Dienstag, 30. November 2021

Absichtsvoll erkennen, absichtslos betrachten.

de Jonghe, Le repos du laboureur        zu Geschmackssachen; aus Philosophierungen

Ästhetische Betrachtung ist Anschauung gegebener Verhältnisse. Sie geschieht ohne andere Absicht als eben die: Verhältnisse anzuschauen.

Ob sie eine natürliche (primäre) oder eine künstliche (sekundäre) ist, hängt davon ab, ob 'der Mensch' als ursprünglich absichtsvoll oder als ursprünglich betrachtend aufgefasst wird. Das ist so simpel nicht, wie es scheint. Denn der ursprüngliche Mensch lebte mit seiner Um-welt im Einklang, mit ihr hatte er natürlichen Stoffwechsel, aber darüber hinaus gehende Zwecke setzte er sich nicht. Die semantische Falle: In diesem Zustand war er ursprünglich, aber noch kein Mensch. Die Hominisation war der Prozess, in dem der Mensch seinen ur- sprünglichen Naturzustand verließ und sich in der Fremde Zwecke setzen musste.

Viel weiter als das sich Darbietende abzuweiden, reichten seine frühesten Zwecke aber nicht. Noch heute verbringen die wenigen überlebenden und in unwirtliche Gegenden ab-gedrängten Jäger-und-Sammler-Völker weniger Zeit mit dem Nahrungserwerb als ein Bür-ger der Industriegesellschaft. Ihr Leben ist noch keineswegs von morgens bis abends "ver-zweckt", Muße haben sie reichlich. Hätten unsere Vorfahren nicht durch verwundertes Be-trachten der Erscheinungen ihren Gesichtskreis erweitert, hätten wir nie Gelegenheit be-kommen, uns über Erkennen und Anschauen Gedanken zu machen.

Doch die Erfindung der Arbeit wurde zu einem Flaschenhals. Die Zeit wurde knapp, der Horizont wurde eng. Das müßige Betrachten wurde zum Privileg der Herrschenden, und weil sie, wenn sie nicht Krieg führten, nichts besseres zu tun hatten, konnten sie es kulti-vieren.

Da sind wir nun. Zweckhaftes Erkennen und uninteressiertes Anschauen haben sich ge-trennt und unabhängig von einander fortentwickelt. Auf der einen Seite die Industrie, auf der andern die Kunst. Aber im wirklichen Leben nehmen sie keineswegs denselben Rang ein. Der Mensch in der Arbeitsgesellschaft ist in erster Linie absichtsvoll, Betrachten ist ein Luxus, den er sich allenfalls nach getaner Arbeit leisten kann. Oder weil er den herrschen-den Klassen angehört und andere für sich arbeiten lässt. Das Ästhetische ist eine Sache der Reichen.

Mit der Industrie hat jeder zu tun, wenn nicht produktiv, dann wenigstens als Konsument. Aber die Kunst ist eine Sache von wenigen für wenige. Das konnte sie nur bleiben, solange ästhetische Betrachtung ein Privileg war, weil die große Masse weder Zeit noch Geld dafür hatte. Heute hat die Masse Zeit und Geld; nicht viel, aber sie ist es eben eine Masse. Die Kulturindustrie will Geld verdienen und nicht die Menschheit missionieren, ästhetische Maßstäbe vertritt sie selbst nicht. Aber Künstler müssen auch Geld verdienen. Je mehr von ihnen konkurrieren, umso vielfältiger die Qualitäten und umso mehr Chancen für jede. Es kann eigentlich nicht ausbleiben, dass sich der Geschmack der großen Masse in dem wach-senden Maße, wie er sich nun betätigen kann, differenziert und individualisiert. Auf die Dauer muss eine Anschatzung, muss ein Wachstum stattfinden.

Zugleich dringen ästhetische Gesichtspunkte immer tiefer in die industrielle Produktion. Was immer hergestellt wird - irgendeine Form, irgendeine Farbe muss es haben. Ob es Auswirkungen auf ihren Gebrauchswert hat, können nur die entscheiden, die ihren Tausch-wert auslegen sollen. Ihre Bedürfnisse sind nichts anderes, als die Ansprüche, die sie stel-len. 

*

Am Anfang war das Vermögen des Menschen eins. Die frühesten Wildbeuter werden ihre Zeit zwischen absichtsvollem Jagen und absichtsvollem Sammeln und absichtsloser Betrach-tung ganz zufällig geteilt haben, wie sich's eben ergab. Am ehesten bietet sich noch das Sammeln zu Planung und Regulierung an: Der Ackerbau ist aus dem Sammeln entstanden. Von hier aus griff der Gesichtspunkt der Nützlichkeit auf immer mehr Bereiche der - im selben Maße vergesellschafteten - menschlichen Tätigkeit über, die ganze Welt wurde zu einem Horizont von Absichten. Nur an der obersten wohlhabendsten Spitze fand die ab-sichtslose Betrachtung eine Zuflucht; wo sie sich freilich auch zu gebildetem Feinsinn spe-zialisierte: Die Kunst wurde - neben dem ebenfalls privilegierten Wissen - zu einer gesell-schaftlichen Instanz.

Und so weiter, siehe oben. Je mehr Geschmack und Nutzen ineinander verschwimmen, umso geringer wird der Unterschied zwischen Kunst und Industrie (und übrigens zwischen Spiel und Arbeit). Es wird noch lange dauern, bis er in der Wirklichkeit schwindet. Doch die Begriffe werden's nicht hindern. 

24. 6. 18
 
 
 

Wir können die Hauptsynthesis aber nicht fassen, sondern nur als Aufgabe denken.

                               zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

(Es gibt hier einen Widerstreit des Ausdrucks und der notwendigen Ansicht, und von der anderen Seite der Sache, die wir denken wollen; nämlich bei aller Bemühung können wir die Untersuchung über die Hauptsynthesis niemals erschöpfen; wir können sonach nimmer-mehr das Bestimmte und Bestimmende als eins anschauen, weil beides in der Synthesis aus-einander liegt. Dieses Bestimmen und Bestimmtsein ist in der Hauptsynthesis eins, diese können wir aber nicht fassen.

Die Philosophie hebt notwendig an mit einem Unbegreiflichen, mit der ursprünglichen Syn-thesis der Einbildungskraft, ebenso mit einem Unanschaubaren, mit der ursprünglichen Synthesis des Denkens, Dieser Akt ist nicht zu denken noch anzuschauen. Es [sic] lässt sich auch also noch bloß die Aufgabe aufstellen, alles Übrige ist erreichbar, da es in der Erfah-rung vollzogen wird.)

Kurz, ich denke reell, wenn ich mich gezwungen fühle. Dies kommt daher, weil ich mich bestimmte. Denke ich dieses Bestimmte, so denke ich idealiter, mit letzterem ist kein Gefühl verbunden wie mit dem ersten. -
_______________________________________________________________________ J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 217 


Nota I. - Fassen, nämlich entweder denken oder anschauen, lässt sich die Synthesis nicht, denn sie ist ja nur als das Übergehen vom einen zum andern; würde es gefasst, könnte es nicht länger übergehen.

Die Hauptsynthesis ist in allgemeinster Form: Ich bestimme Mich. Würde das je gelingen, wäre mit allem Bestimmen Schluss. Bestimmen meiner - und von irgendetwas anderem - als... ist nur möglich, solange ich mich von mir unterscheide. Wenn ich mich zu Ende be-stimmt habe und mit mir eins bin, bin ich tot.
14. 4. 17
 

Nota II. -  Allgemeiner ausgedrückt: 'Gefasst', nämlich als geschehen gemeint werden könnte die Hauptsynthesis nur als ein Absolutes, als das Absolute. Als eine Idee. Auch die ist nur als eine Aufgabe. Real, nämlich anschaubar, wird sie nur als das Suchen nach ihr.

JE


 




Nota - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE

Wurden die Benin-Bronzen geraubt?

aus nzz.ch, 30. 11. 2021                      Detail vom Tor des ehemaligen Palastes des König Glélé. Es zählt zu den 26 Artefakten, die vom Pariser Musée du quai Branly - Jacques Chirac gerade an Benin zurückgegeben worden sind.                                 zu Geschmackssachen

Raubgut muss zurückgegeben werden. Aber ist es richtig, die Konfiskation der Benin-Bronzen als Kunstraub zu bezeichnen?

