen wurden, und solche, die sich um den eigenen geistigen Zustand oder den von Angehörigen sorgen. Sie führt dann Tests durch, die das Gedächtnis und andere durch eine Demenz beeinträchtigte Fähigkeiten auf die Probe stellen. Zudem lässt sie sich von Patienten deren Krankengeschichte erzählen und kommt mit Angehörigen ins Gespräch. So macht sie sich ein Bild von der Person, die vor ihr sitzt.

Die Behandlungmöglichkeiten bei Altersdepression sind besser als bei Demenz

»Viele Menschen, die vor ihrem 65. Geburtstag zu uns kommen, haben in ihrem Leben schon mal eine psychiatrische Diagnose erhalten«, erzählt Bruchmann. Burnout oder Depression etwa. Wie der Patient G. L., den Leslie Kiloh als »chronisch ängstlich« beschrieb, noch bevor er Symptome einer Demenz zeigt. Das ist ein wichtiger Punkt, den die Neuropsychologin abzuklären versucht: Was war zuerst da – die kognitive Beeinträchtigung oder das psychische Problem?


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Für Ärzte ist es oft nicht einfach, dies zu erkennen. Apathie, Antriebsverlust und ein vermindertes Empfinden von Freude, sind allesamt Anzeichen einer Depression bei älteren Menschen, treten jedoch häufig auch im Anfangsstadium von Demenzerkrankungen auf. Darüber hinaus können sich die beiden Krankheiten durchaus gemeinsam entwickeln. »Gerade im Frühstadium einer Demenz kann das Erkennen der eigenen Unzulänglichkeit oder der Verlust von Selbstsicherheit eine depressive Verstimmung bedingen«, erklärt Bruchmann. Die Angehörigen bemerken dann, dass die Person gereizt, erschöpft oder traurig wirkt. »Wenn man genauer nachfragt, stellt sich oft heraus, dass die Patientin oder der Patient schon seit einer Weile ahnt, dass sie oder er öfter Fehler macht oder Dinge vergisst«, sagt die Neuropsychologin.

Schwierige Abgrenzung

Der umgekehrte Fall ist ebenso möglich. Studien deuten auf Depression als einen Risikofaktor für Morbus Alzheimer hin. Der 2020 veröffentlichte Bericht eines Teams um Gill Livingston vom University College London führt vier Prozent der Demenzerkrankungen auf die psychische Störung zurück. Sowohl eine depressive Verstimmung, die in eine Demenz übergeht, als auch eine Depression, die auf Grund der neurodegenerativen Krankheit entsteht, ist von Altersdemenz abzugrenzen.

Es gibt noch weitere Hinweise, auf die Sabine Bruchmann achtet. Äußert sich die Person im Gespräch klar und strukturiert, reflektiert sie ihre Situation und beschreibt ihre Vergesslichkeit sehr genau, deutet das zum Beispiel auf eine Altersdepression hin. Bleibt sie in ihrem Bericht dagegen oberflächlich, bringt Ereignisse aus ihrer jüngeren Vergangenheit durcheinander oder bagatellisiert Fehlleistungen, die anderen auffallen, so spricht das eher für eine neurodegenerative Erkrankung. Treten die Symptome im zeitlichen Verlauf schwankend auf, liegt wiederum eine psychische Ursache nahe.

Spezielle Demenztests helfen ebenfalls bei der Diagnose. Patienten sollen sich dafür zum Beispiel Wortlisten merken oder Figuren nachzeichnen. Bestimmte Verhaltensmuster der Probanden deuten auf die Ursache der kognitiven Störung hin: Wenn Demente eine Frage nicht beantworten können, raten sie häufig und liegen damit manchmal zufällig richtig. Jene mit Altersdepression geben öfter zu, dass sie Antwort nicht kennen. 

 

Nota. - Man unterscheidet zwischen Geistes- und Gemütskrankheiten, um einen vermuteten Unterschied in ihrer Entstehungsgeschichte anzuzeigen, der zugleich einen Hinweis gibt, in welcher Richtung nach einer Therapie zu suchen wäre. Im Hintergrund rauscht leise die Annahme, eine Gemütskrankheit sei 'nicht ganz so schlimm' wie eine Geisteskrankheit und eher heilbar; und sicher ist: die eine ist gesellschaftlich weniger geächtet als die andere.

Gilt es aber nur für Altersdepressionen, dass die kognitiven Beeinträchtigung so stark werden können, dass nicht nur bei den Mitmenschen, sondern bei den Kranken selber der Eindruck einer geistigen Beschädigung entsteht?

Allgemein gesprochen: Wenn nur negativ konnotierte Erlebnisse wahrgenommen und positiv zu wertende von vornherein ignoriert werden - ist dann in phänomenaler Hinsicht zwischen 'Gemüt' und 'Geist' überhaupt noch sinnvoll zu unterscheiden?

(Und wie wäre es dann mit den sog. Manien, die landläufig als gewissermaßen seitenverkehrte Depressionen aufgefasst werden?)

Merke: Der Wissenschaft geht es nicht nur um Therapiemöglichkeiten; sie möchte, wenn sie eine ist, auch verstehen

JE


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