Donnerstag, 28. Januar 2021

Fingerspitzengefühl.

                                    aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

b. Der Mensch wird nackt geboren, die Tiere bekleidet. In ihrer Bildung hat die Natur ihr Werk beendigt und das Siegel der Vollendung darauf gedrückt; sie hat die feinere Organi-sation durch eine rohere Decke vor dem Einflusse der gröberen Materie geschützt. Im Menschen wurde das erste und wichtigste Organ, das des Betastens, das durch die ganze Haut sich verbreitet, geradezu der Einwirkung derselben bloßgestellt: nicht aus Nachlässig-keit der Natur, sondern aus Achtung derselben für uns. Jenes Organ war bestimmt, die Ma-terie unmittelbar zu berühren, um sie auf das Genaueste unseren Zwecken angemessen zu machen: 

Aber die Natur stellte es uns frei, in welchen Teil unseres Leibes wir unser Bildungsvermö-gen vorzüglich verlegen, und welchen wir als bloße Masse betrachten wollen. Wir haben es in die Fingerspitzen gelegt, aus einem Grunde, der sich bald zeigen wird. Es ist daselbst, weil wir es gewollt haben. Wir hätten jedem Teile unseres Leibes dasselbe feine Gefühl ge-ben können, wenn wir es gewollt hätten; das beweisen diejenigen Menschen, die mit den Zehen nähen und schreiben, die mit dem Bauche sprechen u. s. f.
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J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre,
SW Bd. III, S. 82 



Nota I. - Leute, die "mit dem Bauche sprechen"... Wer hat ihn geheißen, eine biologische Anthropologie aus dem Begriff der Vernunft abzuleiten? Er hätte es andersrum anpacken können, doch dazu hätte er den Evolutionsgedanken benötigt, den er noch nicht kannte. Das wäre eine historische Herleitung der Vernunft geworden, und wenn sie ihm auch ge-lungen wäre, hätte sie mit der Transzendentalphilosphie nichts zu tun gehabt: Er hätte kei-nen Punkt gefunden, an dem er anfangen konnte und aus dem er die... Vorstellung hätte entwickeln können.

Allein dass er die Natur als Protagonistin auftreten lässt, über deren intimsten Pläne er uns Auskunft gibt, macht diesen ganzen Abschnitt nicht nur transzendentalphilosophisch, son-dern in jeder Hinsicht wissenschaftlich wertlos.

Dabei ist der Grundgedanke ja nicht falsch. Wäre der Mensch ganz zu Anfang an seine Umwelt so angepasst gewesen, wie jede Tiergattung es ist, hätte er keine Vernunft entwik-keln müssen. Er hätte keine Verwendung für sie gehabt. Es ging um die Kompensation eines Mangels, und auch die Ahnung, dass die spezifisch menschliche Plastizität seines Kör-perbaus aus diesem Mangel herrührt, ist richtig. Sie hat nur in der Philosophie überhaupt nichts zu suchen. Was immer er vorhat - auf diesem Weg wird er nicht weit kommen.

12. 5. 19
 
 
Nota II. - Von der fast vollendeten Vernunftkritik ist in diesem Blog die Rede. Wenn Fichte sie hätte vollenden können, wäre das Blog überflüssig. Ich bräuchte nur auf seine Werke zu verweisen. 

Hier ist ein Punkt, wo sich Fichte durch eine irrige Verfahrensweise in eine Sackgasse be-gibt. Er war mit der Rekonstruktion der Genesis der Vernunft bis an die Stelle zurückge-kommen, an der Kants Vernunftkritik angesetzt hatte: die realexistierende Reihe vernünfti-ger Wesen und ihr intelligenter Verkehr untereinander. Da war der Kreis geschlossen und er hätte an den inneren Ausbau des Systems gehen können und müssen
 
Stattdesssen hat er die nunmehr überflüssige transzendentale Spekulation in die reale Welt fortgeführt; offenbar, um aus der 'reinen' Vernunft an der historisch-wirklichen Vernunft vorbei ein schlechthin gültiges wahres Recht zu destillieren. Unabhängig davon, ob das the-oretisch zu rechtfertigen wäre, wäre es historisch-wirklich immer noch notwendig, es durch-zusetzen: eine politische Aufgabe. Durchzusetzen gegen das faktisch geltende 'positive' Recht: eine polemische Aufgabe, und der Anteil der Philosophie daran heißt Kritik. Dafür braucht sie keinen spekulativ-positiven Umweg.
 
*
 
Soweit der Irrweg im Verfahren. Er ist bloß literarisch und belanglos im Vergleich zu dem sachlichen  Grundfehler - dem Zwiespalt in der Idee der Vernunft selbst. Da bedeutet Voll-endung Klärung und Berichtigung.
JE 
 





Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

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