Was der Begriff der Raubkunst verschleiert: Viele Objekte gelangten ohne Gewaltandrohung in westliche Museen und Sammlungen

von Richard Schröder

Es ist allgemein üblich geworden, die afrikanischen Kulturgüter, die in kolonialen Kontexten in den Westen gelangt sind, als Raubkunst zu bezeichnen. Aber in diesem Zusammenhang sind beide Bestandteile des Wortes, Raub und Kunst, sehr erläuterungsbedürftig. Bei Raubkunst steht wohl die Konfiskation der Benin-Bronzen vor Augen, in der simplifizierten Form: Die Briten haben das friedliche Benin überfallen und seine Schätze geraubt.

Benin gilt weithin als typisch: So sah Kolonialismus aus. In Wahrheit war der Fall Benin für den europäischen Erwerb afrikanischer Kulturgüter untypisch. Nur in wenigen Fällen haben Kolonialtruppen in Afrika Kulturgüter requiriert, nämlich bei (sehr kritikwürdigen) «Strafexpeditionen». Die Kolonialverwaltungen hatten kaum Interesse am Erwerb von Kulturgut, weil das Unruhe schaffen konnte, die das koloniale Geschäft störte.

Es waren vor allem Forschungsreisende, Abgesandte von Museen, Missionare und Sammler, die erworben hatten, was in westliche Museen und Privatsammlungen gelangte, und zwar ohne Gewaltandrohung.

Raub: rechtswidrige Aneignung

Der Ausdruck Raubkunst wurde ursprünglich für Kulturgüter verwendet, die während des Nationalsozialismus geraubt beziehungsweise «NS-verfolgungsbedingt entzogen» wurden. Dieser Raub war nicht kriegsbedingt, sondern Gewaltanwendung des NS-Staates gegen Gruppen seiner Bürger, vorrangig Juden.

Durch die Anwendung des Wortes Raubkunst auf afrikanische Kulturgüter, die in «kolonialen Kontexten» in den Westen gelangten, werden extrem verschiedene Fallkonstellationen in einen Topf geworfen. Zudem wird der Unterschied zwischen Raub und Beute eingeebnet.

Raub ist die rechtswidrige Aneignung einer fremden Sache unter Anwendung von Gewalt gegen eine Person unter Friedensbedingungen. Das ist in jeder Rechtsgemeinschaft ein Verbrechen. Wer Raubgut wissentlich verkauft oder kauft, macht sich als Hehler strafbar. Raubgut muss entschädigungslos zurückgegeben werden, mit Schimpf und Schande sozusagen. Dank darf nicht erwartet werden.

Kriegsbeute und Reparationen

Kriegsbeute zu nehmen, war dagegen jahrtausendelang das unbestrittene Recht des Siegers. Er war auch berechtigt, sie zu verkaufen. Käufer machten sich nicht strafbar. Zwar galt es bereits als anrüchig, dass Napoleon in besiegten Ländern massenhaft Kunstwerke als Kriegsbeute requirierte. Aber erst mit der Haager Landkriegsordnung wurden 1899, also zwei Jahre nach der britischen Eroberung Benins, «die Zerstörung oder Wegnahme feindlichen Eigentums» (Art. 23 g) und die Plünderung (Art. 28, Art. 47) untersagt. Ersetzt wurde das Institut der Kriegsbeute durch das der Reparationen, die in Friedensverträgen festgelegt wurden.

Man muss also Beute, die vor 1899 gemacht wurde, nicht zurückerstatten, aber man darf. Solche Rückgabe ist nicht zwingend und nicht erzwingbar, sondern eine Geste des Wohlwollens, die ihrerseits mit Wohlwollen sollte rechnen dürfen und nicht mit dem Vorwurf: «Ihr seid Diebe, Räuber, Hehler!» Man kann nicht gleichzeitig solche Vorwürfe erheben und mit Wohlwollen rechnen. Da muss man sich für die eine oder andere Strategie entscheiden. 

Die Könige von Benin

Kriegsbeute zu nehmen und zu verkaufen, sahen die Könige von Benin als ihr selbstverständliches Recht an. Nach seiner Wahl wurde vom König erwartet, dass er sein Amtscharisma durch einen erfolgreichen Kriegszug beweist, den Kopf des Überfallenen und reichlich Gefangene zur Versklavung und Opferung heimbringt.

Versklavungskriege kannten keinerlei Restriktionen der Kriegsführung, wie sie sich aus der mittelalterlichen Lehre vom gerechten Krieg (causa justa, intentio recta) herausgebildet und zum Kriegsvölkerrecht geführt haben. Sie waren totale Kriege, Vernichtungskriege. Der gottgleiche Oba hat allerdings nie damit gerechnet, dass ihm widerfahren könnte, was er fortwährend anderen widerfahren liess: besiegt zu werden.

