Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Hans J. Markowitsch
Veröffentlicht: 02.08.2018
Was bedeutet eigentlich „Gedächtnis“? Die Erinnerung an das erste Date? An das letzte Mal, dass man einen guten Freund gesehen hat? Den Geruch beim ersten Ausflug ans Meer? – Die meisten Menschen haben solche Eindrücke vor Augen, wenn sie das Wort Gedächtnis hören. Aber tatsächlich hat der Mensch mehrere Arten von Gedächtnis, die ganz verschiedene Aufgaben erfüllen.
Unsere persönlichen Erinnerungen an einzelne Ereignisse und Erlebnisse nennen Forscher das episodische oder autobiographische Gedächtnis. Hier ist der Film des Lebens abgespei-chert, mit uns als Hauptdarsteller: Unsere peinlichsten Patzer, unsere glücklichsten Momen-te, Familienfeste, Schulabschluss, Hochzeitstag, Beerdigungen und alles dazwischen. Diese Erinnerungen haben einen klaren räumlichen und zeitlichen Bezug, wir können sie mehr oder weniger genau in eine Zeitleiste einfügen.
Das ist beim semantischen Gedächtnis anders. Es umfasst das gesamte Faktenwissen, das ein Mensch im Laufe seines Lebens anhäuft, also sein Allgemeinwissen. Die meisten Men-schen wissen, dass die Hauptstadt von Frankreich Paris ist. In der Regel erinnern sie sich aber nicht daran, wann, wo und von wem sie diese Tatsache das erste Mal gehört haben. Häufig handelt es sich auch gar nicht um ein einziges Lernereignis. Wer im Französisch-Unterricht Vokabeln oder im Erdkunde-Unterricht Hauptstädte auswendig lernen musste, hat die mitunter bittere Erfahrung gemacht, dass meist mehr als ein Anlauf nötig ist, um ein Wort, eine Hauptstadt oder einen anderen Fakt abzuspeichern.
Dagegen ist, was im episodischen Gedächtnis abgespeichert wird, ein Erlebnis, das an einem bestimmten Ort stattgefunden hat. Der kanadische Psychologe Endel Tulving hat den Unterschied auf folgende Formel gebracht: Das episodische Gedächtnis seien Infor-mationen, an die wir uns „erinnern“, das semantische Gedächtnis speichere Informationen, die wir „wissen“.
In einzelnen Fällen zeigen Menschen mit einem beschädigten Hippocampus aber ein weit-gehend unbeeinträchtigtes semantisches Gedächtnis, obwohl ihr episodisches Gedächtnis überhaupt nicht mehr funktioniert. So kannte selbst Henry Molaison, der wohl bekannteste Amnesie-Patient der Welt, die Namen einiger Persönlichkeiten, die erst berühmt wurden, nachdem sein Hippocampus in einer Operation entfernt worden war. Wie genau er diese Informationen abspeichern konnte, ist bis heute nicht geklärt (siehe: Der Mann ohne Ge-dächtnis).
Langfristig abgelegt werden beide Arten von Informationen nach derzeitigem Kenntnis-stand in der Hirnrinde, dem Cortex. Daran sind vor allem die Frontallappen und die Tem-porallappen beteiligt. Für die Speicherung neuer episodischer Informationen ist jedoch der Hippocampus von entscheidender Bedeutung. So verlieren Menschen mit einer Schädigung des Hippocampus die Fähigkeit, neue autobiographische Gedächtnisinhalte in bleibende Er-innerungen zu überführen: Sie leiden unter einer Amnesie (siehe: Die Anatomie des Verges-sens).
Episodisches und semantisches Gedächtnis haben eine weitere wichtige Gemeinsamkeit: In beiden Fällen ist uns bewusst, dass wir etwas wissen. Ob es um die eigene Hochzeit, die Amtszeit von Bundespräsident Walter Scheel oder den Weg zur nächsten Bäckerei geht: Menschen wissen, ob sie sich an etwas erinnern. Und sie können es auf ganz unterschied-liche Weisen mitteilen: Den Weg zum Bäcker etwa kann man erklären, aufschreiben, aufma-len, obwohl man all dies möglicherweise noch nie gemacht hat. Darum werden das episodi-sche und das semantische Gedächtnis zusammen häufig als explizites oder deklaratives Ge-dächtnis bezeichnet.
