Rainer Sturm / pixelio.de aus Philosophierungen
Anders als die Gesetze der Geometrie ist die Annahme einer Wahrheit als konstitutivem Grund aller wahren Sätze nicht evident.
Wer sagt, er könne die Sätze des
Pythagoras nicht einsehen, der ist von Sinnen oder er will nicht. Dass
'es Wahrheit gibt', bestreiten dagegen viele, heute wie gestern. Es gebe
nur Wahrheiten, nicht als eine Ganzheit, sondern ein
möglicherweise endloses Neben- und Miteinander einzelner wahrer Sätze.
Das mag man so einsichtig finden wie das Gegenteil, und der
pragmatisch-skeptizistischen Grundstimmung der realen Wissenschaften
liegt es heute sogar näher.
Dagegen kann man
einwenden, dass allen Wahrheitsatomen dann immerhin diese eine Qua-lität
gemeinsam wäre: wahr zu sein (oder richtig oder zutreffend oder wie
immer man es nennen will). Das ist aber Ergebnis einer Reflexion aus
vorab bestimmten Begriffen, und eben nicht unmittelbar einleuchtend.
Und es ist "bloß ein Gedanke", von dem keiner sagen kann, ob ihm in der Wirklichkeit etwas entspricht...
*
Nun wäre Wahrheit, ob es sie nun gibt oder nicht, keine Qualität des Wirklichen. Was ist, ist, und ist so, wie es ist. Es ist zwar richtig, dass 'es' die Qualitäten der Objekte nur 'gibt' als Antworten auf die Fragen, die Subjekte ihnen stellen. Ob sie antworten, liegt im Subjekt. Aber dass sie mit ja oder nein antworten, liegt daran, dass sie so oder so sind.
Wahrheit ist keine Eigenschaft des
Seienden. Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen, und die sind
zunächst 'bloß ein Gedanke'. Wahr ist ein Satz, der gilt. Wenn er
nur unter Bedin-gungen gilt, ist er nur bedingt wahr. Wenn er ohne
Bedingungen gilt, ist er unbedingt wahr. Und das kann man denken. Gibt
es mehrere Sätze, die unbedingt gelten, dann 'gibt es' die Qualität des
Unbedingtgeltens.
Sätze über Erscheinungen in Raum
und Zeit, vulgo in der Wirklichkeit, stehen unter den Bedingungen von
Raum und Zeit. Dass sie unbedingt gelten könnten, wäre ein Widersinn.
In den Realwissenschaften kann es die
Wahrheit nicht geben. Da reicht die Annahme einer Menge von einzelnen
Wahrheitsatomen völlig aus, und da sie in Raum und Zeit bedingt sind,
sind sie nur vorläufig. Mehr anzunehmen untergrübe die Wissenschaft.
*
Fichte betrieb nicht
Realwissenschaft, sondern Wissenschaftslehre. Dass er sie auf einem
Zirkel begründen musste, hat er den Skeptikern, die damals so in Mode
waren wie heute, freimütig eingeräumt:
"Ueber diesen Cirkel hat man nun nicht Ursache
betreten zu seyn. Verlangen, dass er geho-ben werde, heisst verlangen,dass alles menschliche Wissen nur
bedingt seyn, und dass kein Satz an sich, sondern jeder nur unter der
Bedingung gelten solle, dass derjenige, aus dem er folgt, gelte, mit
einem Worte, es heisst behaupten, dass es überhaupt keine unmittelbare,
sondern nur vermittelte Wahrheit gebe – und ohne etwas, wodurch sie
vermittelt wird."*
So muss, wer an die realen Wissenschaften mit dem Maßstab der formalen Logik heran-ginge, zugeben, dass auch sie 'vorübergehend' davon ausgehen muss, dass das, was jetzt gilt, gilt. Doch die Prämisse beruht auf einem Zirkel und gilt selber daher nur problematisch. In
den reellen, 'theoretischen' Wissenschaften ist das kein wirklicher
Mangel, denn der Wert ihrer Sätzen wird nicht an der Wahrheit gemessen,
sondern daran, ob sie sich - technolo-gisch oder forschungspraktisch - bewähren. Solange
sie das tun, schadet es nichts, sie so anzusehen, als ob sie wahr wären
- denn daran liegt nichts. Ob es "etwas gibt, wodurch sie vermittelt
werden", muss sie nicht kümmern; Realwissenschaft ist nur vorläufig.
*
Ob es 'Geltung überhaupt' gibt, die
nicht durch (wechselnde) Umstände von Raum und Zeit bedingt ist, wird
zu einer Frage überhaupt nur für einen, dem es darum geht, sein Leben zu führen.
Darf, kann, muss er das nach Lust und Laune tun, oder gibt es etwas,
woran er sich halten soll? - Die Frage nach der Wahrheit ist ein praktisches Problem; von Evidenz ist keine Spur.
*) J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 62
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen