aus nzz.ch, 30. 11. 2021 Detail
vom Tor des ehemaligen Palastes des König Glélé. Es zählt zu den 26
Artefakten, die vom Pariser Musée du quai Branly - Jacques Chirac gerade
an Benin zurückgegeben worden sind. zu Geschmackssachen
Raubgut muss zurückgegeben werden. Aber ist es richtig, die Konfiskation der Benin-Bronzen als Kunstraub zu bezeichnen?
Was der Begriff der Raubkunst verschleiert: Viele Objekte gelangten ohne Gewaltandrohung in westliche Museen und Sammlungen
von Richard Schröder
Es ist allgemein üblich geworden, die afrikanischen Kulturgüter, die in kolonialen Kontexten in den Westen gelangt sind, als Raubkunst zu bezeichnen. Aber in diesem Zusammenhang sind beide Bestandteile des Wortes, Raub und Kunst, sehr erläuterungsbedürftig. Bei Raubkunst steht wohl die Konfiskation der Benin-Bronzen vor Augen, in der simplifizierten Form: Die Briten haben das friedliche Benin überfallen und seine Schätze geraubt.
Benin gilt weithin als typisch: So sah Kolonialismus aus. In Wahrheit war der Fall Benin für den europäischen Erwerb afrikanischer Kulturgüter untypisch. Nur in wenigen Fällen haben Kolonialtruppen in Afrika Kulturgüter requiriert, nämlich bei (sehr kritikwürdigen) «Strafexpeditionen». Die Kolonialverwaltungen hatten kaum Interesse am Erwerb von Kulturgut, weil das Unruhe schaffen konnte, die das koloniale Geschäft störte.
Es waren vor allem Forschungsreisende, Abgesandte von Museen, Missionare und Sammler, die erworben hatten, was in westliche Museen und Privatsammlungen gelangte, und zwar ohne Gewaltandrohung.
Raub: rechtswidrige Aneignung
Der Ausdruck Raubkunst wurde ursprünglich für Kulturgüter verwendet, die während des Nationalsozialismus geraubt beziehungsweise «NS-verfolgungsbedingt entzogen» wurden. Dieser Raub war nicht kriegsbedingt, sondern Gewaltanwendung des NS-Staates gegen Gruppen seiner Bürger, vorrangig Juden.
Durch die Anwendung des Wortes Raubkunst auf afrikanische Kulturgüter, die in «kolonialen Kontexten» in den Westen gelangten, werden extrem verschiedene Fallkonstellationen in einen Topf geworfen. Zudem wird der Unterschied zwischen Raub und Beute eingeebnet.
Raub ist die rechtswidrige Aneignung einer fremden Sache unter Anwendung von Gewalt gegen eine Person unter Friedensbedingungen. Das ist in jeder Rechtsgemeinschaft ein Verbrechen. Wer Raubgut wissentlich verkauft oder kauft, macht sich als Hehler strafbar. Raubgut muss entschädigungslos zurückgegeben werden, mit Schimpf und Schande sozusagen. Dank darf nicht erwartet werden.
Kriegsbeute und Reparationen
Kriegsbeute zu nehmen, war dagegen jahrtausendelang das unbestrittene Recht des Siegers. Er war auch berechtigt, sie zu verkaufen. Käufer machten sich nicht strafbar. Zwar galt es bereits als anrüchig, dass Napoleon in besiegten Ländern massenhaft Kunstwerke als Kriegsbeute requirierte. Aber erst mit der Haager Landkriegsordnung wurden 1899, also zwei Jahre nach der britischen Eroberung Benins, «die Zerstörung oder Wegnahme feindlichen Eigentums» (Art. 23 g) und die Plünderung (Art. 28, Art. 47) untersagt. Ersetzt wurde das Institut der Kriegsbeute durch das der Reparationen, die in Friedensverträgen festgelegt wurden.
Man muss also Beute, die vor 1899 gemacht wurde, nicht zurückerstatten, aber man darf. Solche Rückgabe ist nicht zwingend und nicht erzwingbar, sondern eine Geste des Wohlwollens, die ihrerseits mit Wohlwollen sollte rechnen dürfen und nicht mit dem Vorwurf: «Ihr seid Diebe, Räuber, Hehler!» Man kann nicht gleichzeitig solche Vorwürfe erheben und mit Wohlwollen rechnen. Da muss man sich für die eine oder andere Strategie entscheiden.