Religiöse Bedeutung verloren

Wenn die Konfiskation der Benin-Bronzen als Kunstraub bezeichnet wird, entsteht der Eindruck, hier seien Schätze gesucht und geraubt worden. Manche behaupten gar, allein deshalb hätten die Briten Benin erobert. Dies lässt sich widerlegen.

Geldwert erlangt ein Gegenstand, wenn er auf einem Markt nach Angebot und Nachfrage bewertet wird. Die Beniner Bronzegiesser gehörten zum Königshof und haben ausschliesslich für ihn gearbeitet. Bis 1897 waren ihre Produkte unverkäuflich. Soweit sie auf Ahnenaltären standen, hatten sie einen religiösen Wert, der sich in Geld so wenig ausdrücken lässt wie der Wert des Kölner Doms für die Domgemeinde. Sie waren dem Alltag enthoben und sozusagen geheiligt, weil sie Zugang zur Welt der Ahnen eröffneten.

Für die schlichten Einwohner Benins übrigens waren sie damals unzugänglich. Diese ihre Bedeutung ist unwiederbringlich dahin – nicht nur, weil die Ahnenbronzen aus ihrem kultischen Zusammenhang gerissen, also entweiht wurden, sondern auch, weil das Volk der Edo zum Christentum übergegangen ist. Das erklärt auch, warum Afrikaner oft einst religiös bedeutende Objekte ungezwungen zum Verkauf angeboten haben. Nach ihrem Religionswechsel hatten sie ihre bisherige religiöse Bedeutung verloren.

Von den britischen Eroberern wollten einige das «scheussliche Teufelszeug» (so Generalkonsul Ralph Moore) einfach in Benin liegen lassen. Das war wohl wörtlich gemeint. Denn die christlichen Europäer sahen in den altafrikanischen Kulten «Götzendienst». Die entsprechenden Kultgegenstände konnten dann als dämonisch kontaminiert gelten. Admiral Harry Rawson dagegen war der Auffassung, dass sie einen historischen Wert haben und das Britische Museum sich für sie interessieren könnte. Er unterstellte den Bronzen also einen musealen Wert.

Curiosa

Man nannte solche historisch oder völkerkundlich interessanten Gegenstände damals Curiosa, die in herrschaftlichen Kuriositäten- und Wunderkammern gesammelt wurden. Aus ihnen gingen im 19. Jahrhundert die Museen hervor, auch in Berlin. Das Britische Museum zeigte aber zunächst kein Interesse und erwarb bei der ersten Benin-Auktion lediglich einen verzierten Elfenbeinzahn. Einen echten Markt übrigens gab es für Curiosa nie. Sie wurden zunächst Herrschern, dann Museen geschenkt oder zum Selbstkostenpreis überlassen, um sich als Stifter einen Namen oder Orden zu verdienen. Reich werden konnte man mit den Curiosa nie, was durch den Ausdruck «Raubkunst» verdunkelt wird.

Ende 1897 fanden in London die ersten Auktionen der Beniner Kriegsbeute statt. Dabei wurden auch Kunstsammler auf die Bronzen aufmerksam. Ein grosses Staunen ging durch die Kunstszene. So etwas hatte man noch nie gesehen – und das aus Westafrika! Erstmals sah man schwarzafrikanische Kunst. Der Expressionismus formierte sich gerade. Diese Künstler empfanden eine geistige Verwandtschaft zu jenen anonymen Bronzegiessern – und fühlten sich ihnen wohl näher, als sie ihnen tatsächlich waren. Sammler und Museen wetteiferten und trieben die Preise hoch. Heute werden für begehrte Benin-Bronzen mehrere Millionen Euro bezahlt.

Also: Erst der europäische Kunstmarkt hat die Benin-Bronzen in einem interkulturellen Zusammenspiel zu Kunstwerken geadelt und ihnen auf dem Kunstmarkt einen erheblichen Geldwert verschafft.

Was ist Kunst?

