aus FAZ.NET, 2. 7. 2021 Egon Schiele, Alte Häuser in Krumau 1914 zu Geschmackssachen
Von
Stefan Trinks,
Über das erste autonome Landschaftsbild der nachantiken Kunst können Historiker trefflich streiten. Wahrscheinlich gebührt der Rang den um 1330 gemalten Fresken von Simone Martini und Ambrogio Lorenzetti. Um 1494 hält dann Dürer auf dem Weg nach Italien Alpenübergänge und Südtiroler Felsformationen derart atemberaubend fest, als hätte er sich seit Jahren an nichts anderem geschult als an der Darstellung von Landschaft.
Eine Schau zur Geschichte der Landschaftsmalerei, zumal in der Wiener Albertina als einer der größten Dürer-Sammlungen weltweit, muss mit den taufrischen Aquarellen alla natura des damals erst dreiundzwanzigjährigen Meisters aus Nürnberg beginnen. Schon auf dem Blick in den wie leergefegten Hof von Innsbrucks Burg wird klar, dass Stadt ohne Menschen schnell wie Landschaft wirken kann, zumal wenn die Dachhäute der Würfelhäuschen organisch wie Felder ausschwingen.
Es könnte sich bei der Wiener Schau somit um eine kreuzbrave und erwartbare Sommerausstellung handeln, die mit mehr als 170 Hauptwerken von Dürer über Rembrandt, Canaletto, Boucher, Friedrich, Cézanne, van Gogh oder Klee auf unsere angestaute Reisesehnsucht zielt. Damit allerdings gibt sich die Albertina nicht zufrieden - sie arbeitet inhaltlich und bereichert unser Wissen um die über fünfhundert Jahre alte Tradition des autonomen Landschaftsbildes um Wesentliches. Zuerst einmal führt sie anhand von Dürer und den Niederländern vor, dass die Künstler anfangs Urbanes wie Landschaft malten und erst dann in die Natur gingen - „Stadtluft macht frei“ hieß das Motto, und vor den Mauern war es feindlich. Malte Dürer seine gewissermaßen humanistisch die Natur entdeckenden Aquarelle - das hier gezeigte „Große Rasenstück“ hat er als ausgestochene Grassode auf dem Küchentisch wie ein Pathologe bis in den letzten Grashalm examiniert - anfangs noch für sich, hatten die holländischen Künstler spätestens des Goldenen Zeitalters explizit städtische Auftraggeber für ihre Veduten von Grün, das es in den engen Kanalstädten kaum gab.
Apropos Kanalstädte: Der Grund dafür, dass der Venezianer Jacopo de’ Barbari ab 1503 zum Hofmaler des sächsischen Kurfürsten berufen wurde, ist eine mehrere Quadratmeter große Stadtlandschaft seiner Heimatstadt aus göttlicher Perspektive - die vier Windgötter sind zur Sicherheit angegeben. Die Präzision, mit der de’ Barbari jedes einzelne Gebäude der Lagunenstadt mit seinen Charakteristika wie ausgefallenen Trecento-Giebeln, Wand-Schrunden und teils sogar noch den aus dieser luftigen Perspektive zu sehenden Fassadenmalereien einfängt, war um 1500 ein Alleinstellungsmerkmal, mit dem sich europaweit jeder Regent brüsten konnte.
Alles zwischen Renaissance und anbrechender Moderne im neunzehnten Jahrhundert ist in Wien mit Begeisterung anzusehen, nichts aber verblüfft so wie die in Ideallandschaften eingebetteten Monumente für die Dichter Klopstock und Schiller von Jacob Wilhelm Mechau, geschaffen 1806. Zeitlich nur wenig später als die französische Revolutionsarchitektur mit ihren zyklopischen Volumina, erheben sich auf den gut einen Meter breiten Blättern Memorialbauten in gebirgigen Waldlandschaften, die wie Boullées ins sächsische Elbsandsteingebirge verpflanzter Newton-Kenotaph wirken. Die Vorlage der nie gebauten Entwürfe des Dresdner Architekten Gottfried Klinsky integriert Mechau in die für ihn atmosphärisch zur jeweiligen Schriftsteller-Natur passende Landschaft.
