Berlin, Friedrichstraße, März 1848 aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete...
Welches ist die
entgegengesetzte Weise? Der Charakter der beschriebenen Einwirkung war
der, dass es gänzlich von der Freiheit meines Willens abhing, ob auf
mich eingewirkt wer-den sollte, indem ich der Einwirkung erst stille
halten und sie als geschehen setzen musste; widrigenfalls auf mich gar
nicht eingewirkt gewesen wäre. Der Charakter einer entgegenge-setzten
Einwirkung wäre sonach der, dass es nicht von meiner Freiheit abhinge,
die gesehe-ne Einwirkung zu bemerken oder nicht, sondern dass ich sie
bemerken müsste, so gewiss ich irgend et- was bemerkte. Wie ist eine
solche möglich?
Dass die beschriebene
Einwirkung von meiner Freiheit abhing, kam zuvörderst daher, dass ich
durch die bloße Freiheit des Willens die hervorgebrachte Form meines
artikulierten Lei-bes zerstören konnte; in der entgegen- gesetzten müsste
es nicht lediglich von der Freiheit des Willens abhängen, die
hervorgebrachte Form müsste fest, wenigstens nicht unmittelbar
vermittelst des höheren Organs zu zerstören, mein Leib müsste in ihr
gebunden und gänz-lich gehemmt sein in seinen Bewegungen.
Aus einer solchen
gänzlichen Hemmung würde dann auch die Reflexion darauf notwendig
erfolgen; nicht der Form nach, dass ich überhaupt ein reflektierendes
Wesen würde, welches lediglich im Wesen der Vernunft ge- gründet ist,
sondern der Materie nach, dass, wenn ich überhaupt nur reflektiere, ich
notwendig auf die geschehene Einwirkung reflektieren müss-te. Denn das
freie Wesen will sich nur finden als ein freies. So gewiss es demnach
über sich reflektiert, ahmt er eine in ihm hervorgebrachte Bestimmung
innerlich nach - mit der Vor-aussetzung, dass es von der Freiheit ihres
Willens abhänge, dass dieselbe bleibe. Sie schränkt / ihre Freiheit selbst ein.
Ist aber, der
Voraussetzuung nach, jene Bestimmung durch die bloße Kausalität des
Willens nicht zerstörbar, so bedarf es einer solchen Selbstbeschränkung
nicht; es fehlt etwas, was in die Reflexion eines freien Wesens als
eines solchen gehört, und es wird dadurch der Zwang gefühlt. So gewiss
über irgend etwas reflektiert wird, wird der Zwang gefühlt; denn alles
im artikulierten Leibe hängt notwendig zusammen, und jeder Teil fließt
ein auf alle, zufolge des Begriffs der Artikulation.
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J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 65f.
Nota. - Gewundene
rabulistische Argumentation weist untrüglich darauf hin, dass etwas
Ungehöriges im Gange ist. Was ist hier das Ungehörige? Dass Fichte,
obwohl im Reich der Vernunft angelangt, weiter so tut, als müsse oder
dürfe er 'genetisch' spekulieren wie in der Transzendentalphilosophie.
Genetisch deduziert hatte er den Rechtsbegriff als notwendige Implikation der Vernunft.
Ab
hier müsste die Darstellung historisch-politisch werden. Der Begriff
des Rechts ist fest-gestellt - insbesondere, dass es für alle
Vernunftwesen gleich gilt. Daran sind historisch ent-standene Rechtssysteme zu messen und gegebenenfalls politisch
zu kritisieren. Dabei mag es zweckmäßig werden, Einzelnes nachträglich
in kritisch-transzendentalphilosophischer Weise zu spezifizieren.
Und
es ist nicht so, dass sich Fichte um die politischen Konsequenzen
seiner Philosophie je gedrückt hätte. Es wird wohl eher so sein, dass
ihm das messerscharfe Deduzieren unbe-schadet einer jeden Widerrede so
liebgeworden war, dass er gar nicht mehr aufhören moch-te.
Das
Politische ist eo ipso strittig. Der Philosoph mag aus den ihm eigenen
Erkenntnissen mitstreiten, wenn er sich traut. Aber Politik ist nicht
Philosophie. In der Philosophie muss und kann vieles in der Schwebe
bleiben, in der Politik müssen Entscheidungen getroffen werden, wenn die
Zeit gekommen ist.
Aber
vor allem: Politik ist keine Sache der Vernunft, sondern ein Kampf von
Interessen. Eine Idee wird zu einer sachlichen Gewalt, wenn sie die
Massen ergreift - sofern sie nämlich ihren Interessen entspricht und sie
es erkennen. Dann mag an Stelle der Waffe der Kritik die Kritik durch
Waffen treten.
JE , 9. 4. 19
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