Aber auch der Begriff «Kunst» hat in Anwendung auf jene afrikanischen Kulturgüter «aus kolonialen Kontexten» seine Tücken. Wir müssen hier die Frage «Was ist Kunst?» nicht beantworten. Es genügt eine Beschreibung dessen, was der westliche Laie ungefähr unter Kunstwerken versteht. Sie sind jeweils etwas Einmaliges. Kopien sind gegenüber dem Original minderwertig. Kunstwerke sind zweckfrei und stehen für sich (L’art pour l’art). Sie sind einem Künstler, ihrem «Schöpfer», zugeordnet, dessen Stil und Weltsicht sie ausdrücken («Ein typischer van Gogh!»). Sie werden vor Verfall geschützt und restauriert, unabhängig von ihrem Alter.

Dieses Kunstverständnis hat sich in Europa seit der Renaissance herausgebildet. Dem Mittelalter war es fremd. Es wird heute wohl auch von zeitgenössischen afrikanischen Künstlern zumeist geteilt werden.

Von den afrikanischen Kulturgütern in unseren ethnologischen Museen lassen sich noch am ehesten die Benin-Bronzen unserem Kunstverständnis einverleiben: Sie bestehen aus dauerhaftem Material und sind schon deshalb jeweils einzigartig. Von L’art pour l’art kann jedoch nicht die Rede sein. Sie sind allerdings auch in Afrika etwas Besonderes, weil sie einer königlichen Hofkunst zugehören, wie sie sich nur in den Sklavenhändler-Reichen, also in der Zone der Kommunikation mit Europa, entwickelt hat.

Dem Verfall ausgesetzt

Die Objekte, die üblicherweise als afrikanische Kunst bezeichnet werden, wie Ahnenskulpturen, Zauberfiguren oder Masken aus den Dörfern, bestehen aus pflanzlichem Material. Sie sind dem Verfall ausgesetzt und müssen deshalb periodisch ersetzt werden, nicht durch eine Kopie, sondern durch einen Nachfolger. Wie die Formen wird auch die Fertigungstechnik getreu überliefert, steht also jederzeit zur Verfügung. Dabei ist (handwerkliche) Meisterschaft gefragt (und macht Unterschiede), nicht aber Originalität. Diese Praxis der wiederholten Fertigung hat befördert, dass Unmengen von Kopien und Fälschungen im Umlauf sind, die geübte Afrikaner eigens für die westliche Nachfrage fertigen.

All diese Objekte waren ursprünglich eingebunden in rituelle und kultische Handlungen, innerhalb deren sie als Kraftträger oder Repräsentanten von Ahnen und Geistern erlebt wurden. Wenn sie aus diesem Gebrauch ausschieden, wurden sie als wertlos erachtet.

Westliche Sammler, die in diesen Objekten etwas ganz anderes sahen, nämlich Repräsentanten ihrer Schöpfer und Ausdruck ihrer Kultur, fanden das Begehrte deshalb manchmal in der Müllecke des Dorfes – bis die Einheimischen die seltsame Gier der Weissen nach dergleichen entdeckten und für sich nutzten. Weil der kultische Gebrauch jenen Objekten ihre Bedeutung verlieh, war den vorkolonialen Afrikanern auch die Idee des Museums zum dauerhaften Erhalt solcher Objekte völlig fremd.

Das erklärt das Scheitern einiger Museen, welche die Kolonialmächte noch vor der Entlassung in die Unabhängigkeit eingerichtet hatten. «Nach der Unabhängigkeit Nigerias bemühte sich England weiterhin um freundschaftliche Beziehungen und restituierte eine Anzahl von Objekten aus dem Benin-Krieg. Doch ein Teil der Objekte tauchte auf dem europäischen Kunstmarkt prompt wieder auf» (K.-F. Schädler). Natürlich können auch Afrikaner aus solchen trüben Erfahrungen lernen und es nun besser machen.

Richard Schröder, Philosoph und evangelischer Theologe, ist emeritierter Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war in der letzten, frei gewählten DDR-Volkskammer Fraktionsvorsitzender der SPD, von 2003 bis 2018 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Nationalstiftung und ist Vorsitzender des Fördervereins Berliner Schloss.


 

Montag, 29. November 2021

Identisch und tot.

caput mortuum                                                             aus Philosophierungen
 
Die Hauptsynthesis ist in allgemeinster Formulierung: Ich bestimme Mich. Würde das je gelingen, wäre mit allem Bestimmen Schluss. Bestimmen meiner - und von irgendetwas anderem - als... ist nur möglich, solange ich mich von mir unterscheide. Wenn ich mich zu Ende bestimmt habe und mit mir eins geworden bin, bin ich tot.
14. 4. 17

Identität 'gibt es' nur als gedachte Überwindung des Zwiespalts. Ihre Realität ist nicht 'Ich bin identisch', sondern Ich identifiziere mich. Sie ist kein Zustand, sondern der Moment des Übergangs.
28. 6. 18
 
 
 

Möglichkeit ist ein Schweben des Zweckes zwischen Sein und Nichtsein.

