Mittwoch, 10. Februar 2021

Genetische Deduktion und politische Interessen.

Berlin, Friedrichstraße, März 1848          aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete...

Welches ist die entgegengesetzte Weise? Der Charakter der beschriebenen Einwirkung war der, dass es gänzlich von der Freiheit meines Willens abhing, ob auf mich eingewirkt wer-den sollte, indem ich der Einwirkung erst stille halten und sie als geschehen setzen musste; widrigenfalls auf mich gar nicht eingewirkt gewesen wäre. Der Charakter einer entgegenge-setzten Einwirkung wäre sonach der, dass es nicht von meiner Freiheit abhinge, die gesehe-ne Einwirkung zu bemerken oder nicht, sondern dass ich sie bemerken müsste, so gewiss ich irgend et- was bemerkte. Wie ist eine solche möglich? 

Dass die beschriebene Einwirkung von meiner Freiheit abhing, kam zuvörderst daher, dass ich durch die bloße Freiheit des Willens die hervorgebrachte Form meines artikulierten Lei-bes zerstören konnte; in der entgegen- gesetzten müsste es nicht lediglich von der Freiheit des Willens abhängen, die hervorgebrachte Form müsste fest, wenigstens nicht unmittelbar vermittelst des höheren Organs zu zerstören, mein Leib müsste in ihr gebunden und gänz-lich gehemmt sein in seinen Bewegungen. 

Aus einer solchen gänzlichen Hemmung würde dann auch die Reflexion darauf notwendig erfolgen; nicht der Form nach, dass ich überhaupt ein reflektierendes Wesen würde, welches lediglich im Wesen der Vernunft ge- gründet ist, sondern der Materie nach, dass, wenn ich überhaupt nur reflektiere, ich notwendig auf die geschehene Einwirkung reflektieren müss-te. Denn das freie Wesen will sich nur finden als ein freies. So gewiss es demnach über sich reflektiert, ahmt er eine in ihm hervorgebrachte Bestimmung innerlich nach - mit der Vor-aussetzung, dass es von der Freiheit ihres Willens abhänge, dass dieselbe bleibe. Sie schränkt / ihre Freiheit selbst ein.

Ist aber, der Voraussetzuung nach, jene Bestimmung durch die bloße Kausalität des Willens nicht zerstörbar, so bedarf es einer solchen Selbstbeschränkung nicht; es fehlt etwas, was in die Reflexion eines freien Wesens als eines solchen gehört, und es wird dadurch der Zwang gefühlt. So gewiss über irgend etwas reflektiert wird, wird der Zwang gefühlt; denn alles im artikulierten Leibe hängt notwendig zusammen, und jeder Teil fließt ein auf alle, zufolge des Begriffs der Artikulation.
_____________________________________________________________________
J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 65f.
 



Nota. - Gewundene rabulistische Argumentation weist untrüglich darauf hin, dass etwas Ungehöriges im Gange ist. Was ist hier das Ungehörige? Dass Fichte, obwohl im Reich der Vernunft angelangt, weiter so tut, als müsse oder dürfe er 'genetisch' spekulieren wie in der Transzendentalphilosophie. 

Genetisch deduziert hatte er den Rechtsbegriff als notwendige Implikation der Vernunft.

Ab hier müsste die Darstellung historisch-politisch werden. Der Begriff des Rechts ist fest-gestellt - insbesondere, dass es für alle Vernunftwesen gleich gilt. Daran sind historisch ent-standene Rechtssysteme zu messen und gegebenenfalls politisch zu kritisieren. Dabei mag es zweckmäßig werden, Einzelnes nachträglich in kritisch-transzendentalphilosophischer Weise zu spezifizieren.

Und es ist nicht so, dass sich Fichte um die politischen Konsequenzen seiner Philosophie je gedrückt hätte. Es wird wohl eher so sein, dass ihm das messerscharfe Deduzieren unbe-schadet einer jeden Widerrede so liebgeworden war, dass er gar nicht mehr aufhören moch-te. 

Das Politische ist eo ipso strittig. Der Philosoph mag aus den ihm eigenen Erkenntnissen mitstreiten, wenn er sich traut. Aber Politik ist nicht Philosophie. In der Philosophie muss und kann vieles in der Schwebe bleiben, in der Politik müssen Entscheidungen getroffen werden, wenn die Zeit gekommen ist.

Aber vor allem: Politik ist keine Sache der Vernunft, sondern ein Kampf von Interessen. Eine Idee wird zu einer sachlichen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift - sofern sie nämlich ihren Interessen entspricht und sie es erkennen. Dann mag an Stelle der Waffe der Kritik die Kritik durch Waffen treten. 
JE , 9. 4. 19

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen