aus derStandard.at, 3. 11. 2021
Versuche, die absolute Schönheit mit den Anliegen einer auf die grobe Sinnenlust geeichten Kunst zu versöhnen, sind erstaunlich jungen Datums. Bis tief hinein ins 19. Jahrhundert blieb das Obszöne und Hässliche, mithin alles, was "der Lüsternheit halber gemacht" wird (Karl Rosenkranz), verpönt und von jeglicher Kunstbetrachtung ausgeschlossen.
Die Angst aller Spießbürger und Blaustrümpfe vor der Zurschaustellung nackter Tatsachen hatte gleichwohl methodische Gründe. Die "Emancipation des Fleisches" (Hegel) wurde allein schon deshalb gefürchtet, weil sie den Teilnehmern am bürgerlichen Zeitalter den Genuss an der Schönheit verhagelte, und zwar gründlich. Hatte nicht Immanuel Kant gerade erst das ästhetische Geschmacksurteil dem schlichten, "interesselosen Wohlgefallen" anheimgestellt? Überall dort, wo sich in den Künsten, zumeist unter der Anleitung von Aufklärern, der Übergang von der Ästhetik zum Leben vollzog, stand mit der Keuschheit zugleich auch die Erhabenheit auf dem Spiel.
Gewiss, die Künste waren ihrerseits klassisch geworden. Alles (vermeintlich) Unstatthafte wurde in die Bereiche der Volkskunst verdrängt. Oder die Karikaturisten in England (18. Jahrhundert) und Frankreich (19. Jahrhundert) bannten mit nervösen Federstrichen die hässlichen Begebenheiten des Alltags: mit Vorliebe festgemacht an der Bigotterie bürger-licher Heuchler, das heißt der Besitzenden. Auch besonders luxurierende Formen des Reichtums waren und sind bis in alle Ewigkeit obszönitätsfähig.
Heute, ein paar Avantgarde-Bewegungen später, scheint die Frage der Vermittlung zwischen Schönheit und obszöner Hässlichkeit nur vorgeblich mit einem Achselzucken beantwortbar. Die Versöhnung der Wollust mit dem Schönen wurde durch die Etablierung eines "Realstils", den die erotischen Künste pflegen, erfolgreich eingeleitet. Doch der Stachel sitzt tiefer. Die Idee der Abwertung der Erotik durch Abspaltung ihres schlechteren Teils, der "reinen" Wollust, schmeichelte einst der bürgerlichen Empfindsamkeit: Übrig blieb zum Beispiel für alle Leistungsdiagnostiker der Ehe der Kult der Zärtlichkeit.
Mit einer Vielzahl von Empfindlichkeiten muss jedoch gerade die zeitgenössische Kunst rechnen. Unter Hinweis auf die Ausbeutung derer, die als Bildvorlage für andere herhalten, gehen Besorgte jeder Couleur gelegentliche Zweckbündnisse ein, auch solche mit der Prüderie.
Vergessen scheint dann, dass "das Wesen der Erotik Beschmutzung" nicht nur sein kann, sondern muss (Georges Bataille). Die Freisetzung von Begehren sollte früher einmal, in der hohen Zeit der Surrealisten und anderer Triebanarchisten vor hundert Jahren, Beistand leisten für die Befreiung des Menschen: durch Erotisierung. Für uns Heutige bleibt der Pornografiegenuss hingegen eine Frage der marktwirtschaftlichen Verteilung. Das Obszöne unterliegt dem Tabu, das die Künste, weil aufgeklärt, nicht mehr zu kennen meinen. Der Kunstgenuss rechtfertigt die nackte Tatsache, indem sie durch ihn zum Lehrmittel wird. Niemand soll in der Welt der Entblößung Schaden nehmen! Vergessen scheint, dass die Entfesselung der Lüste auch Gängelung und Unterdrückung mit sich fortspült.
Nota. - Es gab tatsächlich einen Fortschritt in der Kunst des Abendlands; nämlich den: weg vom Thematischen, hin zum rein Ästhetischen; weg von der Bedeutung, hin zum bloßen Geschmack.
Solange die Kunst ungeniert die Wünsche bediente, die man an sie herantrug, konnte selbstredend auch der Sexus zu ihrem Thema werden - am passenden Ort, aber das konnte der öffentliche komos der Dionysos-Feiern sein.
Mit der Renaissance verflüchtigte sich das Thematische in eine immer theatralischere Religiosität - der man allerhand Fleischliches unterschieben konnte, solange es einer gewissen Bildung bedurfte, den Schummel zu erkennen: Dann stimulierte er doppelt, während die Ungebildeten sich mit dem Einfachen begnügten.
Und das ist das Obszöne daran: nicht das Sexuelle selbst, sondern die Infizierung des Heiligen mit dem Animalischen. Erst wenn man eine so frisierte Sexualität zum Inbegriff des Reizenden aufbauscht, kann einem einfallen, als "Wesen der Erotik" Beschmutzung anzugeben. Vorher war und nachher ist erotisch im Gegenteil die Sublimierung und eo ipso Distanzierung des Sexuellen durch Ästhetik.
Obszön ist das Gegenteil: die Freisetzung des rein Sexuellen aus seinen mehr oder minder atemberaubenden Bemäntelungen.
Das haben wir nun ein halbes Jahrhundert lang sattsam erlebt. Fast möchte man meinen, mit der um sich greifenden woken Prüderie solle ein neues "viktorianisches" Versteckspiel in Mode gebracht werden, um dem lähmend ewigen F... wieder eine feine kleine Schärfe beizumischen. Dass Prüderie selber ein Scharfmacher ist, hat Michel Foucault zwar nicht endeckt, aber immerhin bekannr gemacht.
JE
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