Die Könige von Benin
Kriegsbeute zu nehmen und zu verkaufen, sahen die Könige von Benin als ihr selbstverständliches Recht an. Nach seiner Wahl wurde vom König erwartet, dass er sein Amtscharisma durch einen erfolgreichen Kriegszug beweist, den Kopf des Überfallenen und reichlich Gefangene zur Versklavung und Opferung heimbringt.
Versklavungskriege kannten keinerlei Restriktionen der Kriegsführung, wie sie sich aus der mittelalterlichen Lehre vom gerechten Krieg (causa justa, intentio recta) herausgebildet und zum Kriegsvölkerrecht geführt haben. Sie waren totale Kriege, Vernichtungskriege. Der gottgleiche Oba hat allerdings nie damit gerechnet, dass ihm widerfahren könnte, was er fortwährend anderen widerfahren liess: besiegt zu werden.
Religiöse Bedeutung verloren
Wenn die Konfiskation der Benin-Bronzen als Kunstraub bezeichnet wird, entsteht der Eindruck, hier seien Schätze gesucht und geraubt worden. Manche behaupten gar, allein deshalb hätten die Briten Benin erobert. Dies lässt sich widerlegen.
Geldwert erlangt ein Gegenstand, wenn er auf einem Markt nach Angebot und Nachfrage bewertet wird. Die Beniner Bronzegiesser gehörten zum Königshof und haben ausschliesslich für ihn gearbeitet. Bis 1897 waren ihre Produkte unverkäuflich. Soweit sie auf Ahnenaltären standen, hatten sie einen religiösen Wert, der sich in Geld so wenig ausdrücken lässt wie der Wert des Kölner Doms für die Domgemeinde. Sie waren dem Alltag enthoben und sozusagen geheiligt, weil sie Zugang zur Welt der Ahnen eröffneten.
Für die schlichten Einwohner Benins übrigens waren sie damals unzugänglich. Diese ihre Bedeutung ist unwiederbringlich dahin – nicht nur, weil die Ahnenbronzen aus ihrem kultischen Zusammenhang gerissen, also entweiht wurden, sondern auch, weil das Volk der Edo zum Christentum übergegangen ist. Das erklärt auch, warum Afrikaner oft einst religiös bedeutende Objekte ungezwungen zum Verkauf angeboten haben. Nach ihrem Religionswechsel hatten sie ihre bisherige religiöse Bedeutung verloren.
Von den britischen Eroberern wollten einige das «scheussliche Teufelszeug» (so Generalkonsul Ralph Moore) einfach in Benin liegen lassen. Das war wohl wörtlich gemeint. Denn die christlichen Europäer sahen in den altafrikanischen Kulten «Götzendienst». Die entsprechenden Kultgegenstände konnten dann als dämonisch kontaminiert gelten. Admiral Harry Rawson dagegen war der Auffassung, dass sie einen historischen Wert haben und das Britische Museum sich für sie interessieren könnte. Er unterstellte den Bronzen also einen musealen Wert.
Curiosa
Man nannte solche historisch oder völkerkundlich interessanten Gegenstände damals Curiosa, die in herrschaftlichen Kuriositäten- und Wunderkammern gesammelt wurden. Aus ihnen gingen im 19. Jahrhundert die Museen hervor, auch in Berlin. Das Britische Museum zeigte aber zunächst kein Interesse und erwarb bei der ersten Benin-Auktion lediglich einen verzierten Elfenbeinzahn. Einen echten Markt übrigens gab es für Curiosa nie. Sie wurden zunächst Herrschern, dann Museen geschenkt oder zum Selbstkostenpreis überlassen, um sich als Stifter einen Namen oder Orden zu verdienen. Reich werden konnte man mit den Curiosa nie, was durch den Ausdruck «Raubkunst» verdunkelt wird.
Ende 1897 fanden in London die ersten Auktionen der Beniner Kriegsbeute statt. Dabei wurden auch Kunstsammler auf die Bronzen aufmerksam. Ein grosses Staunen ging durch die Kunstszene. So etwas hatte man noch nie gesehen – und das aus Westafrika! Erstmals sah man schwarzafrikanische Kunst. Der Expressionismus formierte sich gerade. Diese Künstler empfanden eine geistige Verwandtschaft zu jenen anonymen Bronzegiessern – und fühlten sich ihnen wohl näher, als sie ihnen tatsächlich waren. Sammler und Museen wetteiferten und trieben die Preise hoch. Heute werden für begehrte Benin-Bronzen mehrere Millionen Euro bezahlt.
