
aus spektrum.de, 23.02.2021 zuJochen Ebmeiers Realien
Ein Areal für alle Sprachen
Die
meisten Menschen sehen in Gebärden nur Bewegungen der Hände.
Gebärdensprachler erkennen darin Wörter und Sätze: Bei ihnen schaltet
sich das Sprachzentrum ein und entschlüsselt die Bedeutung der
Handzeichen.
von Christiane Gelitz
Der
Schlüssel zum Verstehen von Gebärdensprache ist derselbe wie der für
gesprochene Sprache. Zu diesem Ergebnis kommt ein Team vom
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig
in einer Metaanalyse über 23 Studien. Wie die Gruppe in der
Fachzeitschrift »Human Brain Mapping«
berichtet, ist Dreh- und Angelpunkt das Broca-Areal im linken
Stirnhirn: Es handle sich um einen »supramodalen Hub«, also ein von der
Modalität der Sprache unabhängiges Zentrum für Sprachverstehen. Je
nachdem, ob es um gesprochene oder gebärdete Sprache geht, arbeitet das
Broca-Areal aber mit verschie-denen anderen Hirnregionen zusammen.
Bei Gebärdensprachlern aktivieren
Gebärden ein Netzwerk, das sich über beide Seiten von Stirn-,
Hinterhaupt- und Schläfenlappen erstreckt. Das Broca-Areal (für
Fachleute: BA 44 und 45) und sein Pendant im rechten Schläfenlappen
(BA 22) entschlüsseln die sprachliche Bedeutung der Bewegungen von
Händen, Gesicht und Körper. Die rechte Region ist daneben auch am
Beobachten von nichtsprachlichen Gesten beteiligt, etwa wenn es um
räumliche Informationen geht.
Wie das Max-Planck-Team weiter berichtet, unterscheiden sich Deutsch- und Gebärden-sprachige darin, wie das Gehirn Gebärden verarbeitet: Nur bei Letzteren aktivieren sie das Sprachnetzwerk in der linken Hirnhälfte. Deshalb sehen Hörende einfach nur Bewegungen der Hände, während Gebärdende dieselben Bewegungen als sprachliche Signale wahrneh-men. Spezifisch fürs Gebärdensprachverstehen ist überdies eine Region in der rechten Hirnhälfte, die dem Wernicke-Areal im linken Schläfenlappen entspricht und vor allem bei komplexeren Informationen aktiv wird. Die Autoren vermuten, dass sich die Region bei gehörlosen Gebärdensprachlern reorganisiert haben könnte.
»Das Gehirn ist auf Sprache an sich spezialisiert, nicht auf das Sprechen«
(Patrick Trettenbrein vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig)
Die Befunde passen zu älteren Untersuchungen, heißt es in der Studie: Die Verarbeitung gesprochener Sprache laufe beidseitig ab, doch die von abstrakten sprachlichen Informationen eher in der linken Hemisphäre. Dass das Broca-Areal auch am Verstehen von Gebärden mitwirkt, gilt seit Langem als wahrscheinlich. Im Wesentlichen seien die gleichen Gebiete wie bei gesprochener Sprache beteiligt, schrieb ein Forschungsteam schon vor 20 Jahren in »Spektrum der Wissenschaft«.
»Das Gehirn ist auf Sprache an sich spezialisiert, nicht auf das Sprechen«, sagt Neurolinguist Patrick Trettenbrein in einer Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts. Zu klären sei nun noch, ob gehörlose ebenso wie hörende Menschen Bedeutung und Grammatik mit unterschiedlichen Teilen des Broca-Areals verstehen. Gebärdensprachen böten die Gelegenheit, solche Hypothesen zur menschlichen Sprache unabhängig vom Sprechen zu testen.
Spektrum der Wissenschaft Digitalpaket: Schrift und Sprache
Schätzungen zufolge sind in Deutschland mehr als 80 000 Menschen gehörlos, und rund 200 000 sprechen die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Weltweit existieren je nach Zählweise zwischen 144 und mehr als 200 Gebärdensprachen. Sie gelten als vollwertige Sprachen mit einer eigenen Grammatik und Kultur.
Nota. - Verstehe ich das richtig? Unser Gehirn ist schlechterdings und ganz in abstracto auf Bilden und Verstehen digitaler Mitteilungen eingerichtet? Digital sind Handzeichen nicht minder als Laut- oder Schriftzeichen. Dass Laut- und Gebärdensprache sich in der Geschichte nicht bloß neben-, sondern mit einander entwickelt haben, liegt nahe. Wenn beide prinzipiell gegeneinander austauschbar sind - ist damit die Schriftsprache a priori inbegriffen, oder musste sie sich in einem langen evolutionären Prozess erst mühselig aus jenen beiden heraus bilden? Um Symbole handelt es sich in jedem Fall.
JE
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