Die Moderne, so zeigt sich in zwei Sälen, sucht – mindestens in der Landschaft – keinesfalls den Bruch mit den vorausgegangenen Symbiosen; vielmehr ist sie die Fortsetzung der Tradition. Was im Gegenzug für die modernste Kunst bedeutet, dass sie in viel stärkerem Maße als meist behauptet Altbekanntes fortsetzt. Deutlich wird dies etwa an einer scheinbar nur dekorativen „Waldwiese“ mit auffällig flächig-pixeligen Blumen und Blätterdächern des heute kaum mehr bekannten Ludwig Heinrich Jungnickel von 1905. Sie ist bei näherem Hinsehen abstrakt aufgebaut aus Tausenden kleinster Farbpunkte und könnte auch ein Siebdruck von Warhol ein halbes Jahrhundert später sein.
Jungnickel entwickelte für derartige Landschaften die sogenannte Schablonenspritztechnik, bei der die Farben durch feinmaschige Gitter innerhalb mehrerer Kartonschablonen gewissermaßen als Pixel auf das Papier zerstäubt werden. Derartige Qualitäten der Abstraktion finden sich allerdings auch schon auf Carl Blechens lavierter Federzeichnung von 1834, in deren nah ans Betrachterauge gerücktem Blattdickicht es kein Vorn und Hinten, Oben und Unten mehr gibt; selbst die weißen Blattflächen werden mutwillig mit schwarzen Flecken durchschossen. Blechen versucht gar nicht erst, einen naturalistischen Eindruck von Schatten zu erzeugen. Vielmehr öffnet er den Bildraum für das „Dahinter“, die Imagination.
Anders, doch ebenso modern ist der Wiener Maler Rudolf von Alt mit seinem Aquarell „Die Eisengießerei Kitschelt in der Skodagasse in Wien“ von 1903. Wie bei de’ Barbaris Vogelblick in Venedigs Kanäle schaut man über eine Fabrikmauer im Vordergrund, die wie eine bunte Dada-Collage kreuz und quer mit unzähligen Plakaten beklebt ist, in den Hof der Gießerei. Hinter den Fenstern glüht rot das Eisen, davor im Hof ergießt sich eine undurchschaubare Industrielandschaft aus wuselnden Arbeitern und zu ungewollt surrealen Skulpturen gestapelten Materialien.
Dass die Kunstgeschichte Adolph Menzels vulkanisches „Eisenwalzwerk“ in der Berliner Nationalgalerie zu Recht als „Kathedrale der Industrie“ bezeichnet hat, erweist sich an dessen selten zu sehendem „Sägewerk“ von 1892 mit seinen impressionistisch mit breitem Zimmermannsbleistift in die Sommersonne geworfenen Gebäuden. Unmittelbar neben der schiefwinkligen Sägemühle, in deren schwarzen Eingang ein Eisenbahnstrang führt, der von Werkzeugen und Holzstämmen flankiert wird, ragt sonnenbeschienen die Fassade einer Barockkirche auf. Es ist ein von Menzel künstlich eng aneinandergerücktes „Ora et labora“, das von den phänomenal gemalzeichneten Baumkronen-Wolken dazwischen wie von Zuckerwatte zusammengeklebt wird.
In Emil Noldes „Wintersonne“ von 1908 hingegen schmilzt sich der Feuerball der Sonne widernatürlich in die schmutzig auskristallisierte Schneematschlandschaft mit sehr realen Ackerfurchen darunter, indem der Maler die gelborange Aquarellfarbe einfach gnadenlos in das braune Feld hineinkreist. Eine Sonne geht auch auf Lyonel Feiningers Federzeichnung „Eisenbahnbrücke“ von 1911 unter. Das in angsteinflößender Untersicht gegebene Bahnviadukt wirkt in seiner expressiven Verschattung wie ein organischer Teil des Berghangs, aus dem es herauswächst. Wie eine Romantiker-Figur von Neo Rauch steht am Fuß des Hangs ein hagerer Herr mit hohem Zylinder und Spazierstock, der nach hinten gelehnt dieses Mischwesen aus Natur und Technik bestaunt und möglicherweise auch ein wenig fürchtet, scheinen doch die schiefen Häuschen vor und hinter der Eisenbahnbrücke jeden Moment zu bersten und zu zersplittern.
Am Ende, im zwanzigsten Jahrhundert, zeigt sich mithin ein doppeltes Paradox: Urban-Technisches wird organisch fließend und frisst sich in die Natur, während die Landschaft selbst längst industrialisiert und flurbereinigt ist. Dürers unheimlicher Blick in die wie ausgestorbene Hoflandschaft Innsbruck hat jedenfalls mehr mit Alts Industrie-Vedute gemein, als vor dieser Schau auch nur entfernt zu ahnen war.
Stadt und Land. Zwischen Traum & Realität. In der Albertina, Wien; bis zum 22. August. Der Katalog kostet 19,90 Euro.
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