Dienstag, 9. Februar 2021

Der Erfahrungsbegriff des einen und die der Andern.

    zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Ich schreibe mir zu ein niederes und höheres Organ, die in dem beschriebenen Verhältnisse zueinander stehen; ich nehme demzufolge an in der Sinnenwelt außer mir eine gröbere und subtilere Materie, in dem beschriebenen Verhältnisse zu meinen Organen. Ein solches Set-zen ist notwendige Bedingung des Selbstbewusstseins und liegt daher im Begriffe der Per-son. Setze ich daher ein Wesen außer mir als Person, so muss ich von ihm notwendig an-nehmen, dass es das Gleiche setze, oder, was hier dasselbe ist, ich muss ihm den reellen Besitz und Gebrauch zwei solcher unterschiedlichen Organe zuschreiben, ich muss die reelle Existenz einer so bestimmten Sinnenwelt für ihn annehmen.

Auch dieses Übertragen meines notwendigen Denkens auf eine Person außer mir liegt im Begriffe der Person. Ich muss demnach der Person außer mir zuschreiben, dass, falls sie mich als Person setze, sie dasselbe von mir annehme. Die Begriffe von der bestimmten Ar-tikulation vernünftiger Wesen und von der Sinnenwelt außer mir sind notwendig gemein-schaftliche Begriffe; Begriffe, worüber die vernünftigen Wesen notwendig, ohne alle vorher-gegangene Verabredung, übereinstimmen, weil bei jedem in seiner Persönlichkeit die gleiche Art der Anschauung begründet ist, und sie müssen als solche gedacht werden. Jeder kann von dem anderen mit Grunde [sic]  voraussetzen, ihm anzumuten und sich darauf zu beru-fen, dass er die gleichen Begriffe über die Gegenstände habe, so gewiss er ein vernünftiges Wesen sei.
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J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 73



Nota. - Also darauf soll es hinaus: dass jede Person gewisse Begriffe fassen müsse, die eine jede andere Person notwendig ebenfalls fassen muss.

Denn bislang war ja nur davon gehandelt worden, auf welchen Wegen ein Ich seine Anschau-ungen zu Begriffen für sich selber ausbilde. Dass es sich dabei schließlich materialiter um denselben Begriff handele, den sich auch ein anderes Ich gebildet habe, wäre bloßer Zufall.

Oben hatten wir den Fall, dass - wenn auch mittelbar und umständlich - aus dem bloßen Faktum einer Reihe vernünftiger Wesen die Notwendigkeit abgeleitet wurde, dass ein jedes dieser Wesen notwendig zu demselben Rechts begriff gelangen müsse - weil der Rechtsbe-griff im Begriff der Vernunft sachlich enthalten sei. 



Ginge es darum, lediglich den Rechtsbegriff selbst weiter fort zu bestimmen, reichte dessen Gültigkeitsradius wohl hin. Davon ist nun aber nicht mehr die Rede, sondern von sinnlichen, von Erfahrungs-Begriffen. Die muten wir uns gegenseitig an, weil wir erstens alle auf die-selbe physische Weise organisiert sind und es zweitens alle voneinander wissen.

Das würde bedeuten, dass in Zivilisationen, deren Bildungsstandard nicht wenigstens west-lichem Grundschulwissen entspricht, gemeinschaftliches Erfahrungswissen nicht zustande kommen kann. Doch das ist offenbar nicht der Fall, sondern es ist andersrum: Weil Erfah-rungswissen möglich ist, ist ein welweites Grundschul- und auch Hochschulniveau möglich geworden. Möglich ist Erfahrungswissen durch fortschreitend vergesellschaftete Arbeit. Entstanden ist ein System von Begriffen; eine ganze intelligible Welt.

Bis zu dem Punkt konnte Fichte an dieser Stelle nicht kommen. Zwar hat er wohl Adam Smith gekannt, aber erst nach 1800. Noch waren ihm bürgerliche Gesellschaft und Politik noch nicht als eigne Wissensfelder bewusst geworden; noch meinte er, auf dem engen Pfad der Rechtsphilosophie ihre Probleme mitbehandeln zu können - notfalls mit einem spekula-tiven Abstecher ins Reich der Neurophysiologie.
25. 4. 19


Nota II. - Zu bemerken leider auch dies: Nachdem die Transzendentalphilosophie nur zu ergründen hatte, wie die Vernunft möglich wurde, nämlich aus Freiheit, scheint er nun vor-zuführen, wie sie notwendig verfährt, sobald sie da ist. Das ist aber nicht ihres Amtes. Dass Vernunft da ist, ist die sachliche Voraussetzung der Vernunftkritik, anders könnte es sie nicht geben. Dass sie womöglich nicht überall und nicht so konsequent herrscht, wie es ihrem Anspruch entspräche, kann als Einwand ein jeder vorbringen, dem die Ergebnisse der Transzendentalphilosophie zur Kenntnis gekommen sind, die insofern selber politisch ist, und könnte es jedem andern aus der Reihe vernünftiger Wesen zum Vorwurf machen. Sache der Transzendentalphilosophie selbst ist es aber nicht mehr.

Der Politiker darf und soll sich in möglichst vielen Disziplinen des Wissens kundig machen, natürlich auch in der Philosophie; und der Philosoph soll sich, wie jeder Wissenschaftler, klarmachen, dass seine Ergebnisse politische Tragweiten haben mögen. Doch dadurch wird Politik noch nicht Philosophie und Philosophie nicht Politik.
JE
 

Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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