Freitag, 18. Februar 2022

Die messerscharfe Intelligenz eines Pongo.


aus Süddeutsche.de, 17. Februar 2022,                                                                                   zuJochen Ebmeiers Realien                

Orang-Utans benutzen Steinzeit-Messer 
Ohne es je irgendwo gesehen zu haben, kommt einem Affen die Idee, scharfkantige Steine zum Schneiden zu verwenden. Was bedeutet das für die angebliche Überlegenheit des Menschen?

Von Tina Baier

Eine der wichtigsten Erfindungen in der Geschichte der Menschheit war die Herstellung von Steinwerkzeugen. Mit Steinzeit-Messern aus scharfkantigen Brocken oder Splittern konnten unsere Urahnen neue Nahrungsquellen erschließen, Tiere schlachten und deren Fleisch zerlegen. Doch wie sind sie auf diese geniale Idee gekommen?

Ein Team um die Biologin Alba Motes-Rodrigo von der Universität Tübingen hat versucht, der Lösung dieses Rätsel durch Experimente mit Orang-Utans näher zu kommen. Die Idee der Wissenschaftler war, die mit dem Menschen nahe verwandten Primaten stellvertretend für unsere Steinzeitvorfahren zu erforschen. In ihrer Studie, die gerade im Fachjournal Plos One erschienen ist, beobachteten Motes-Rodrigo und ihre Kollegen Orang-Utans beim Hantieren mit Steinen und Steinwerkzeugen - in der Hoffnung, miterleben zu können, wie unsere Urahnen den zündenden Einfall hatten.

Eines der Tiere durchtrennte die Silikonschicht der Box und gelangte so an das Futter

In einem ersten Experiment gaben die Forscher zwei Orang-Utans im norwegischen Kristiansand-Zoo einen Steinbrocken und einen Betonhammer, um diesen zu bearbeiten. Außerdem stellten sie eine Box mit einer Belohnung ins Gehege, die mit einer Silikonschicht verschlossen war. Würden die Tiere auf die Idee kommen, sich aus dem Steinbrocken ein Messer herzustellen, um damit die Box zu öffnen?

Wie sich herausstellte, war das zu viel verlangt. Beide Orang-Utans schlugen den Hammer zwar gegen Boden und Wände, machten aber keinerlei Anstalten, den Steinbrocken damit zu bearbeiten. Erst als die Forscher nachhalfen und den Tieren ein fertiges Steinzeitmesser in Form eines scharfen Splitters zur Verfügung stellten, klappte es: Eines der Tiere benutzte den Splitter zum Schneiden, durchtrennte die Silikonschicht der Box und gelangte so an das Futter. "Wir konnten damit zeigen, dass Menschenaffen spontan auf die Idee kommen, einen scharfen Stein als Schneidewerkzeug zu benutzen", sagt Claudio Tennie von der Universität Tübingen, der an der Studie beteiligt war. 

Doch unsere Steinzeitvorfahren haben Messer nicht nur benutzt, sondern auch hergestellt. Ob Orang-Utans auch das lernen können, wollten die Forscher mit einem dritten Experiment herausfinden. Sie zeigten drei Orang-Utan-Weibchen im britischen Twycross Zoo, wie man mit einem Hammer auf einen Steinbrocken schlagen muss, um scharfkantige Steinzeitmesser herzustellen. Eines der Tiere bearbeitete daraufhin einen Brocken genau so, wie sie es zuvor bei ihren menschlichen Lehrern gesehen hatte - und produzierte ihre eigenen Werkzeuge.

Nach Ansicht der Studienautoren zeigen diese Beobachtungen, dass Orang-Utans zumindest die Grundvoraussetzungen erfüllen, um Steinzeitwerkzeuge zu verwenden: Die Tiere können erstens mit einem Hammer auf Steinbrocken einschlagen, sodass Steinmesser entstehen. Und zweitens erkennen sie den Nutzen eines solchen Werkzeugs.

Aber im Unterschied zu den Menschen in der Steinzeit, die gezielt Messer herstellten, um anschließend damit etwas zu zerschneiden, verknüpfen die untersuchten Tiere die beiden Schritte offenbar nicht miteinander. "Trotzdem zeigt unsere Studie, dass die Herstellung von Steinwerkzeug keine Raketenwissenschaft ist, die vollkommen außerhalb der Fähigkeiten nicht menschlicher Primaten liegt", sagt Tennie.