Also: Erst der europäische Kunstmarkt hat die Benin-Bronzen in einem interkulturellen Zusammenspiel zu Kunstwerken geadelt und ihnen auf dem Kunstmarkt einen erheblichen Geldwert verschafft.
Was ist Kunst?
Aber auch der Begriff «Kunst» hat in Anwendung auf jene afrikanischen Kulturgüter «aus kolonialen Kontexten» seine Tücken. Wir müssen hier die Frage «Was ist Kunst?» nicht beantworten. Es genügt eine Beschreibung dessen, was der westliche Laie ungefähr unter Kunstwerken versteht. Sie sind jeweils etwas Einmaliges. Kopien sind gegenüber dem Original minderwertig. Kunstwerke sind zweckfrei und stehen für sich (L’art pour l’art). Sie sind einem Künstler, ihrem «Schöpfer», zugeordnet, dessen Stil und Weltsicht sie ausdrücken («Ein typischer van Gogh!»). Sie werden vor Verfall geschützt und restauriert, unabhängig von ihrem Alter.
Dieses Kunstverständnis hat sich in Europa seit der Renaissance herausgebildet. Dem Mittelalter war es fremd. Es wird heute wohl auch von zeitgenössischen afrikanischen Künstlern zumeist geteilt werden.
Von den afrikanischen Kulturgütern in unseren ethnologischen Museen lassen sich noch am ehesten die Benin-Bronzen unserem Kunstverständnis einverleiben: Sie bestehen aus dauerhaftem Material und sind schon deshalb jeweils einzigartig. Von L’art pour l’art kann jedoch nicht die Rede sein. Sie sind allerdings auch in Afrika etwas Besonderes, weil sie einer königlichen Hofkunst zugehören, wie sie sich nur in den Sklavenhändler-Reichen, also in der Zone der Kommunikation mit Europa, entwickelt hat.
Dem Verfall ausgesetzt
Die Objekte, die üblicherweise als afrikanische Kunst bezeichnet werden, wie Ahnenskulpturen, Zauberfiguren oder Masken aus den Dörfern, bestehen aus pflanzlichem Material. Sie sind dem Verfall ausgesetzt und müssen deshalb periodisch ersetzt werden, nicht durch eine Kopie, sondern durch einen Nachfolger. Wie die Formen wird auch die Fertigungstechnik getreu überliefert, steht also jederzeit zur Verfügung. Dabei ist (handwerkliche) Meisterschaft gefragt (und macht Unterschiede), nicht aber Originalität. Diese Praxis der wiederholten Fertigung hat befördert, dass Unmengen von Kopien und Fälschungen im Umlauf sind, die geübte Afrikaner eigens für die westliche Nachfrage fertigen.
All diese Objekte waren ursprünglich eingebunden in rituelle und kultische Handlungen, innerhalb deren sie als Kraftträger oder Repräsentanten von Ahnen und Geistern erlebt wurden. Wenn sie aus diesem Gebrauch ausschieden, wurden sie als wertlos erachtet.
Westliche Sammler, die in diesen Objekten etwas ganz anderes sahen, nämlich Repräsentanten ihrer Schöpfer und Ausdruck ihrer Kultur, fanden das Begehrte deshalb manchmal in der Müllecke des Dorfes – bis die Einheimischen die seltsame Gier der Weissen nach dergleichen entdeckten und für sich nutzten. Weil der kultische Gebrauch jenen Objekten ihre Bedeutung verlieh, war den vorkolonialen Afrikanern auch die Idee des Museums zum dauerhaften Erhalt solcher Objekte völlig fremd.
Das erklärt das Scheitern einiger Museen, welche die Kolonialmächte noch vor der Entlassung in die Unabhängigkeit eingerichtet hatten. «Nach der Unabhängigkeit Nigerias bemühte sich England weiterhin um freundschaftliche Beziehungen und restituierte eine Anzahl von Objekten aus dem Benin-Krieg. Doch ein Teil der Objekte tauchte auf dem europäischen Kunstmarkt prompt wieder auf» (K.-F. Schädler). Natürlich können auch Afrikaner aus solchen trüben Erfahrungen lernen und es nun besser machen.
Richard Schröder, Philosoph und evangelischer Theologe, ist emeritierter Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war in der letzten, frei gewählten DDR-Volkskammer Fraktionsvorsitzender der SPD, von 2003 bis 2018 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Nationalstiftung und ist Vorsitzender des Fördervereins Berliner Schloss.