Dem gegenüber stehen andere Gedächtnisarten, die zusammen als implizites oder nicht-deklaratives Gedächtnis bezeichnet werden. Das wichtigste Beispiel hierfür ist das prozedu-rale Gedächtnis oder Fertigkeitsgedächtnis. So bezeichnen Wissenschaftler den Teil des Ge-dächtnisses, der Fähigkeiten, Gewohnheiten und Verhaltensweisen speichert. Also körperli-che oder geistige Abläufe wie etwa das Fahrradfahren, das Zähneputzen oder schlicht, auf-recht auf zwei Beinen zu laufen. Doch auch erlernte Ängste oder der aufkommende Appetit beim Geruch eines guten Essens sind „Produkte“ des nicht-deklarativen Gedächtnisses.
Nicht-deklarative Gedächtnisinhalte wirken sich zwar ständig auf unser Erleben und Ver-halten aus, ins Bewusstsein treten sie dabei aber meist nicht. Deshalb ist es anders als beim deklarativen Wissen schwierig, sie anderen mitzuteilen: Obwohl die meisten Menschen ihre Schuhe binden können, ohne sich mental damit beschäftigen zu müssen, sind sie selbst durch Nachdenken kaum in der Lage, einem anderen den Vorgang zu erklären, ohne es vorzumachen. Dasselbe gilt für das Fahrradfahren oder Klavierspielen. Dennoch bewältigen wir einen Großteil unseres Alltags nur mit Hilfe dieser ungezählten automatisierten Hand-griffe.
Interessanterweise werden die Erinnerungen des nicht-deklarativen Gedächtnisses offenbar anders abgespeichert als die episodischen oder semantischen Inhalte des deklarativen Ge-dächtnisses. Denn selbst wenn das deklarative Gedächtnis weitgehend gestört ist, können Menschen noch neue Fertigkeiten lernen. So gab die Psychologin Brenda Milner in einem berühmt gewordenen Experiment ihrem Patienten Henry Molaison eine Geschicklichkeits-aufgabe. Obwohl der sich bei den wiederholten Versuchen niemals daran erinnern konnte, diese Aufgabe schon einmal geübt zu haben, wurde er von Mal zu Mal besser. Einmal sagte Molaison sogar erstaunt, er habe sich die Aufgabe schwerer vorgestellt, was deutlich macht, dass der Hippocampus für das Fertigkeitsgedächtnis nicht das entscheidende Hirnareal sein kann.
Forscher glauben heute, dass neben der Hirnrinde vor allem das Kleinhirn und die Basal-ganglien eine wichtige Rolle bei nicht-deklarativen Erinnerungen spielen. Das zu den Ba-salganglien gehörende Putamen speichert demnach wohl erlernte Fähigkeiten wie Radfah-ren ab, ein anderer Teil – der Nucleus caudatus – instinktive Handlungen wie Zähneputzen oder Körperpflege. Die Bewegungssteuerung für diese Abläufe koordiniert das Kleinhirn.
Nota. - Das nicht-deklarative bzw. prozedurale Gedächtnis ist nicht im landläufigen Sinn "bewusst"; wir wissen zwar davon, aber nicht so, dass wir darauf reflektieren können. Folg-lich können wir es nicht in Begriffe fassen und keinem andern mitteilen.
Das deklarative Gedächtnis wird in einen episodischen bzw. autobiographischen und einen semantischen Teil unterschieden. Deklarativ heißen sie beide, weil wir sie in Sprache fassen können. Das ist beim episodischen Teil nicht immer einfach, und oft müssen wir nach den treffenden Worten erst suchen. Beim semantischen Teil ist das anders. Warum? Weil es sel-ber sprachlich verfasst ist: Es besteht aus Worten. Das episodische Gedächtnis besteht da-gegen in Bildern.
Das eine liegt in der Zeit, das andere außerhalb; dieses ist analog , jenes ist digital gespei-chert. Sie sind von einander unabhängig, das eine beruht nicht auf dem andern; doch kön-nen gelegentlich Informationen aus einem ins andere übergehen.
JE
siehe:
- Witz ist der Finder.
- Witz und Gedächtnis.
- Vorzug des Unerwarteten.
- Man behält nur Bedeutungen.
- Gedächtnis…
- Gedächtnis ist Synchronisierung.
- Gedächtnis im Stress.
- Wenn das Gehirn schläft.
- Vergessen und wiederfinden, oder Das Gedächtnis ist nicht bloß ein Register.
- Erinnerungen kämpfen ums Dasein.
- Erinnern und vergessen: Das Gedächtnis arbeitet.
- Dein Gedächtnis kann selber denken.
- Neues von Bewusstsein und Gedächtnis.
- Das Gedächtnis im Bewusstsein.
- Vom Sprechen und dem Vergessen.
- Der mich durch mein Gedächtnis führt.
- Ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Bewusstsein.
- Extempore zur Zeit.
- Erinnern
- Das Gedächtnis speichert auch, was nicht gemerkt wurde.
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