aus FAZ.NET, 22. 2. 2022 Lovis Corinth Selbstportrait am
Walchensee 1922, zu Geschmackssachen
Von
Bettina Wohlfarth,
Paris
Wie gerne hätte man ihm bei der Arbeit zugeschaut. Beim Betrachten aus nächster Nähe sieht man auf Lovis Corinths Blumenstillleben eine Explosion von übereinandergelagerten oder gegeneinandergesetzten pastosen Pinselstrichen in vielfältigen Abmischungen von Grün-, Rot-, Violett-, Orange- und Brauntönen mit Lichtreflexen in Weiß oder Gelb, dann Blautönen. Auch die feinen Spuren der Borsten lassen sich erkennen, denn die Pinselfüh-rung ist zu einem ungestümen, im Ausdruck dennoch fein kontrollierten Tanz der Malgeste geworden.
Jeder Pinselstrich sei zuckendes Leben – so schilderte der Kunstkritiker Gustav Pauli 1924 die malerische Geste von Lovis Corinth, deren Vitalität, Energie und Expressivität gerade im Spätwerk ihresgleichen sucht. Mit etwas mehr Abstand vom Bild ergeben sich aus dem Farbenrausch die Impressionen von „Amaryllis, Flieder und Anemonen“ (1920), dann ein überschwänglicher Strauß mit „Blumen im Bronzekübel“ oder „Blumen in Vase“ (beide von 1923). Zuletzt dreht Corinth den Pinsel um und ritzt mit dem Stiel seinen Namen in die frische Farbe, so bei „Chrysanthemen im Krug“ von 1918 oder den „Hellen Rosen“ von 1915.
Die Galerie Karsten Greve erstaunt immer wieder mit Ausstellungen von musealer Qualität, die selten gezeigte Künstler oder Sujets ins Bewusstsein holt. Vor einigen Jahren stand man in Paris Schlange, um die Schau mit fünfzig Werken von Giorgio Morandi zu sehen (F.A.Z. vom 30. September 2017). Ein andermal ließ der Kölner Galerist die keramischen Kreuzigungsskulpturen von Lucio Fontana entdecken.
Erst kürzlich zeigte er in Paris und Köln die späten Fingermalereien des Schweizer Art-brut-Künstlers Louis Soutter. Jeder dieser auch kunsthistorischen Ausstellungen geht eine lange Planungsphase voraus. Nun bedurfte es eines Jahrzehnts, um die exquisite Sammlung von elf Werken aus Lovis Corinths späten Jahren zusammenzutragen. Neben neun Blumenstillleben gehören zur Schau ein „Selbstportrait am Walchensee“ von 1922 und die Vorstudie „Ritterrüstung und Schwert“ von 1918. In Paris ist es die erste Galerieausstellung, die es je zu Lovis Corinth gab. Die Gemälde sind in schlichte weiße Schattenfugenrahmen gefasst und werden an den hohen Wänden von Gedichten Rilkes, Trakls und Schickeles begleitet.
Das Gouache-Blatt einer auf dem Boden liegenden Ritterrüstung, abgeworfen wie in einer tragischen Häutung, entstand zum Ende des Ersten Weltkrieges und bekommt in Paris eine noch stärkere symbolische Bedeutung. Der 1858 in Ostpreußen geborene Corinth studierte von 1884 bis 1887 in Paris, nur einige Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg. Die nationalpolitischen Spannungen hat er dort schon früh erlebt. Sie gipfelten im Ersten Weltkrieg, der auch für Corinth eine Zäsur darstellt. In den letzten zehn Lebensjahren – er starb 1925 – wandte er sich fast ausschließlich „kleinen“ Sujets zu, interessierte sich kaum mehr für Allegorien, Historienbilder oder religiöse Darstellungen, sondern für Landschaften, Porträts und eben Stillleben.
In Paris, vor allem aber bei seinem Berliner Galeristen Paul Cassirer entdeckte Corinth zunächst das Werk von Paul Cézanne, dann von van Gogh, die ihn beide stark beeinflussten. Das Thema Zeit und Vergänglichkeit spielte eine immer stärkere Rolle – schon seit Anfang des Jahrhunderts malte er jährlich ein Selbstbildnis. Dann entstanden um hundert Blumenstillleben, in denen die Intensität des Augenblicks, Blüte und Aura, aber auch ein darin schon angelegtes Vergehen Ausdruck finden. Im bewegenden „Selbstportrait am Walchensee“ von 1922 zeigt der Maler am eigenen Antlitz, was auch die Blumenbilder ausdrücken: das Anhalten eines flirrenden Momentes und die Unruhe der Seele vor dem Lauf der Zeit.
Der dreisprachige Katalog mit 260 Seiten ist von außerordentlicher Qualität und geht für jedes einzelne Gemälde (ab 850.000 Euro) detailliert auf die Provenienz ein. Corinths Werk wurde in der NS-Zeit als „entartet“ geschmäht, seine Gemälde waren in vielen jüdischen Sammlungen vertreten, wurden geraubt oder durch Notverkäufe verstreut. Eine Weiterführung von Corinths später malerischer Geste findet man im abstrakten Expressionismus, etwa bei Willem de Kooning: Die Ausstellung wird durch eine Serie von Lithographien des amerikanischen Malers ergänzt (je 20.000 bis 30.000 Euro).
Lovis Corinth, bis 21. Mai in der Galerie Karsten Greve, Paris, im Herbst in Köln. Katalog 60 Euro
Nota. - Sehen Sie hier, warum man ihn einen Impressionisten nannte und nennt:
Blick aus dem Atelier, München-Schwabing (1891)
Und sehen Sie hier, warum man ihn ebenso gut (später) einen Expressionisten nennen konnte:
Während in Frankreich der Übergang aus einem exaltierten Impressionismus zu den Fauves gleichsam natürlich und gleitend war, ist von den deutschen Quasi-Impressionisten anschei-nend nur Corinth in den Expressionismus gerutscht.
Der nur noch wenig bekannte Theo von Brockhusen hat anscheinend absichtsvoll eine Verbindung von beidem versucht. Viel Ruhm hat es ihm nicht eingebracht.
JE
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