Verlag freies Geistesleben;    zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das praktische Ich (denn dadurch erklären wir alles) erscheint im Entwerfen des Begriffs seiner Wirksamkeit frei in Absicht des Zusam-/menordnens des Mannigfaltigen; darin be-steht die Freiheit der Wahl. Ist aber der Begriff einmal entworfen und wird nach ihm gehan-delt , dann hängt die Folge nicht mehr von ihm [=dem praktischen Ich] ab, sondern es ist in Rück-sicht derselben gebunden. Die Anschauung, die ihrer Natur nach gebunden ist, wird im er-sten Falle, wenn der Begriff entworfen wird, vom Praktischen hin- und hergerissen zwi-schen Sein und Nichtsein, im Schweben zwischen Entgegengesetzten. Im zweiten Falle, wo gehandelt wird, wird das Angeschaute dadurch, dass das Praktische selbst gebunden ist, mit-gebunden; der Grund der Bestimmtheit der Intelligenz hängt ab von der Bestimmtheit des Praktischen.

Im ersten Falle heißt es der Begriff von einer bloß möglichen, im zweiten von einer wirkli-chen Handlung. Jetzt ist die Fragte, was x sei, beantwortet; x ist eine wirkliche Handlung und einer bloß möglichen entgegengesetzt.

Corollaria: 

1) Diese Begriffe sind besondere Bestimmungen der Intelligenz in Beziehung auf das in ihr notwendig hinzuzudenkende praktische Vermögen. Wird das praktische Vermögen gesetzt als selbst Begriffe erschaffend, so ist dann die Intelligenz selbst frei, und dann entsteht der Begriff des Möglichen; wird es gesetzt als wirklich handeln, so ist es in Rücksicht der Folge des Mannigfaltigen gebunden, und die Intelligenz mit ihm.

2) Alles Wirkliche und Mögliche ist wirklich und möglich lediglich in Beziehung auf die Handlung des Ich; denn wir haben es von der Anschauung des Handelns abgeleitet. Die Anschauung eines Wirklichen bedingt alle Anschauung, mithin alles Bewusstsein

Bewusstsein des Wirklichen oder Anschauung des Wirklichen heißt Erfahrung, also geht alles Denken von der Erfahrung aus und ist durch sie bedingt. Nur durch Erfahrung wer-den wir für uns selbst etwas, hinterher können wir von der Erfahrung abstrahieren.

Anschauung des Wirklichen ist nur möglich durch Anschauung eines wirklichen Handelns des Ich; also jede Erfahrung geht aus vom Handeln, es ist nur durch sie möglich [sic]. Ist kein Handeln, so ist keine Erfahrung, und ist diese nicht, so ist kein Bewusstsein.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 59f.


Nota I. - Möglichkeit 'ist' lediglich in der Vorstellung, nämlich sofern der Begriff von einem Zweck gefasst wurde; ist nicht die Latenzform von 'Sein', sondern ein Zweck, der zwar ent-worfen, aber noch nicht handelnd realisiert wurde. (Zur Erinnerung: Nach Kants Kategori-enlehre gehört Möglichkeit neben Wirklichkeit und Notwendigkeit zu den Modalitäten; sie sind a priori.)
16. 8. 16
 
 
Nota II. - Das ist nun wirklich alles, was über die Möglichkeit zu sagen ist: Sie ist kein Zu-stand (modus) von Etwas, sondern die Vorstellung von einem unerfüllten Zweck. Sie hat keine ontologische, sondern ausschließlich transzendentale Bedeutung. 
 
Dabei fällt uns sofort Kants Kategorientafel ein. Er schreibt sie mir nichts dir nichts ein-fach auf ohne zu sagen, wo er sie her hat. Fichte sagt: aus der bloßen Erfahrung aufgerafft.
 
So sieht sie aber nicht aus: 4 x drei = zwölf, das kann doch kein Zufall sein! Und tatsächlich: Solang man auch grübelt, eine Kategorie, die er vergessen hätte, will einem nicht einfallen. Es ist und bleibt verwunderlich.
 