Nach Ansicht der Studienautoren besaß möglicherweise schon der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Orang-Utan, der vor etwa 13 Millionen Jahren lebte, viele jener Fähigkeiten, die erforderlich sind, um Werkzeuge herzustellen und zu benutzen. Dazu zählt auch eine große Innovationskraft, die nach Ansicht von Tennie bis heute nicht nur den Homo sapiens auszeichnet, sondern auch nicht menschliche Primaten wie die Orang-Utans. Die geniale Idee, aus Steinen Werkzeuge herzustellen, kam also nicht aus dem Nichts. Die meisten Voraussetzungen waren wohl schon lange da, als die Steinzeitmenschen vermutlich aufgrund von Umweltveränderungen unter Druck gerieten und sich etwas einfallen lassen mussten, um zusätzliche Nahrungsquellen zu erschließen und auf diese Weise zu überleben.

 

aus Tagesspiegel.de, 18. 2. 2022

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Keine Veranlassung zur Innovation

Während der Mensch Steinwerkzeuge auch zum Schneiden genutzt habe, sei dies bei Tieren zuvor noch nicht beobachtet worden, schreiben die Forscher. Die einfachste Erklärung sei, dass die Tiere auf andere Weise, etwa mit den Zähnen, an Nahrung kommen. Daher habe es keine Notwendigkeit oder evolutionären Druck für Schneidewerkzeuge bei Affen gegeben. Die Forscher hatten die Notwendigkeit im Versuch jedoch künstlich hergestellt. In dem erfolgreichen Schneideversuch hielt der Orang-Utan Loui den Stein interessanterweise auch im Mund und nicht in der Hand.

Bereits 1972 hatte der australische Forscher R. V. S. Wright dem jungen Orang-Utan Abang aufwendig beigebracht, ein Seil zu zerschneiden, um an Nahrung in einer Box zu gelangen. Beim Training wurde sogar die Hand des Affen geführt. Auch das Herstellen scharfer Steine wurde ihm beigebracht. Ähnliches schaffte auch der Bonobo Kanzi zwei Jahrzehnte später. Keine der Studien testete jedoch, ob die Tiere spontan von sich schneiden lernten.

Innovativ. Stöcke nutzten Orang-Utans bereits kreativ, nun zeigen Forscher, dass sie auch Steinsplitter spontan für neue Aufgaben einsetzen können.
Innovativ. Stöcke nutzten Orang-Utans bereits kreativ

Die neue Studie zeigt, dass Orang-Utans von sich aus scharfe Steine als Schneidewerkzeuge nutzen können und die Fähigkeit besitzen, einen Stein so gegen harte Oberflächen zu schlagen, dass scharfe Steinstücke entstehen. «Allerdings kombinierten die Orang-Utans der Studie diese Fähigkeiten nicht, um eigene Steinwerkzeuge herzustellen und einzusetzen», sagt Motes-Rodrigo. "Auch nicht, nachdem Menschen dies demonstriert hatten."

Nah am Aussterben

Es ist nach Angaben der Autoren auch keine Beobachtung bekannt, bei der Orang-Utans in der Natur gezielt Steinwerkzeuge hergestellt hätten, um sie danach zu nutzen. Aus anderen Materialien stellen sie dagegen vielerlei Werkzeuge her. So präparieren sie in der Natur etwa Stöcke, um an Termiten oder das Innere hartschaliger Früchte zu gelangen, wie die Forscher berichten.

Dass Orang-Utans mit Hilfe eines bereitgestellten Holzhammers spontan Nüsse knacken können, hatten Tübinger Forscher 2021 beschrieben. Sie erlernen diese Fähigkeit selbstständig und brauchen dazu keine Anleitung, wie ein weiteres Team um Claudio Tennie damals im Fachjournal «American Journal of Primatology» berichtete. Das Nussknacken mit Werkzeugen sei damit bei ihnen ein Verhalten, das nicht der kulturellen Weitergabe durch Kopieren bedarf. ... (dpa)



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