Murashov, Frierender
§ 8 zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Im vorigen Paragraphen
ist die Anschauung als notwendig und die Gründe dieser Notwen-digkeit
aufgezeigt. Aber im Anschauen verliert sich das Ich im Objekte, wie ist
also noch ein /
Begriff von einem freien Handelns möglich, oder wie ist das Ich für
sich selbst möglich? Wir müssen also jetzt noch das Ich aufsuchen oder
zeigen, wie die Anschauung auf das Ich muss bezogen werden, wie das Ich
für sich da sein müsse.
1) Es gibt nach dem Obigen ein Mannigfaltiges des Gefühls,
aber ein Gefühl ist eine be-stimmte Beschränktheit, und es ist
unmöglich, dass das Ich sich in derselben Rücksich als beschränkt fühle
und sich auch nicht auf diese Weise beschränkt fühle; was allerdings
sein würde, wenn in derselben Rücksicht ein Mannigfaltiges des Gefühls
sein sollte. Das Ich wäre auf diese Art beschränkt und nicht beschränkt,
das Ich wäre sich selbst entgegenge-setzt; es bliebe keine Realität
(Stoffheit). Sonach lässt sich ein solches Mannigfaltiges nur denken
durch Veränderung des Zustands des Fühlenden. (Das Mannigfaltige darf
kein simultanes, sondern muss ein sukzessives sein; dies wird erst
deutlich, wenn die Zeit de-duziert ist.)
Wie soll denn nun eine
Veränderung der Zustands des Fühlenden möglich sein? Unsere bisherige
Ansicht ist: Das Ich ist ursprünglich in gewisse Schranken
eingeschlossen; daraus geht für das Ich hervor eine Welt. Das Ich kann
mit absoluter Freiheit diese Schranken er-weitern, dadurch verändert es
seinen Zustand und damit auch seine Welt. Aber die Möglich-keit dieser
Selbstbestimmung durch Freiheit ist noch nicht deduziert. Folglich kann
hier die Rede davon noch nicht sein. -
Verändert sich etwa der
Zustand unserer Beschränktheit und die ihm korrespondierende Welt von
selbst? Dies ist nicht zu erwarten, denn es gehört zum Charakter der
Welt, dass sie nur ist, nicht wird, sie fängt keine Handlung an. Die
Sache müsste so sein, dass schon in unserer Natur, in unserer
Bestimmtheit ein Prinzip der Veränderung läge, so wie dies bei den
Plflanzen und Tieren der Fall ist. - Tiefer unten wird sich so etwas
finden. - Es verhalte sich wie es wolle, so darf ich hier diesem
Postulate der Veränderung nur hypothetische Gül-tigkeit zuschreiben.
Sollte sich aber zeigen, dass nur allein durch eine solche Annahme, und
ohne sie nicht, das Bewusstsein erklärt werden könnte, dann hätte ich
das Recht, sie katego-risch zu postulieren.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 87f.
Nota I. -
'Zum Charakter der Welt gehört, dass sie nur ist, nicht wird': Das wäre
absurd, wenn von der Welt die Rede wäre, 'wie sie wirklich ist'. Hier
ist aber die Rede davon, wie sie erstmals in der Vorstellung vorkommt,
und zwar nicht die Welt in concreto, sondern eine 'Welt überhaupt'. Die
setzt sich das Bewusstsein allerdings als schlechthin daseiend voraus.
Nota II. - [Gewiss wird sich das Ich seiner schließlich bewusst werden, indem es sich in seiner Vorstellung sich selbst 'entgegensetzt'. Aber wie kommt es dazu? Durch die Verän-derlichkeit seines Zustands im Gefühl, die ist Bedingung.]
26. 9. 16
Nota III. - Grund allen Bewusstseins ist das Gefühl, das sich ergibt aus dem Widerstand der - so erst aufgefundenen -
Gegenstände gegen die originäre Tätigkeit des Ich. Der formale Logiker
wird sagen: Also waren die Gegenstände vorher da. Der genetische
Logiker entgegnet: Von einem An-sich weiß ich nichts, ich rede vom
Werden der Vorstellung. Das Gefühl selbst kann noch nicht vorgestellt
werden, denn solange es sich gleich bleibt, wird es nicht bemerkt. Es
ist der Übergang des einen Gefühls in ein anderes, der bemerkt und angeschaut und schließlich zum Bild wird. (Von da an ist eine Unterscheidung der Mannigfaltigen durch Reflexion und Abstraktion allerdings möglich.)
Und zwar ist nicht die
Rede von den einzelnen Sinnesreizen, die nach- und miteinander auf den
Organismus einprasseln. Die wären als dieses oder jenes auch
nicht zu unterscheiden, sondern nur ein einziger ungestalter Strom. Es
sind die Gesamtzustände, zu denen der Organismus die Mannigfaltigkeit
der Sinnesreize bildet, die als Ganze unterschieden und gefühlt werden.
Ein heikler Punkt:
Gefühl ist ein Zustand des Leidens, des Unfreiseins. Es ist ein Zustand,
wo das Ich tätig sein will, aber nicht kann. Wie das bei Gegenständen
in Raum und Zeit zu verstehen ist, liegt auf der Hand. Doch in den
jeweiligen Gesamtzustand des Organismus gehen auch die Widerstände ein,
auf die seine intellektive Tätig- keit stößt - der ominöse Denkzwang.
Phänomenal ist es offenkundig, dass in meine momentane Gemütsver-
fassung physische Gefühle und sinnhafte Vorstellungen gleichermaßen
eingehen. Doch wie eine Synthesis mög- lich ist, erklärt Fichte nicht. Es ist auch nicht wirklich Sache der Transzendentalphilosophie, einen solchen Nachweis zu erbringen. Doch die Bedingungen der Möglichkeit sollte sie schon angeben können.
Das Problem im engeren
Verständnis ist: Vom Gefühl des Denkzwangs kann ich abstrahieren -
vielleicht nicht aus Freiheit, aber im Wahn; vom physischen Gefühl kann
ich nicht absehen, höchstens mich - durch viel Willen - ablenken.
Jedoch: Der Wahnsinnige sieht vom Denkzwang nicht ab, sondern der Wahn
ist eben, dass er ihn gar nicht empfindet. Aber so beißt sich die Katze
in den Schwanz.
30. 11. 18
Nota IV. - Dies für Leser, die sich das Schielen nach Metaphysischem nicht verkneifen könne: Die Bedingung, unter der sich ein Ich, sofern es für sich werden will - von dem allein die Wissenschaftslehre aber handelt -, vorfindet, ist seine Beschränktheit, nämlich durch die Vorgegebenheit der Welt; sie teilt ihm sich mit durch die Gefühle, die ihm ihre Widerstände gegen seine Tätigkeiten verursachen, mitteilen. - Das möchte man eher als sensualistisch-materialistisch ansehen denn als "idealistisch"; aber eben transzendental verstanden.
JE
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