Nun aber haben wir mit der Möglichkeit eine 'Kategorie', die überschüssig ist! Zu Notwen-digkeit und Zufall, die gemeinhin als in einer Sache-selbst gegründet aufgefasst werden, will die Mölichkeit als eine bloße Vorstellung gar nicht passen: Sie existiert nur im Subjekt. Setzt man aber, um die Drei wieder voll zu machen, das Dasein hinzu, dann... könnte es auch feh-len; dann aber bräuchten wir die Möglicheit wieder.

Man kann sich vorstellen, dass Kant von den zehn Jahren, die er an der Kritik der reinen Vernunft gesessen hat, einen nicht geringen Teil der Kategorientafel opfern musste.
JE

Sonntag, 28. November 2021

Was ist es, das der idealen Tätigkeit einen Halt gibt?

ventureneer                   zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

2) Nun fragt sich: Welches ist das Bindende, was ist es und woher?

Wir kennen die Sphäre des Bestimmbaren noch nicht anders als unter dem Prädikate eines ins Unendliche teilbaren Mannigfaltigen. Aber ein solches ist nichts, ein solches ins Unend-liche Teilbare gibt kein Anhalten, kein Bindendes, mithin keine ideale Tätigkeit und mithin auch keine Teilbarkeit ins Unendliche; mithin wider-spricht sich der Begriff von Etwas, welches weiter nichts sein soll als teilbar / ins Unendliche. Und da dieser Begriff unter den Bedingungen des Bewusstseins vorkommt, so käme unter letzterer ein Unmögliches vor.

Es müsste sonach etwas Positives, das nicht weiter teilbar wäre, angenommen werden, um die ideale Tätigkeit des praktischen Vermögens zu erklären. Dies ist aber ein Reales, das Unteilbare müsste also unteilbar sein als Realität; als Quantität müsste es wohl teilbar sein. Nun soll die ideale Tätigkeit hier so gebunden sein: nicht, dass sie als bewegliche fortge-rissen werde, sondern dass sie angehalten und fixiert werde. 

Das, was die ideale Tätigkeit fixiert, soll Stoff einer Wahl sein. Aber die Wahl kann nur mit Bewusstsein des [=von dem] Gewählten geschehen, aber es gibt kein Bewusstsein von Etwas ohne Entgegensetzung. Sonach müsste es in dieser Ansehung Zustände des Gemüts geben, die nur Einheit und Gleichheit sind, nicht aber Vielheit in eben und demselben Zustande. Es muss Grundeigenschaften geben (die nicht weiter zergliedert werden können) des Be-stimmbaren, und ein Sein des Bestimmbaren.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 64f.



Nota. - 
Die ideale Tätigkeit kann schlechthin auf nichts anderes gehen, als auf ein Han-deln=eine reale Tätigkeit, der widerstanden wird. Es ist dieser Moment der Synthese von realer Tätigkeit und Widerstand, der der idealen Tätigkeit einen Halt, einen Anhalts-Punkt gibt - und insofern einen Charakter von Sein an sich trägt, das seinerseits Tätigkeit negiert. Lassen Sie mich raten: Er wird mehr von Seiten des Widerstands herkommen, als von Sei-ten der Tätigkeit, oder?

JE , 25. 8. 16


Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Das Absolute: a quo und ad quem.

                                                                             zu Philosophierungen

Am Anfang steht die Freiheit; absolut. Ihre Tätigkeit ist übergehen vom Bestimmbaren zum Bestimmten. Das ist unendlich fortschreitende Einschränkung der Freiheit. Unendlich, weil, wenn sie irgendwann erschöpft sein könnte, sie niemals Freiheit gewesen wäre. Doch ist am Ende das Absolute so absolut wie am, d. h. vor dem Anfang. Die Bestimmungen sind im-mer quantitativ, sie ziehen Quanta vom Absoluten ab. Doch wenn es absolut war, wird es nicht weniger.

In der späteren WL will Fichte ein Absolutes, das "niemals Objekt wird"; natürlich, denn dann hörte es auf, absolut zu sein. Dann kann es aber auch nicht real werden - und schon gar nicht ex ante gewesen sein.


Das Absolute ist ein bloßes Gedankending. Als Anfang wird es aufgefunden, als Flucht-punkt wird es postuliert.

27. 4. 17




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